Deine Zeit läuft ab. Bruno Heini

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Название Deine Zeit läuft ab
Автор произведения Bruno Heini
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839268964



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wie aus dem Nichts auftauchten, allen ungefragt ihre Hinweise in die Ohren bliesen und auch gegen spürbaren Widerstand zwangsberieten. Da sie sich damals auch ihre zuweilen deftige Ausdrucksweise abzugewöhnen versucht hatte, ermahnte sie diese Ratgeber anfangs freundlich, sie wolle nichts anderes, als in Ruhe trainieren. Allerdings fruchteten bei den Dreinschwätzern solche Worte nicht, sondern sie nervten Palmer noch heftiger, weshalb sie die Kerle mit alterprobten Ausdrücken aus dem Umfeld von Schließmuskel und Ozonloch zum Teufel schickte.

      Zum Abschluss ihres Kurztrainings schoss sie jetzt eine linke Gerade auf den Sandsack, gefolgt von einem rechten Leberhaken, und vollendete ihren Angriff mit einem so heftigen Kniestoß, dass es ihr vorkam, als hüpfte das schwere Ding etwas in die Höhe, um endlich gemütlich von der Kette zu baumeln.

      Mit bloßen Fäusten hatte sie auf das abgewetzte Leder gedroschen. Aber der Schmerz in den wunden Knöcheln fühlte sich gut an, auch der Magen quälte sie nicht mehr. Der Länge nach ließ sie sich aufs Sofa fallen, legte den Unterarm über ihre geschlossenen Augen und saugte mehrmals tief Luft ein, um wieder zu Atem zu kommen und einen klaren Kopf zu kriegen. In einer dünnen Bahn rann Schweiß aufs Polster, nicht nur als Folge ihres Wutausbruchs, sondern auch weil die Sommersonne den ganzen Tag über gnadenlos auf das Bootshaus gebrannt und ihre Bude direkt unter dem Dach zu einem stickigen Ofen aufgeheizt hatte.

      Aber ihre Gedanken rasten noch immer. Im Gegenteil steigerte sich die finanzielle Misere in ihrer Fantasie höher und höher bis hin zum totalen Ruin. Sie drückte ihr Gesicht ins Kissen, da sich die Sorgen über ihre Unabhängigkeit in ihre Seele fraßen. Nach einigen Momenten strampelte sie sich die Schuhe von den Füßen, drückte sich ein weiches Kissen in den Nacken und tastete nach der Fernbedienung. Um auf andere Gedanken zu kommen, zappte sie sich durch die Radiostationen. Aber keiner der Songs vermochte ihre Aufmerksamkeit länger als einige Sekunden zu fesseln, schließlich schaltete sie das Gerät aus.

      Während sie in die Küche schlich, wusste sie, was ihre Stimmung aufheitern würde. Sie schloss die Kühlschranktür mit der Hüfte, zischte ein Bier auf und leerte die Hälfte in einem Zug. Dann schaute sie die Dose in ihrer Hand nachdenklich an und nickte vor sich hin. Schließlich schluckte sie den Inhalt ganz weg, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, drückte die Dose platt und warf sie in die Sammlung unter der Spüle.

      Seit einiger Zeit hatte sie es sich angewöhnt, ohne Alkohol einzuschlafen. Jetzt aber überlegte sie kurz, griff zur Flasche auf der Ablage und setzte Johnny Walker an. Ein Fingerbreit musste reichen. Noch während sie durch den Flaschenboden die Deckenlampe betrachtete, wurde ihr klar, ihren Traumjob würde sie nicht auf dem Boden dieser Flasche finden. Aber Johnny begann augenblicklich seine magischen Kräfte zu entfalten, dafür trank sie das Zeug schließlich. Sogleich fühlte es sich an, als hätte sie eine Fackel verschluckt, welche die schlechten Gedanken wegbrannte und die Nervenenden betäubte. Sie genoss, wie sich wohlige Wärme in ihr ausbreitete und der tiefen Enttäuschung dieses Tages etwas von ihrer Kälte nahm. Endlich setzte sie die Flasche ab.

      In letzter Zeit hatte sich der Korken immer seltener gelöst, nur dann und wann, bei allergrößter Verzweiflung.

      Nun fühlte sie, wie die Pulle ihre Hand abkühlte.

      »Was soll’s.«

      Mit geübtem Schwung setzte sie die Flasche wieder an.

      2

      Es klingelte etliche Male. Nach einer kurzen Pause hämmerte jemand mit den Fäusten gegen die Tür.

      Die Decke hing größtenteils auf den Boden gestrampelt von der Matratze, Palmer lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett, quer und alle viere von sich gestreckt, die nackten Füße über den Bettrand hinaus, als sie mühsam die verklebten Lider aufsperrte. Die linke Hüfte schmerzte, ihre Vernunft war gelähmt. Aber in den tiefsten Winkeln ihres Gehirns verstand sie: Drückt jemand die Glocke und klopft, dann wartet ein Mensch an der Tür und will zu dir.

      Shit. Wieso riefen die Leute nicht an, bevor sie vorbeikamen?

      Sie zog sich die Decke über den Kopf, am liebsten hätte sie weitergeschlafen. Als ihr dies aber auch nach etlichen Minuten nicht gelang, raffte sie sich auf, obwohl längst niemand mehr die Klingel drückte.

