Heinrich Zschokke 1771-1848. Werner Ort

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Название Heinrich Zschokke 1771-1848
Автор произведения Werner Ort
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198825



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sondern «Kunstrichter und Kenner» wachen.

      In der neusten Literatur zur Geschichte der Ästhetik wird Zschokkes Buch gewürdigt, und es wird bedauert, dass es so rasch in Vergessenheit geriet, da es durch «die Identifizierung des Ästhetischen mit der Subjektivität des Fühlens» einen «durchaus originellen Ansatz» biete und mit dem ausdrücklichen Anspruch der Gründung einer psychologischen Ästhetik verbinde.217

      Entscheidender als die kunsttheoretische Originalität Zschokkes oder seine etwas eigenartige Terminologie218 sind für den Biografen seine Ausführungen über die menschliche Natur. Die Triebkräfte seien bei allen Menschen gleich gestaltet. Niemand, weder Fürst, Priester, Adliger noch Gelehrter oder Künstler könne sich von dem ausnehmen, was auch für den einfachsten Bauern und Taglöhner gelte: dass er in sich einen Drang nach Freiheit im Denken und Handeln, nach Ehre, Freundschaft, Liebe, Reichtum und Menschlichkeit besitze,219 den Wunsch nach Schönem und Vollkommenem, der sich genauso Geltung verschaffen wolle wie der ebenfalls ubiquitäre Geschlechts- oder Lebenserhaltungstrieb.220

      Zschokke hatte ein allgemeines Prinzip zur Bildung des Menschen gefunden, das von seiner Natur ausging und insofern die schönen Künste berührte, weil der «edle Künstler» auf das Gemüt, «das Empfindungsvermögen vermittelst der Vorstellungen und Gefühle» einwirke, was für die Erziehung des Menschengeschlechts viel bedeutungsvoller sei, als was der Philosoph leisten könne, der «allein für Verstand und Vernunft, der Moralist für die praktische Vernunft, und der niedrige Künstler für die Sinnlichkeit allein arbeitet».221 Schiller habe beispielhaft gezeigt, wie der Künstler die Menschen durch das Theater rühren und verbessern könne:

      «Durch die Gewalt des Kontrastes [...] in seinen Trauerspielen hebt er Vorstellungen und Empfindungen in uns zu einem hohen Grad der Lebhaftigkeit, wodurch der sympathetische Trieb rege wird. Nun zittern und schaudern wir mit seinen Helden vor der anrückenden Gefahr, wir weinen, oder fühlen uns kühn und stolz und athmen Rache, nach seinem Geheis.»222

      Zschokke hätte sein Buch auch «Ideen zur ästhetischen Erziehung» nennen können, selbst wenn ihm noch nicht bewusst war, dass die pädagogische Seite ihn einmal stärker beschäftigen würde als die Theorie der Kunst oder die Lehre von den Empfindungen. Er schickte sein Werk Schiller, mit der Bitte um ein Urteil und die Erlaubnis, seine Ideen in der Zeitschrift «Thalia» näher erläutern zu dürfen.223 Den Brief verband er mit der Bezeugung seiner grossen Verehrung für den Dichter; er endete mit dem Satz: «Ihrer gütigen Antwort entgegenharrend, bleib ich bis an mein Grab mit ungeschminkter Hochachtung Ihr Verehrer M. Heinr. Zschokke.»224 Auch dieser Brief, wie der frühere an Wieland, blieb unbeantwortet. Stattdessen veröffentlichte Schiller in den «Horen» seine gleichzeitig mit Zschokkes entstandenen Briefe «Über die ästhetische Erziehung des Menschen».225 Beide beziehen sich auf Kant, und beide versuchen, der Gefahr der politischen Anarchie ein Bollwerk der moralischen und ästhetischen Veredelung des Volks entgegenzusetzen.226 Zschokke hoffte, dass sein Buch für akademische Vorlesungen Verwendung fände227 und wollte es seiner eigenen Vorlesung über Ästhetik im Wintersemester 1794/95 zugrunde legen; es kam aber nicht mehr dazu.

      Zschokkes fünf Jahre in Frankfurt waren reich an literarischem und publizistischem Schaffen. Es entstanden fünf teils mehrbändige Romane (und ein Romanfragment), vier Dramen, drei Bände mit Aufsätzen und Erzählungen, zwei eigenständige Zeitschriften und verstreute Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften, die hier nur im Überblick dargestellt werden können.

      Am 5. Januar 1793 erschien das erste Stück von Zschokkes Wochenzeitschrift «Frankfurter Ephemeriden für deutsche Weltbürger» bei Christian Ludwig Friedrich Apitz.228 Es war sein erstes selbständiges, nach eigenem Konzept entworfenes und realisiertes Periodikum, ein Einmannunternehmen mit dem Anspruch, zu unterhalten und gleichzeitig zu nützen, letzteres durch Aufklärung und Bekämpfung des Aberglaubens.229 Die eigentliche Ankündigung, die im Dezember 1792 in Frankfurt (Oder) und über Buchhändler und Postämter in weiteren Städten von Braunschweig bis Breslau und Schwerin bis Magdeburg verteilt wurde, ist nicht mehr greifbar. Eine Liste der Abonnenten wurde nach Abschluss des ersten Semesters der Zeitschrift beigelegt und gibt uns wertvolle Aufschlüsse über die soziale und geografische Streuung der Leser.230 Sie hatte 450 Subskribenten oder Pränumeranden gewonnen, eine stattliche Zahl für eine neue und noch unbekannte Publikation.

