Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur. Thomas Lambert Schöberl

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Название Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur
Автор произведения Thomas Lambert Schöberl
Жанр Медицина
Серия
Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783863746001



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und in den zahlreichen Ritualen unserer Kultur sichtbar. Heilpraktiker sind die Erben der sogenannten Walas, der heidnischen Seherinnen, Schamanen und Priester. Nachfahren der verfolgten Kräuterweiber und Hebammen des Mittelalters. Nachfolger eines Pfarrers Sebastian Kneipp (1821 – 1897) und der Äbtissin Hildegard von Bingen. Was all diese praktischen Laien auszeichnete, ist ihre tiefe Verwurzelung im Volk und ihr ganzheitliches Weltbild.

      Heilung war für die Menschen von jeher ein Prozess, der über die physische, sichtbare Welt hinausführte. So war es üblich, dass die Aufgabe des Heilers oft auch mit spirituellen Aufgaben einherging. Das Weltbild der Menschen war geprägt von Analogien und der Vorstellung einer Synchronizität des gesamten Kosmos. Sie fühlten sich eingebettet in das System Natur, das größer als sie selbst und der Einzelne war. Folglich wurde Krankheit als ein multifaktorielles Geschehen verstanden, dessen Ursprung im Verlust einer natürlichen Balance zu suchen war. Götter, Ahnen, Naturwesen, Ernährung, individuelle Taten und Entscheidungen waren die Quellen der Symptome. Für diese Völker, wie auch für die Ureinwohner Amerikas, war es unvorstellbar, Raubbau an der Natur zu betreiben, denn die Erkenntnis, dass der Mensch als Teil der Natur auch für deren Fortbestehen verantwortlich ist, wurzelte tief in ihrem Weltbild. Krankt die Natur, wird auch der Mensch krank. Ahnenkulte sorgten für ein verantwortungsvolles Handeln gegenüber folgenden und vorangegangenen Generationen.

      Die Worte Demut, Staunen, Sünde und Umkehr sind heutzutage nicht sehr beliebt. Das Staunen und die Demut vor der Natur sind jedoch tief ergreifende Erlebnisse, die uns wieder wertschätzungsfähig machen. Auch »Umkehr« wird oft falsch verstanden.

      Hierzu eine kleine Geschichte:

      Rabbi: »Einen Tag vor deinem Tod kehre um.« Schüler: »Wann soll ich umkehren, ich weiß doch gar nicht, wann ich sterbe?« Rabbi: »Siehst du, darum kehre vorsichtshalber heute um!«

      »Zu wissen, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, verschafft einen klaren Blick«, so kommentierte Vera F. Birkenbihl einen ihrer Vorträge vor Studenten und schaute in verdutzte Gesichter. Dieser Vortrag hatte mich ebenfalls sehr berührt und mich zu einer achtsamen Lebensführung motiviert. Heilpraktiker zeigen ihren Patienten auf, dass das Menschsein eine spirituelle, ganzheitliche Erfahrung ist. Spiritualität ist für mich der Prozess, das Leben ganzheitlich zu erfahren, die Schönheit der Schöpfung zu erkennen, innezuhalten, das Leben zu beobachten und zu spüren, was es mit mir macht.

      Ganzheitlichkeit leben bedeutet für mich aber auch die Fähigkeit, durch Dankbarkeit und aktiven Altruismus wahres Glück zu empfinden. Gestaltungswille und Mut zum Aufbruch sind weitere wichtige Elemente einer spirituellen Lebensführung, weil wir nur durch aktives, verantwortungsvolles Handeln die wertvolle Entwicklung vom Objekt zum Subjekt vollziehen können. Auf die einzelnen Bausteine dieser Lebensführung kommen wir aber im Laufe dieses Buches jeweils gesondert zu sprechen.

      Bis heute ist Hildegard von Bingen vielen Menschen eine Leitfigur

      Nun aber zurück zum Ursprung der Naturheilkunde und deren Vertretern. Hildegard von Bingen war zum Beispiel Heilerin, Visionärin, Komponistin und Theologin, während die Heiler der heidnischen Waldvölker Ratgeber, Richter, Seher und Heiler zugleich waren. Im Rahmen der fortschreitenden Christianisierung verschwanden die alten »Hexen«, Heiler und Schamanen der eingeborenen Waldvölker mehr und mehr von der Bildfläche. Ihr weises Naturwissen überlebte aber im Volksglauben und in dessen Mythen, Märchen und Traditionen. Unter der Vorherrschaft der katholischen Kirche wurde die Kräuterheilkunde anfangs verboten und unter Strafe gestellt.

      Die Vorstellung einer belebten Natur, deren Heilkräfte magischen Ursprungs schienen, waren aus Sicht der Kirche gefährlicher Aberglaube und Ketzerei. Trotz verschiedenster Methoden der Missionierung ließ sich des Naturglaubens der einfachen Bevölkerung nur schwer Herr werden, und so kam es, dass sich eine vom Orient geprägte Klostermedizin entwickelte. Während die alten Urkräuter der nordischen Wälder in Vergessenheit gerieten, wurden in Klostergärten neue, bisher nicht winterfeste Heilpflanzen aus fernen Regionen kultiviert. Dazu zählten Salbei und Rosmarin. Das Konzept einer christkonformen Heilkunde war geboren. Nicht zuletzt auch, um die alten Traditionen der einfachen Bevölkerung in einem neuen christlichen Weltbild aufzulösen.

