Schweizer Wirtschaftseliten 1910-2010. Thomas David S.G.

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Название Schweizer Wirtschaftseliten 1910-2010
Автор произведения Thomas David S.G.
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783039199327



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Frauen in unternehmerischen Spitzenpositionen sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen (Tabelle 2). Die Verwaltungsrätinnen grosser Unternehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eint ein Merkmal: Sie waren alle mit der Familie verbunden, welche die Firma kontrollierte, sei dies als Ehefrau oder als Erbin. In der Tat wurde in dieser Zeit der grössere Teil der Konzerne noch von einer Familie kontrolliert (Kapitel 3). So ist beispielsweise 1910 Elise Hoffmann (1845–1913) im Verwaltungsrat des Basler Chemieunternehmens Roche. Sie sass dort an der Seite ihres Sohnes, Fritz Hoffmann (1868–1920), der das Geschäft 1896 mit seinem Vater gegründet hatte. Gemeinsam mit ihrem Mann Gustav Hasler, der das Unternehmen von seinem Vater geerbt hatte, sass 1937 die Engländerin Marie Hasler-Simpson im Verwaltungsrat der Hasler AG (Produktion von Telegrafen und Telefonen). Ein anderes Beispiel ist Frieda Gyr-Schlüter, die holländischer Abstammung war und 1957 gemeinsam mit ihrem Bruder Otto Hermann Schlüter (Verwaltungsratsdelegierter) im Verwaltungsrat von Landis & Gyr sass. Sie war die Witwe von Karl Heinrich Gyr, der die Firma bis zu seinem Tod 1946 geführt hatte. In einer selteneren Konstellation übernahm Else Selve-Wieland (1888–1971) Anfang der 1930er-Jahre die Führung der Metallfabrik Selve in Thun; dies nach dem Tod ihres Mannes Walther, der das Unternehmen selbst von seinem Vater Gustav Selve (1842–1908) geerbt hatte. Else Selve war eine der wenigen Frauen, die bis an die Spitze einer Grossunternehmung aufstieg. Auslöser war wohl, dass in der näheren Verwandtschaft keine geeigneten männlichen Nachfolger bereitstanden, als ihr Mann starb. Der Fall zeigt, dass – anders als in der Politik – es nicht die rechtlichen Rahmenbedingungen waren, die Frauen am Zugang zu Machtpositionen hinderten. Dennoch blieben ihnen die Türen zu den Entscheidungsorganen der Familienunternehmen meist verschlossen. So ging zwar 1904 die Firma Robert Schwarzenbach & Co. – damals eines der wichtigsten Seidenindustrieunternehmen der Welt – nach dem Tod von Robert Schwarzenbach auf seine Frau Mina und ihre fünf Kinder über. Doch obwohl Mina und ihre zwei Töchter Anteile an der Gesellschaft erbten, blieben sie im Unterschied zu den drei Söhnen «von der Geschäftsleitung ausdrücklich ausgeschlossen».13

      Studien zur Wirtschaftselite beschränken sich – sofern sie diese Frage nicht ganz einfach ignorieren – meistens darauf, das Fehlen von Frauen in den Entscheidungsorganen der Unternehmen zu konstatieren. Dennoch zeigen einige Forschungsarbeiten, dass die Ehefrauen der Firmenchefs in Familienunternehmen eine tragende Rolle spielten. Diese war aber informeller Natur und damit schwierig zu erfassen.14 Einerseits trugen die Frauen dazu bei, das Bild der gemeinwohlorientierten Bürgerlichkeit zu stärken, indem sie gesellschaftliche Netzwerke pflegten und entwickelten – zum Beispiel über die Organisation grosser Empfänge, Familienfeste und durch wohltätige Engagements. Andererseits offenbaren zahlreiche Studien, wie wichtig Frauen für die Allianzen zwischen den Unternehmerdynastien waren. Wie Philippe Sarasin am Beispiel der Basler Eliten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt,15 heirateten die Männer der einflussreichen Familien meistens Frauen ihres sozialen Rangs. Diese Strategie erlaubte es, das Familienvermögen zu erhalten oder zu vergrössern. Aber die Heirat hatte nicht nur eine wirtschaftliche Funktion; sie diente auch dazu, die soziale Kohäsion des Milieus zu bewahren. Ein bezeichnendes Beispiel einer solchen Heiratsstrategie war die 1896 zwischen Sidney W. Brown (1865–1941) und Jenny Sulzer geschlossene Ehe. Beide stammten aus einflussreichen Familien der Maschinenindustrie: Der Bräutigam war niemand anders als der Bruder des BBC-Gründers, die Braut gehörte der Familie Sulzer an, welche die gleichnamige Winterthurer Firma besass. Solche Heiratsallianzen verschwanden auch im 20. Jahrhundert nicht, ganz im Gegenteil. Wir nennen hier nur zwei Beispiele: 1923 heirateten Hans Hürlimann (1891–1974), der Generaldirektor der Brauerei Hürlimann, und Gertrud Anna Huber. Sie war die Tochter von Emil Huber, dem Generaldirektor der MFO und Pionier der Elektrifikation des Schweizer Eisenbahnnetzes. 1944 schlossen Louis von Planta (1917–2003) und Anne-Marie Ehinger den Ehebund. Er sollte später zum Präsidenten und Delegierten des Verwaltungsrats der Ciba-Geigy aufsteigen, sie war die Tochter von Mathias Ehinger, dem ehemaligen Präsidenten des Verwaltungsrats der Basler Privatbank Ehinger. Solche Heiratsbünde zwischen mächtigen Familien spielten eine entscheidende Rolle für die Reproduktion der herrschenden Klasse. Falls keine männlichen Erben vorhanden waren, ermöglichten sie es zudem oft, den familiären Charakter eines Unternehmens dadurch zu bewahren, dass man es einem Schwiegersohn übertrug. Meistens stammte dieser selbst aus einer einflussreichen Industriellen- oder Kaufmannsfamilie. Allerdings gab es auch Fälle, in denen eine Heirat den Aufstieg eines Schwiegersohns aus sozial bescheideneren Verhältnissen erlaubte, der den «Makel» seiner Herkunft mit seinen grossen Berufskompetenzen kompensierte. So vererbte sich die Landwirtschaftsmaschinenfirma Bucher während vier Generationen vom Vater auf den Sohn, bis zu Jean Bucher (1875–1961), dessen Nachkommenschaft aus fünf Töchtern bestand. Das Unternehmen ging deshalb auf Walter Hauser-Bucher (1904–1967) über. Hauser-Bucher war Bauernsohn, verfügte aber über einen Abschluss als Maschineningenieur der ETH Zürich. 1934 heiratete er eine der Töchter von Jean Bucher, übernahm die Firma und vererbte sie danach an seine Kinder weiter. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts spielten Mütter und Ehefrauen deshalb eine wesentliche Rolle für die Weitergabe von Machtfunktionen und Besitz innerhalb von Familienunternehmen.