      Anstelle einer Vorrede lässt Zschokke eine fiktive Kaffeegesellschaft in einem Provinzstädtchen über die neue Zeitschrift diskutieren:

      «‹Wir haben seit vielen Jahren kein Wochenblatt gehabt;› sagte der dikke Herr Amtmann, und sezte seine Tasse hin: ‹ich wills doch mithalten; es pflegt unterweilen schnurriges Zeug darin zu stehen, darüber man sich krank lachen mögte. Zum Beispiel so recht trollige Anekdötchen; Sie wissen ia wohl, Frau Gevatterin, wie wir neulich lasen! he, he, he!›

      Die Frau Gevatterin wurde roth, und warf ihm einen halb verschämt, halb drohend sein sollenden Blick zu.

      ‹Hm!› sagte eine lange hagre Dame und warf den Kopf etwas zurück: ‹Wochenblatt hin, Wochenblatt her! wir haben ia Lesegesellschaften und Lesebibliotheken, wozu noch ein Wochenblatt? – Man giebt ia doch Geld genug fürs leidige Lesen aus, und unter zehn Blättern taugt öfters kaum ein Blatt etwas; da wird entweder moralisirt, oder satyrisirt, oder poesirt, und dann bekömmt man endlich einmahl so eine kleine Liebesintrigue zur Entschädigung für die Langeweile.›

      ‹Da haben Sie nicht unrecht,› flüsterte ihr der dürre Postmeister zu: ‹für das Geld ein paar Spiel l’Hombrekarten.› ‹Oder einen neuen Floraufsaz!› lispelte des Postmeisters Tochter. ‹Und überdies,› hub der Pastor loci an und strich die buschichten Augenbraun seitwärts: ‹das Avertissement verspricht so viel, als gar nichts. – Für Weltbürger! ia, ia, die Weltbürger kenn’ ich schon; Indifferentisten, Religionsspötter sollts heißen; das muß ich wissen!›»231

      Das anwesende Fräulein von M.* schlägt schliesslich vor zuzuwarten, was die Zeitschrift bringen möge, wohl «nichts mehr und nichts weniger, als von iedem Wochenblatt, das für Herz und Kopf geschrieben sein soll». Die Anwesenden «horchten und waren galant genug, die Zähne zusammen zu pressen, und mit einem schmeichlerischen Lächeln ein tiefes Kompliment zu machen».232

      Mit dieser Jean-Paulschen Szenerie traf Zschokke das Milieu, von dem seine Ephemeriden wohl gelesen wurden und für das er sie schrieb: der gehobenere Mittelstand kleiner und mittlerer Städte, der sich auf der Jagd nach Gesprächsstoff für seine Zusammenkünfte befand. Zschokke bildete in der Vorrede, wenn auch satirisch verfremdet, die Salons ab, die er selbst frequentierte, und die «Frankfurter Ephemeriden» waren sein Beitrag zu ihrer Unterhaltung, mit ihrem Erscheinen am Samstag gerade rechtzeitig für die sonntäglichen Treffen. Von diesen Kreisen kannte Zschokke die Interessen und stimmte den Inhalt darauf ab.

      Friedrich Wilhelm Genthe machte als erster nach Zschokkes Tod auf diese Zeitschrift aufmerksam, von der nur 24 Ausgaben im Umfang von einem Bogen oder 16 Seiten in Oktavo erschienen, schrieb den Titel aber falsch.233 Auf seine Angaben stützten sich nolens volens Alfred Rosenbaum in Goedekes «Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung in Quellen»234 und Carl Günther, der die Zeitschrift nie zu Gesicht bekam, da sie jahrzehntelang verschollen blieb.235 Um 1963 tauchte sie wieder auf, als Geschenk an das Stadtarchiv, und Klaus Barthel, dem langjährigen Leiter der Kleist-Forschungsstätte in Frankfurt (Oder), gebührt der Verdienst, in einer Publikation 1983 wieder darauf hingewiesen zu haben.236 Auch wenn von Mitarbeitern dieser sehr aktiven Kleist-Forschungsstätte seither gelegentlich mit den «Frankfurter Ephemeriden» gearbeitet wird,237 steht eine gründliche Auswertung dieser nicht nur für die Zschokke-Forschung, sondern auch kulturhistorisch interessanten Zeitschrift noch aus.

      Der bemerkenswerteste Beitrag in den «Frankfurter Ephemeriden» sind die sich über mehrere Folgen erstreckenden «Wanderungen einer philosophischen Maus»,238