      Im 12. Jahrhundert entstanden dann europaweit erste Universitäten, an denen Ärzte ausgebildet wurden. Noch einige Zeit gingen Ärzte und andere Heilberufe von ähnlichen heilkundlichen Grundvorstellungen wie der Säftelehre aus. Erst mit der Anerkennung der Zellularpathologie im vorigen Jahrhundert trennten sich die Wege der akademischen Medizin und die der Naturheilkunde aufgrund ihres unterschiedlichen Verständnisses von Krankheit und Gesundheit gänzlich. Die akademischen Ärzte des Mittelalters versorgten ausschließlich die wohlhabende Bevölkerungsschicht, während das überwiegend arme Bauern- und Arbeitervolk auf die Praktiker angewiesen war. Das Fußvolk des mittelalterlichen Ständesystems vertraute sich zahllosen Wanderheilern an, deren Praktiken sich rückblickend nur schwer bewerten lassen. Holunder, Weihrauch und Wacholder vertrieben böse Geister, Knoblauch, Fenchel, Baldrian und Bärlauch schützten vor Dämonen, und Salbei säuberte die Luft im Zimmer der Sterbenden. Die pharmazeutische Wirkung dieser Pflanzen gilt heute als bestätigt. Die Patienten im Mittelalter führten die Effekte aber oft auf magische Vorgänge einer unsichtbaren Welt zurück.

      Die Wissenschaftler der Aufklärung sahen im Heilzauber der Kräuterweiber und Bader eine rückwärtsgewandte Welt des dunklen Aberglaubens.

      Heute sind es grüne Hippies und feministische Esoterikerinnen, die die Kräfte der Natur glorifizieren und historische Fakten verherrlichen. Eine voreilige Arroganz gegenüber dem Mittelalter ist aber ungerechtfertigt. Wenn auch die Theorien hinter den Künsten der Hebammen, Kräuterweiblein und Schamanen heute oft abstrus erscheinen – Eisenkraut, Weidenrinde, Ochsengalle oder Pestwurz sind dennoch hochwirksame Arzneidrogen. Was Quacksalberei und Profitgier im Gesundheitswesen angeht, sind wir dem Mittelalter heute keinen Schritt voraus.

      Auch heute erwarten Patienten Übermenschliches von ihren Ärzten. Die Robe des Priesters, das Ritualgewand der Walas oder die Amulette spiritueller Heilerinnen wurden gegen den weißen Kittel des Arztes getauscht. Das erstarkende Bürgertum ersetzte die Kirche durch die Wissenschaften und verhält sich gegenüber den Vorgaben der Pharmaindustrie nicht minder hörig. Forscher und Therapeuten erhalten einen beachtlichen Teil ihres Lohns von den führenden Pharmakonzernen und diagnostizieren und entdecken Krankheiten, die passgenau zur Medizin ihrer Geldgeber sind. Während Syphilis, Pocken, Pest und Cholera im Mittelalter als vermeintliche Strafe Gottes ganze Landstriche leer fegten, sichern heute Wechseljahresbeschwerden, Bluthochdruck und Diabetes den steten Geldfluss im Gesundheitswesen. Alles gilt als behandelbar, ob unreine Haut, Rückenschmerzen, Lustlosigkeit oder die Pubertät – für alles gibt es eine Pille. Natürlich ist heute auch der Zappelphilipp kein Wechselbalg tückischer Elfen mehr, nein, heute braucht er Ritalin.

      In alten Zeiten bestimmte das Wort Gottes den Alltag der Menschen, heute ist es der kaum hinterfragte Slogan »wissenschaftlich belegt«, und auch dieser vorherrschende Glaube spaltet zunehmend unsere Gesellschaft. Der Aberglaube der Menschen resultierte nicht immer nur aus ihrer Verzweiflung. Ihre Medizin war oft auch das Ergebnis von Zufällen oder langen und ausgiebigen Beobachtungen der Natur. Was sich hinter dem Glauben an Schafskot gegen Entzündungen oder gesegneten Lebkuchen gegen Unheil im Stall verbirgt, ist im Grunde nichts anderes als moderne Medizin. Die Heiler des Mittelalters züchteten auf Schafsmist eine Vielzahl von Schimmelpilzen, deren antibiotische Wirkung heute als bewiesen gilt. Diese Pilze konnten als Penicillin zur Wundbehandlung verwendet werden. Im weihnachtlichen Lebkuchen war wertvoller Zimt enthalten, der nachweislich Zecken, Würmer und Mücken fernhält. Darüber hinaus wirkt Zimt entzündungshemmend und stoffwechselanregend. Dass all diesen Heilmitteln übersinnliche Kräfte zugesprochen wurden, erscheint also in gewisser Weise recht schlüssig. Wir modernen Menschen stehen diesen alten Zeiten wie ein Völkerkundeforscher einer fremden Kultur gegenüber.

      Mit dem weltweiten Hexenwahn der katholischen Kirche gerieten das ganzheitliche Weltbild und der Naturglaube vieler Kräuterfrauen in Verdacht, des Teufels Ursprung zu sein. Es war die zum Teil sehr erfolgreiche Medizin der Einsiedler, der Waldfrauen, der Hebammen, der Ketzer, der