      Bezüglich Kater brachte Palmer einiges an Erfahrung mit. Da hatte sie schon Schlimmeres erlebt als heute. Dennoch dröhnte der Kopf, und sie hatte das Gefühl, keine Sekunde geschlafen zu haben. Geträumt hatte sie erst recht nicht, wahrscheinlich wegen des Alkohols, der dafür sorgte, dass man auf tieferer Ebene dämmerte, unterhalb jener, auf der Träume abliefen. Sie spürte, heute würde sie den ganzen Tag über ein oder zwei Schritte neben sich stehen, falls sie nichts dagegen unternahm.

      In der Küche warf sie zwei Aspirin ein, neigte ihren Kopf zum Spülbecken und schluckte direkt ab dem Hahn eine gehörige Portion Wasser. Dann genehmigte sie sich einen, nur einen einzigen, dafür großen Schluck Johnny. Dies war das Großartige: Nicht nur das Gift, sondern auch das Gegengift lieferte dieselbe Flasche. Endlich atmete sie tief ein und harrte mit angehaltenem Atem eine ganze Weile aus. Als sie endlich die Luft ausstieß, fühlte sie sich besser. Sie starrte auf den Rest Whiskey in der Flasche. Schließlich gab sie sich einen Ruck, zögerte, nahm einen entschlossenen letzten Schluck und leerte die Flasche in den Ausguss.

      Nachdem sie Sachen aus dem Schrank gesucht und ins Bad getragen hatte, schmiss Palmer die getragene Wäsche in die Maschine, wo die Shorts und Shirts anschließend flatschten und patschten, während sie unter der Dusche stand. Das kühle Nass perlte über ihre Haare, sie griff nach dem Limonenduschgel, und der frische Duft arbeitete gegen die Nebel in ihrem Kopf, während sie den Schaum auf sich verteilte. Dann stützte sie sich an der Wand ab und ließ den Wasserstrahl auf ihre Haut prasseln, bis sie sich annähernd wieder wie ein Mensch fühlte.

      Sie rubbelte den ganzen Körper trocken und betrachtete sich im Spiegel. Eine Nacht lang hatte sie das Gesicht im Bettzeug vergraben, jetzt zeichneten sich Falten der Textilien auf ihrer Wange ab, welche auch die ausführliche Dusche nicht ganz hatte beseitigen können. Bevor sie in Erwägung ziehen konnte, es mit einer Creme zu versuchen, griff sie zur Zahnbürste und schrubbte sich drei Minuten lang Zähne und Zunge, bis sie sicher war, auch den letzten Rest von Alkoholgeschmack und nächtlichem Absturz besiegt zu haben. Sie öffnete die kleine Tür des Spiegelschranks und wählte unter der ansehnlichen Armee von Mundwassern ihren treuesten Soldaten. Das Zeug brannte mehr als ein Stroh 80 auf Ex und war Palmers Allzweckwaffe für solche Fälle. Mit Zahnhygiene hatte sie einen Spleen. Okay, es gab schlimmere Angewohnheiten, wie sie letzte Nacht eindrücklich bewiesen hatte.

      Anschließend wickelte sie noch zwei Kaugummis aus dem Alu und schob sie in den Mund. Zwei, weil ihr gerade Zahlen viel ästhetischer schienen als ungerade. Sie zog sich ein Shirt über den Kopf. Erst auf dem einen, dann auf dem anderen Fuß hüpfend, schlüpfte sie in die sauberen Jeans. Kauend und mit tropfenden Haaren betrat sie die Terrasse und legte beide Hände auf das raue Holz der verwitterten Brüstung. Zum Schutz vor der Morgensonne kniff sie die Augen zusammen und hörte, wie das Wasser glucksend zwischen den Ufersteinen ans Ufer schlug. Ein letzter Rest feuchter Nachtluft strich kühl über ihre nackten Füße.

      Sie spürte einen Stich im Herzen, so sehr hatte sie sich auf den neuen Job gefreut. Die Bilder des Gesprächs mit diesem mittelschwer überheblichen Kerl kamen wieder hoch. Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr kam sie zu dem Schluss, dass sie von Anfang an keine Chance gehabt hatte. Dem Mann hatte wohl das eine oder andere an ihr nicht gepasst, irgendwas. Dass sie zwei Minuten zu spät gekommen war, hatte er dann zum Anlass genommen, ihr daraus eine Absage zu basteln. Wenn man länger darüber nachdachte, war es geradezu lächerlich. Er legte angeblich Wert darauf, dass man Wichtiges von Unwichtigem unterschied. Einem Menschen in Not zu helfen oder auf die Minute pünktlich zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen, da gab es eigentlich keinen Diskussionsbedarf. Eigentlich!

      Nach etlichen weiteren Momenten der vergeblichen Rückwärtsanalyse mit stets demselben Ergebnis klatschte sie beide Hände flach auf das Holz, zog hörbar die tanggeschwängerte Seeluft ein, marschierte ins Wohnzimmer, griff nach der Fernbedienung und fläzte sich aufs Sofa, nicht ohne ein unterschwelliges Gefühl von Versagen, das sich jetzt für Palmers Geschmack zu energisch meldete. Sie schob