Heinrich Zschokke 1771-1848. Werner Ort

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Название Heinrich Zschokke 1771-1848
Автор произведения Werner Ort
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198825



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bediente sich ähnlicher Begriffsdefinitionen und Gedankenabfolgen in Paragrafenform, wie er sie von Steinbarts «Grundbegriffen zur Philosophie über den Geschmack» und Platners «Philosophischen Aphorismen» kannte. Auch sonst profitierte er viel von diesen beiden Autoren, stützte sich wie Steinbart auf die beiden Klassiker der deutschen Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten und Johann Georg Sulzer, zusätzlich auf Immanuel Kant, Karl Heinrich Heydenreich, Henry Home, Carl Christian Erhard Schmid und andere, ging aber sonst seinen eigenen, man könnte sagen, eigenwilligen Weg. Sein Ausgangspunkt war eine Anregung Kants in der zweiten Auflage seiner «Kritik der reinen Vernunft», die Ästhetik teils transzendental, teils psychologisch aufzufassen.196

      Zschokke wollte die psychologische Ästhetik zu einer eigenständigen Disziplin werden lassen, zu der er «Ideen» oder, wie er an anderer Stelle meinte, «kleine aphoristische Abhandlungen und einzelne Bemerkungen über Gegenstände der Kritik des Geschmaks» beitrug, «welche theils beim Lesen verschiedner Schriftsteller der Ästhetik, theils während meines Aufenthalts in Meklenburg, durch Betrachtung der Natur- und Kunstschönheiten, woran dieses glückliche Land so reich ist, und die dort in mir zu allererst das Gefühl des Schönen entwickelten und bildeten, theils durch meine Vorlesungen über Herrn Prof. Eberhards Theorie der schönen Wissenschaften veranlaßt wurden».197

      Er postulierte ein Grundbedürfnis aller Menschen, anderen ihre Empfindungen mitzuteilen. Empfindungen sinnlich mitzuteilen und darzustellen sei auch die Quelle der schönen Künste,198 und die «freie Mittheilung schöner Empfindungen» sei der wesentliche Zweck jedes Kunstwerks aus der Sicht des Künstlers.199 Daraus ergebe sich aber sofort die Frage, was als schön zu bezeichnen sei. Zschokke versuchte sie anthropologisch zu beantworten, dabei griff er damals noch neue Erkenntnisse über die menschliche Natur auf. In der anthropologischen Forschung hatte man begonnen, nach den physiologischen Vorgängen zu fragen, die dem Empfinden und den Aktivitäten der Menschen zugrunde lagen, und war auf Triebe, Nerven und Reize gestossen.

      Begriffe wie Kunst, Schönheit oder Vollkommenheit, wie sie von der philosophischen Ästhetik untersucht wurden, waren gemeinhin objektbezogen, ideell und kunstimmanent definiert worden. Es gab auch andere Ansätze, die das menschliche Empfinden stärker betonten, und Zschokke dachte sie konsequent weiter. Es brauche keine kunsttheoretischen Überlegungen, wenn man sich mit dem Empfindungsvermögen befasse, als die er das griechische «aisthesis» übersetzte. Etwas werde schön empfunden, weil es gefalle.200 Gefallen bedeute aber nichts anderes, als angenehme Empfindungen auslösen. Der Mensch besitze Nerven, die gereizt würden, habe Triebe, die nach Betätigung drängten. Wenn die Nerven harmonisch gereizt, die Triebe befriedigt würden, dann entstehe eine Empfindung von Wohlbehagen und Lust, andernfalls von Abneigung und Unlust.

      Jetzt müsste man nur herausfinden, welche Reize diese Empfindungen auslösten und welche Mechanismen daran beteiligt wären. Man müsste die Maschine, als welche der Mensch sich in dieser Hinsicht darbot, verstehen lernen. Zschokke war kein Mediziner; er orientierte sich bei seinen Ausführungen über die Nerven und Triebe an Platner und Karl Franz von Irwing (1741–1801), dessen «Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen»201 er sehr schätzte.

      «Die in uns wohnenden Triebe sind das, was die Gewichte der Uhr sind. Beide reizen zur Bewegung in der Thätigkeit; fehlen iene, so hört der Mensch auf zu denken und zu empfinden, fehlen diese, so hemmt das ganze Räderwerk im Lauf. – Handeln mus der Mensch; er ist gezwungen; die Triebe suchen Befriedigung – in der Rüksicht ist er ganz Maschine. Er kann auch nicht darüber disponiren, was ihm mehr oder weniger gefallen soll; durch die Verschiedenheit der Triebe, ihrer Lebhaftigkeit, Stärke oder Schwäche, als auch durch die grössre oder mindere Ausbildung der höhern Vermögen und die Organisation seiner Sinnlichkeit wird das Wolgefallen nothwendig bestimmt. Auch in der Rüksicht ist er Maschine. – Jezt kömmt es endlich noch auf die Verhältnisse an, in welchen der Mensch lebt, und wie diese Verhältnisse dem einen, oder dem andern Trieb mehr Stärke und Lebhaftigkeit geben. Diese Verhältnisse hängen aber schlechterdings, ihrem grössern Theil nach, nicht von unsrer Willkühr ab; wir können sie uns nicht geben; wir müssen jeden Eindruk von aussen aufnehmen – und sind auch in der Hinsicht Maschinen.»202

      Dies ist eine Schlüsselstelle zum Verständnis von Zschokkes Psychologie, die aber nur scheinbar materialistisch und deterministisch ist. Der Mensch kann zwar nicht frei entscheiden, wer er ist, was er empfindet und wie er sich verhält, aber er besitzt mit seinen Trieben Kräfte, die zur freien Entfaltung drängen.

