Heinrich Zschokke 1771-1848. Werner Ort

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Название Heinrich Zschokke 1771-1848
Автор произведения Werner Ort
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783039198825



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die Zuschauer, aus einer Erschütterung heraus Stellung zu beziehen. Dabei ging es Zschokke gar nicht so sehr um eine Sozialkritik der gegenwärtigen Verhältnisse, denn das Stück ist ja in der Vergangenheit und in einem anderen Land verortet. Vielmehr war «Monaldeschi» ein Experiment, in dem er sein Theaterkonzept und die Zurschaustellung seelischer Ausnahmezustände erprobte. Zschokke griff tief in die Psyche der Personen ein: Er setzte sie extremen Situationen aus, in denen sie ihre Beherrschung verloren; das Publikum sollte dadurch in heftige Schwingung versetzt werden.

      In seinem Aufsatz «Brief, aus dem Meklenburgischen», der Anfang Juli 1788 entstand, als «Monaldeschi» gerade fertig wurde, legte Zschokke seine dramaturgische Absicht offen. Das Wichtigste im Theater sei sein moralischer Nutzen. «Es scheucht mit Donnerstimme, mit Dolch und Gift, mit Fluch und verzweifelnder Wuth von der schwarzen Lasterthat zurück; malt die Tugend in süsser, liebenswürdiger Grazie vor, wie sie immer das Herz des unbefangnen Gefühlvollen am mehrsten bezauberte, und zeigt uns unsre Fehler und Schwächen in der lächerlichsten Gestalt.»84 Der Zuschauer soll sich wie in einem Spiegel selber erkennen und auf der Bühne mit den eigenen Schwächen konfrontiert werden:

      «Wie oft hat nicht der Knauser im Parterr

      Den Knauser auf der Bühne laut belacht.»

      Zschokke zielte darauf ab, bei den Zuschauern Entsetzen und Rührung auszulösen, als Mittel zur moralischen Besserung. Nicht nur die Gebildeten erreiche diese Art der Erschütterung, sondern auch einfache Menschen, die keine Bücher läsen, «bis in die äussersten Glieder der menschlichen Gesellschaft, [...] bis zur Werkstelle des Handwerkers».85 Gutes Theater habe dieselbe Wirkung wie echte Religion: Es veredle und läutere die Menschen aller Klassen, mache den Tyrannen zum Fürsten und den Fürsten zum Vater. Daher solle man die dramatische Kunst genauso pflegen und schützen wie die Kirche. «Als mein Freund einst aus der Vorstellung von Kabale und Liebe zurückkam, und ich ihn fragte, woher er so spät käme? gab er mir zur Antwort: Aus der Kirche!»86 Eigentlich müssten Schauspieler genauso geachtet und besoldet werden wie Pfarrer, meinte er, «weil beyde Tugend predigen und heut zu Tage jene es öfters sogar mit glücklicherm Erfolge thun».87

      Es lässt sich kaum verhehlen: «Monaldeschi» ist ein misslungenes Stück, was die Absicht und die Zschokke zur Verfügung stehenden Mittel betrifft. Zschokke kannte zwar die Dramen von Schiller und das eine oder andere von Lessing, hatte aber den Wandel zum bürgerlichen Trauerspiel, den Lessing mit «Miss Sara Sampson» (1755) und seinen theoretischen Schriften begründet hatte, noch nicht vollzogen, sondern war stark vom deutschen Barockdrama beeinflusst. In einem Versuch, den Dichter Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683) zu rehabilitieren, rühmte er die «Urschönheit des Trauerspieles, auf ihre geheimnißvollen Mittel, Thränen der Wehmut zu erwecken, oder tiefes Grausen zu erregen».88 Zwei während Neros Gewaltherrschaft spielende Stücke von Lohenstein bezeichnete er als seine besten Dramen und zitierte daraus eine Folterszene und die Verführung Neros zur Blutschande durch seine Mutter Agrippina. Martin Schulz, der sich als bisher einziger Forscher mit Zschokkes Dramen und seiner Dramentheorie auseinandersetzte, findet diesen Aufsatz «ohne Wert» und meint, er werfe «ein wenig günstiges Licht auf das ästhetische Empfinden seines Verfassers». Und weiter: «Wieweit diese Ansicht in seinen eigenen Dramen zum Vorschein kommt, wird deren Untersuchung erweisen.»89

      Zschokke zog aus Lohenstein die falschen Schlussfolgerungen und überschätzte dessen dramatische Wirkung. Statt die Zuschauer pflegsam zu behandeln und ihr Mitleid zu wecken, wie Lessing es vorschlug,90 putschte er ihre Gefühle auf und stiess sie ab.91 Eine Katharsis war so nicht mehr zu erreichen, und für den Kunstgenuss des gebildeten Publikums im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden Verstand und ästhetisches Empfinden sowieso zu wenig einbezogen. Dennoch: Im wenig aufregenden bürgerlichen Theater jener Zeit verschaffte sich Zschokke, der noch echte Bösewichte auf die Bühne brachte, den Ruf eines Kraftgenies.

