Deine Zeit läuft ab. Bruno Heini

Читать онлайн.
Название Deine Zeit läuft ab
Автор произведения Bruno Heini
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839268964



Скачать книгу

Nasus. Du musst wissen, unser Vater war ein Spaßvogel. Meine Schwester hat er Anna-Susanna getauft und mich Hannah. Du kannst dir vorstellen, wie praktisch.«

      »Beides Palindrome.« Palmer nickte anerkennend. »Vorwärts und rückwärts gleich geschrieben.«

      Vor Erstaunen bekam Hannah den Mund nicht zu.

      »Du kennst sogar den Fachbegriff?« Einen Moment lang behielt Hannah ihren verdutzten Gesichtsausdruck.

      »Mein Großvater hatte eine Schwäche für Palindrome«, erklärte Lenny mit schwacher Stimme, bevor er sich die Atemmaske noch einmal auf Mund und Nase drückte für einen tiefen Zug reinen Sauerstoffs. »Er ist aufgewachsen oberhalb von Brienz, auf der Planalp, selber schon ein Palindrom. Einen Traktor hatten sie damals keinen, sondern ein Reittier. Merkst du was?« Er lächelte stolz. »Und weißt du, mit welchem Job er seine Familie durchgebracht hat? Er hat bei einem Discounter das Regallager betreut.«

      Auch jetzt brauchte Palmer keine Sekunde, um den Ulk zu durchschauen. Sie wandte sich an Hannah.

      »Lenny benötigt also ein Spenderherz. Aber die Chancen, eins zu kriegen, sind verschwindend gering wegen seiner äußerst seltenen Blutgruppe?«

      Aber Hannah schüttelte den Kopf, als weckte sie sich aus fernen Gedanken.

      »Frag Lenny, ein richtiger Experte. Ich rufe mal im Krankenhaus an. Vielleicht gibt’s gute Nachrichten.« Sie erhob sich und schritt hinaus.

      »AB negativ – diese verdammt seltene Blutgruppe ist das Einzige, was ich von meinem Vater habe. Um ein Herz zu verpflanzen, muss der Empfänger zwingend dieselbe Blutgruppe aufweisen, sonst funktioniert das nicht.« Lenny lächelte bitter. »Bevor man ein Spenderherz überhaupt zum Empfänger fliegt, prüft man, ob damit alles in Ordnung ist. Um keine Zeit zu verlieren, errechnet das Computersystem bei Eurotransplant in den Niederlanden, für wen dieses Organ passt und wer auf der Warteliste dieses Herz am allerdringendsten benötigt. Für die ganze Untersuchung und den anschließenden Transport bleiben insgesamt nur vier Stunden. Spender und Herz dürfen also nicht allzu weit voneinander entfernt sein. Darüber hinaus müssen Größe und Gewicht des Empfängers in etwa mit denen des Spenders übereinstimmen, denn das Herz musste bereits beim Spender gewohnt sein, die beim Empfänger benötigte Leistung zu erbringen.« Er atmete einige Male tief durch. »Auch muss der Empfänger genau jetzt soweit gesund sein, sonst wird ihm das Herz nicht einpflanzt. Macht er beispielsweise grad an einer Lungenentzündung rum, kriegt ein anderer dieses Organ.«

      »Obwohl da einer vielleicht schon Monate oder Jahre drauf wartet?«

      Ermattet schloss Lenny die Augen und gab sich einige Sekunden, bevor er fortfuhr.

      »Ja. Das Herz geht nicht nur zum Patienten mit der höchsten Dringlichkeit, sondern auch zu dem mit der größten Überlebenschance. Kämpft ein Patient noch gegen eine andere Krankheit, ist sein Körper eh schon angeschlagen und übersteht die Transplantation schlechter als ein ansonsten Gesunder. Weiter musst du wissen, jeder Mensch hat ein Immunsystem, das den Körper vor fremden Eindringlingen wie Viren und Bakterien schützt. Deshalb will dieses Abwehrsystem das eingepflanzte Organ abstoßen. Folglich muss der Empfänger ein Leben lang Medikamente schlucken, um das Immunsystem zu unterdrücken, damit es das Organ nicht sofort bekämpft.«

      Er sah Palmer eindringlich an. Als sie wortlos nickte, fuhr er fort. »Was die Blutgruppe betrifft, ist hier die Gefahr der Abstoßung am größten. Die Blutgruppe muss dieselbe sein.«

      Er tastete nach der Sauerstoffmaske und nahm einige Züge. Als er fortfuhr, vernahm Palmer in seiner Stimme einen gereizten Zug. »Da es innerhalb aller Blutgruppen zu wenige Spenderherzen gibt, habe ich erst recht keine Hoffnung mehr, dass irgendwo ein Mensch mit meinem seltenen Blut mir eine passende Pumpe spendet.«

      Mit seinen Fingern trommelte er auf die Decke. »Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Bald sterbe ich.«

      Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Oberlippe. »Nur ein Prozent der Menschen hat meine Blutgruppe. Das heißt, nur ein Prozent aller gespendeten Herzen kommt für mich überhaupt infrage.«