      Der Mensch sei ein «wunderbares Amphibion», das in zwei Welten lebe: der Sinnlichkeit und Nichtsinnlichkeit, und zwei Naturen besitze: Vernunft und Gefühl.203 Für die Erkenntnis benötige er die theoretische Vernunft, für die Handlung die praktische Vernunft. Um eine Handlung als sittlich richtig oder falsch zu bewerten, brauche er eine moralische Natur. Das Empfinden geschehe mit seiner sinnlichen Natur. Diese Naturen, denen entsprechende Triebe zugeordnet seien,204 widerstritten sich in ihren Zielen. Die vernünftige Natur strebe Harmonie, Wahrheit, Nützlichkeit, Zweckmässigkeit an, die moralische Natur Sittlichkeit und Tugend, die sinnliche Natur aber Wohlsein, Vergnügen und Glückseligkeit.205

      Der Künstler, indem er die Empfindungen der Menschen beeinflusse, greife tief in ihr Inneres ein, und daher kämen ihm grosse Macht und Verantwortung zu.206 «Der Künstler ist ein Gewaltiger über die Herzen des Volks.» Er könne «unaussprechlichen Nutzen stiften, den kein Erdengott mit seinen Millionen und Tonnen Goldes allein zu bewirken im Stande ist, den keine Wissenschaft leistet, keine Gewalt hervorbringt, sobald er sich zur Maxime macht, wahre Schönheit, nach unsrer Angabe, darzustellen».207

      Was von Zschokke als grundsätzliche Erforschung der Ästhetik angelegt war, wurde ihm unter seinen Händen zu einer pädagogischen und moralphilosophischen Abhandlung, in deren einem Brennpunkt der «edle Künstler» stand mit seinem Bemühen, das Schöne darzustellen und vollkommene Kunstwerke zu schaffen. Nicht dass er dies erreichte, aber er sollte mindestens danach streben. Dies bezeichnete Zschokke als ästhetischen Imperativ,208 in Anspielung auf Kants kategorischen Imperativ, den er aber nicht näher ausführte.

      Der zweite Brennpunkt in dieser Ästhetik ist das Volk, auf welches die Kunst einwirkt. Es besitze ein Bedürfnis nach schönen Empfindungen, also Kunst, gleichgültig, wie roh oder verfeinert sein Kunstgeschmack sei. Es könne ein gutes und ein schlechtes Kunstwerk unterscheiden, indem das erste ihm gefalle und angenehme Empfindungen auslöse, das zweite nicht. «Das Schöne ist mit einem nothwendigen Wohlgefallen verknüpft.»209 Gefallen könne dem Menschen nur, was drei Kriterien erfülle: seine Sinne anspreche, seine Vernunft nicht beleidige und seine Sittlichkeit nicht verletze.210

      Zwar muss Zschokke einräumen, dass auch das Unvernünftige und Unsittliche gefalle, aber nur bei von ihren Affekten gesteuerten Menschen, welche die Vernunft oder die Moral ausser Kraft gesetzt hätten. Ihr Wohlbehagen gegenüber einem unsittlichen Gemälde oder Buch, das «dem Tugendhaften, dem Vernünftigen» nicht gefallen könne,211 sei von Leidenschaft getrübt.212 Auch Künstler, die so etwas schufen, ohne auf einen höheren Zweck abzuzielen, seien unfrei. «Freiheit bezieht sich auf Vernunftüberlegung, [...] auf Gehorsam gegen die Gesetze der Vernunft, in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauche.»213

      Man kann aus diesen Ausführungen nicht schliessen, Zschokke habe seine «Ideen zur psychologischen Ästhetik» als Moralapostel und Sittenwächter verfasst. Ebenso verhängnisvoll, wie die sittliche oder erkennende Natur der Menschen zu missachten, sei es, die Sinnlichkeit zu vernachlässigen. «Die Sinnlichkeit leihet der theoretischen und praktischen Vernunft Empfindungen.»214 Und: «Das für den Verstand regelmäßigste, für die sittliche Vernunft beste Werk ist nicht schön, sobald es an sich den Forderungen der Sinnlichkeit widerstrebt.»215

      Zschokke stellte Prinzipien dar, ohne den Blick für Realitäten zu verlieren. Die Welt war nicht vollkommen, nicht jeder Künstler edel, kein Mensch frei von Leidenschaft. So war das Leben, und Zschokke hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, er selber sei als Dichter nur an der sittlichen Bildung der Leser interessiert. An seinem Wunsch nach einem «thebanischen Gesetz», das darauf achte, dass in der Kunst nur «das Schöne