      Auch wenn die Personen im «Monaldeschi» noch weitgehend aneinander vorbeireden, weil Zschokke die Kunst der Dialoge nicht richtig beherrschte, gab er den Schauspielern reichlich Gelegenheit, in unterschiedlichen Stimmungslagen zu agieren und sich exklamatorisch zu entfalten. Er schrieb ein aussergewöhnlich expressives Stück, für Zuschauer mit starken Nerven sicherlich ein Riesenspektakel. Schiller wohnte Anfang Januar 1791 einer Liebhaberaufführung in Erfurt bei; es wäre interessant zu erfahren, wie er das Stück empfand. Er habe, hiess es, den Gegenstand für eine künftige Bearbeitung in seinem Verzeichnis notiert.92

      Bedauerlicherweise lernte Zschokke in dieser Hinsicht nicht viel dazu und variierte Themen und Mittel zu wenig, um das Potential seines Theaterschaffens in den elf Stücken, die er bis 1804 schrieb, auszuloten. Immerhin gelang ihm einige Jahre später mit seinem «Abällino» ein grosser Wurf, wobei er dem Versuch, das Publikum zu schockieren, eine neue Dimension gab.

      Ob Zschokke das Theater in Schwerin häufig besuchte, wissen wir nicht. In dieser Zeit wurden «Emilia Galotti» und «König Lear» aufgeführt (beide zweimal), hintereinander drei verschiedene Versionen von «Figaros Hochzeit», «Romeo und Julie» als Singspiel von Gotter mit Musik von Georg Benda, Goethes «Clavigo» und «Der Graf von Essex oder die Gunst der Fürsten» von Johann Gottfried Dyk nach dem Englischen von John Banks. Beliebt waren Lustspiele mit publikumswirksamen Titeln wie «Der Eheprokurator oder Liebe nach der Mode» und «Die Wirthschafterin oder der Tambour bezahlt alles», Erfolgsstücke, die der Zerstreuung und Unterhaltung dienten, Vorstellungen die ein Ehepaar gemeinsam besuchen konnte, ohne Ungebührliches zu befürchten. Dieses Theater war weit von der moralischen Besserungsanstalt entfernt, die Zschokke und andere forderten.

      Falls Zschokke also in Schwerin ins Theater ging, dann wohl selektiv und in der Absicht des Dichters, das für ihn erforderliche Rüstzeug zu erlernen, sein kritisches Urteil zu schärfen und sich mit schauspielerischen Möglichkeiten vertraut zu machen. Es gibt aber keinen Hinweis, dass er Theaterrezensionen für die «Monatsschrift von und für Mecklenburg» verfasste. Dagegen befreundete er sich mit dem Schauspieler Wilhelm Burgheim, Vater mehrerer Kinder, der ein angenehmes Äusseres mit einer schnarrenden Stimme verband.93 In Schwerin spielte er bevorzugt Offiziere und alte Geizige, seine Gattin (oder die Dame, die er dafür ausgab) Hilfsrollen.94 Unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraute Burgheim Zschokke an, er heisse eigentlich von Schlabrendorf, sei Baron und von seiner Familie verstossen worden, weil er eine nichtadelige Geliebte aus dem Kloster entführt habe. Nun werde er mit unversöhnlichem Hass verfolgt und müsse sich inkognito und als Schauspieler durchs Leben schlagen.95 Diese romantische Geschichte rührte Zschokke; vielleicht erinnerte sie ihn an Graf Monaldeschi und seine Theresa – oder hatte Burgheim für Monaldeschi und die Liebe zu einer Bürgerlichen gar Modell gesessen? Dass Zschokke Burgheims Geschichte für bare Münze nahm, kommt uns naiv und überspannt vor, aber man muss seine Jugend, den Mangel an Lebenserfahrung und Burgheims selbstbewusstes Auftreten in Rechnung stellen. Trotz seiner Vorliebe für Rangprädikate und Titel, mit denen Zschokke, bei aller demokratischen Gesinnung, ein Leben lang kokettierte, war es nicht in erster Linie die Baronie, die ihn zu Burgheim hinzog. Burgheim war vielleicht der erste Mensch, der Zschokke ernst nahm, ihn als ebenbürtig, nicht wie ein Kind oder einen Schüler behandelte. Die beiden steckten ihre Köpfe zusammen und planten eine gemeinsame Zukunft: Burgheim als Theaterdirektor und Zschokke als sein Dichter und Sekretär.96 Offenbar vergassen sie über ihren Plänen, dass Burgheim ein einfacher Schauspieler war und nicht einmal über Macht und Mittel verfügte, Zschokkes «Monaldeschi» auf die Bühne zu bringen.

      Burgheim gehörte zu den Schauspielern, die im November 1787 dem kleinen Trupp der Marianne Köppi entsprungen waren, um sich in Schwerin engagieren zu lassen. Im Herbst 1788 kündigten die Mitglieder der ehemaligen Köppischen Gesellschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt in Schwerin geblieben waren, und zogen mit einer neuen Truppe nach Prenzlau, der Hauptstadt der Provinz Uckermark. Es gelang Burgheim, Zschokke zur Mitreise zu bewegen, wozu es keiner grossen Überredungskünste bedurfte.97 Vermutlich empfand Zschokke den Aufenthalt in Schwerin zunehmend als Belastung, als ein Hindernis auf seiner Karriere zum Dichter und Gelehrten. Es reizte ihn, sich ganz seiner Leidenschaft, dem Schreiben, zu widmen und die Produkte seiner Tätigkeit gewürdigt und aufgeführt