      Seine Hand schlug auf die Decke, der Mund nahm verhärtete Züge an. »Die Schweizer sind nicht gerade spendierfreudig. Nur wenige füllen das Spenderformular aus. Und ich liege blöd hier rum und vergeude meine Zeit. Dabei wüsste ich viel Besseres zu tun.«

      Er holte Luft und fuhr dann wesentlich ruhiger fort. »Interessanterweise hat der Mangel an Spenderherzen auch noch andere Gründe. Die Verkehrssicherheit nimmt zu, dadurch gibt es einfach zu wenige Tote auf der Straße.« Er nahm einen tiefen Zug reinen Sauerstoffs. »Weißt du, der Gedanke, dass erst einer sterben muss, damit ich überleben kann, hat mich zu Beginn enorm belastet. Noch heute leide ich mit all den Angehörigen, die jeweils einen Menschen verlieren.« Er bedachte Palmer mit einem langen Blick. »Von Zeit zu Zeit habe ich Phasen, da bin ich mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt ein fremdes Herz will. Aber dann spüre ich große Dankbarkeit all den Spendern gegenüber, die ihre Entscheidung getroffen haben und ihr Herz nach dem Tod einem anderen Menschen überlassen und ihnen helfen, weiterzuleben. Ich meine, was will ein Toter mit seinen Organen, wenn diese doch Leben retten könnten?« Er seufzte, bevor er tief einatmete. »Weißt du, wenn du den ganzen Tag einzig diese Zimmerdecke zu sehen kriegst, erkennst du den Widerspruch hinter diesem System. Bevor du ein Herz bekommst, muss es dir hundeelend gehen. Aber genau dies verschlechtert dann die Erfolgschancen der Transplantation.«

      Palmer fühlte mit ihm. Sie erinnerte sich, ihrer Mutter hatte man damals kein Spenderorgan zugeteilt, da ihre Überlebenschance als viel zu gering eingestuft worden war aufgrund ihrer Krebserkrankung. Diese hat sie dann tatsächlich hinweggerafft. Die Medikamente gegen die Abstoßung blockieren die Immunabwehr. Diese Abwehr wäre aber nötig gewesen, um die Krebszellen zu unterdrücken. Palmer spürte einen Klumpen im Magen. Der Gedanke an den Tod ihrer Mutter drückte ihr Tränen in die Augen.

      Gequält verzog Lenny das Gesicht. »Ich habe nicht mal genügend Kraft, wütend zu sein, dass ich keine Aussicht auf ein gesundes Herz habe. Dabei gibt es Leute, denen es noch schlechter geht als mir. An guten Tagen schaffe ich es zu lesen oder am Laptop im Bett zu chatten. Bei mir ist ein Spenderherz zurzeit nur dringlich.« Er blickte zum Nachttisch, wo sein Handy neben der Lesebrille auf dem aufgeschlagenen Physikbuch ruhte. Schockiert starrte er Palmer in die Augen, warf seine Hand zum Buch und verschob es soweit, bis es das kosmische Kamasutra-Buch, das darunter lag, besser verdeckte. Wobei er Glück hatte, dass bei seiner spontanen Aktion sein geöffneter Laptop, der ebenfalls obendrauf lag, nicht runterrutschte und auf den Boden knallte. »Es ist beschissen. Damit ich Aussicht auf ein Herz habe, muss es mir noch mieser gehen. In der Fachsprache ›höchste Dringlichkeit‹. Die erreiche ich erst, wenn sie mich auf der Intensivstation an alle Schläuche anschließen. Jedes Mal, wenn mein Handy klingelt, schrecke ich zusammen und frage mich, ob die Klinik anruft, weil sie endlich ein passendes Organ für mich gefunden haben. Ich hoffe auf das Glück, dass mir jemand sein Herz schenkt. Jedenfalls steht mein Köfferchen seit Jahren bereit.« Sein Blick glitt zu einem dunkelbraunen Rollkoffer neben dem Fenster. »Pyjama, Toilettenartikel, Latschen, Unterwäsche. Und Bücher. Alles Sachen, die ich brauche nach erfolgreicher Operation. Wenn die mich vom Unispital Zürich anrufen, werde ich bereit sein. In Luzern setzen sie keine Herzen ein.«

      Palmer stand da und fühlte etwas, das ihr sonst weitgehend unbekannt war: Hilflosigkeit. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, was angemessen wäre angesichts dieser Ausweglosigkeit.

      Einen Moment lang starrte sie Lenny nur an und nickte dann zustimmend, dabei drängte sich in ihr das Bedürfnis hoch, einfach zu flüchten, das Zimmer zu verlassen. Ein feiger Gedanke, sie wusste es, aber das hier war fast zu viel für sie. Sie drückte ihr Kreuz durch, während ihre Blicke durchs Zimmer wanderten. Wo Palmer ein Poster des Fußballklubs Luzern erwartet hatte, schaute Albert Einstein von der Wand. Mit weit aufgerissenen Augen und verstrubelten Haaren streckte er dem Betrachter die Zunge raus.

      »Astrophysik ist dein Wunschtraum?«

      »Nein. Aber als Ingenieur werde ich das erste künstliche Herz entwickeln, das vollkommen selbstständig wie ein natürliches im Leibesinnern arbeitet und das von keinem