      Staatsbürger sein, hiess in der Schweiz bis 1971, ein Mann zu sein. Der Ausschluss der Frauen vom aktiven und passiven Wahlrecht auf Bundesebene hatte aber Auswirkungen, die über den politischen Bereich hinausgingen.16

      Bis Anfang der 1970er-Jahre konzentrierten sich die Forderungen der Frauenbewegung in erster Linie auf das Frauenstimmrecht. Dies führte dazu, dass sich die Entwicklung anderer Regulierungen, die die Geschlechterbeziehungen betrafen, etwa in der Sozialgesetzgebung, verzögerten.17 Insbesondere bei der Teilnahme am Arbeitsmarkt erhöhen diese Verzögerungen die Hindernisse für Frauen. Auch bei der Unterstützung der Mütter war die Schweizer Gesetzgebung besonders stark im Rückstand, die Mutterschaftsversicherung trat erst 2005 in Kraft – 60 Jahre, nachdem das entsprechende Prinzip in der Bundesverfassung verankert worden war.

      Die Ausdehnung des «allgemeinen» Stimmrechts auf die Frauen 1971 stellte die Weichen für ihren künftigen Zugang zu Machtpositionen in der Gesellschaft. Denn selbst wenn diese Verfassungsänderung keine direkte Wirkung auf den wirtschaftlichen Bereich hatte, begünstigte der Eintritt der Frauen in die Politik doch eine gewisse Öffnung in den Unternehmen. So veränderte sich die Präsenz von Frauen in den 110 grössten Unternehmen ab den 1980er-Jahren deutlich: Zum einen waren sie zahlreicher vertreten. Auch wenn dieser zahlenmässige Anstieg von einem bescheidenen Niveau ausging (fünf Frauen im Jahr 1957), so sind die 20 weiblichen Verwaltungsrätinnen und Direktorinnen 1980 für die Schweiz beachtenswert. Zweitens veränderte sich ihr Profil: Zwar waren einige dieser Frauen immer noch Firmenerbinnen – so sass beispielsweise die 1926 geborene Hortense Anda-Bührle im Verwaltungsrat von Oerlikon-Bührle. Die Mehrheit der Frauen jedoch gelangte an die Spitze von Unternehmen, die sich nicht in Familienbesitz befanden. Häufig hatten sich diese Verwaltungsrätinnen des neuen Typs in der politischen Arena einen Namen als Frauenrechtlerinnen gemacht und sich für einen (bürgerlichen) Feminismus engagiert.

      In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffnete sich die Welt der Grossunternehmen langsam auch für Frauen. Diese Öffnung war allerdings stark vom Fortwirken gewisser Geschlechterstereotypen geprägt: Von den 20 1980 erfassten Frauen waren 13 im «weiblich» konnotierten, dem (Haushalts-)Konsum verbundenen Sektor der Grossverteiler tätig. Allein dem Verwaltungsrat der Migros gehörten fünf Frauen an. Die Migros war damit das einzige Unternehmen, dessen Strategieorgan mehr als ein weibliches Mitglied hatte. Die übrigen Frauen verteilten sich auf die Verwaltungsräte von Coop, Grand Passage, Innovation, Jelmoli und andere im Detailhandel tätige Unternehmen. Gänzlich fehlten in den berücksichtigten Stichjahren Frauen übrigens in den Branchen Versicherungen, Lebensmittel, Bau, Energie, Uhren und Transport.

      Eine Kombination von Faktoren führte dazu, dass Frauen bis in die 1980er-Jahre von Machtpositionen in Schweizer Grossunternehmen ausgegrenzt wurden: die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, das Kooptationssystem und die Bedeutung der Militärkarriere. In eigentümlicher Weise begünstigte der Familienkapitalismus – in dieser Ära die vorherrschende Logik der Corporate Governance – in den