NAKAM ODER DER 91. TAG. Claude-Oliver Rudolph

Читать онлайн.
Название NAKAM ODER DER 91. TAG
Автор произведения Claude-Oliver Rudolph
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783949217128



Скачать книгу

vorkommt (süffisantes Lachen), wird der Fehler einfach durch die Auslöschung des Trägers der betreffenden Nummer korrigiert und somit gutgemacht. Jeder Häftling trägt seine Nummer auf der linken Seite des Innenarms und auf dem rechten Schenkel. Auf der Jacke befindet sich die identische Nummer, direkt darunter ein Dreieck aus farbigem Stoff. Auf dem Dreieck die Nationalität des Häftlings, also F für Franzose, P für Polen, R für Russen usw. Arische Häftlinge tragen keinerlei Angaben der Nationalität. Die farbigen Dreiecke bedeuten rot – politische Gefangene, grün – kriminelle, schwarz – asoziale, rosa – meine ganz besonderen Freunde, (zum Arzt gewandt, der ihm mokant und hündisch zulächelt), violett – Bibelforscher, rot mit gelben Zacken – Juden, mit ihrem schmucken Davidstern besonders gut zu erkennen. N.N. – Nacht und Nebel, zum Tode Verurteilte.“

      Auf sein Zeichen erstirbt die Musik.

      „Jetzt wissen Sie, woran Sie sind, ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Kaunas. Suum cuique. Für die, die nicht Latein können: Jedem das Seine. Heil Hitler!“

      Aus 16.000 Kehlen hallt ihm ein „Heil Hitler“ entgegen.

      SS-Kommandant zu Lagerführer: „Hat mich etwas ermüdet, muss mich erst einmal ausruhen, ein wenig. Gibt es neue Judenweiber?“

      Lagerarzt wühlt aus der Masse einige der schönsten und gesündesten nackten Mädchen aus und die SS-Leute bedeuten ihnen mitzugehen. Nun kommen SS-Unteroffiziere vor die Reihen der Blöcke von etwa 90 Mann und schreien ihre Befehle. Wie ein unendlicher Kanon setzt sich die Schreiorgie im Hall des Echos bis zum letzten Mann fort.

      SS-Männer: „Frühstück fassen! In einer Reihe aufstellen zum Frühsport.“

      Gruppenweise richten sich die Gefangenen eines Blocks in einer Reihe aus.

      SS-Männer: „Auf alle viere!“

      Die Gruppen gehorchen ächzend und stöhnend.

      SS-Männer: „Zur Kaffeeverteilungsstelle auf allen vieren! Marsch!“

      Und die Karawane der Unglücklichen kriecht die 150 m zur Verteilungsstelle. Dort angekommen befehlen die SS-Männer: „Auf! Auf! Auf! Und zurück im Laufschritt! Marsch! Marsch!“ Und die Unglücklichen müssen im Zuckeltrab an ihren Ausgangspunkt zurück. Dort angekommen befehlen SS-Männer: „Und nun hüpfen wir alle zur Kaffeeverteilstelle. Abmarsch! Los!“

      Alle Kommandos sind selbstverständlich geschrien und von Schlägen begleitet. Als die Gefangenen endlich an der Verteilstelle angelangt sind, sieht Franz, was es als „Frühstück“ gibt: Schwarzes Wasser, das mit geschmolzenem Schnee gemacht wird, Brennnesselblätter, Runkelrüben, Suppe mit Kohlstrünken und Gemüseabfällen. Die Suppe ist schon so lange draußen, dass sie zu einem Eisblock gefroren ist. Sie wird mit Hackmessern portionsweise verteilt.

      Franz zu einem Mithäftling: „Wie soll ich die denn essen?“

      Kamerad: „Es ist verboten, ein Messer zu haben oder einen Löffel. Du musst sie halt so essen.“

      Er bricht mit den Händen eine Portion ab: „Und sie im Mund auftauen lassen. Siehst du?“

      Und er stopft sich den Brocken in den Mund.

      Franz tut es ihm nach, schaut sich um, versucht auf den Latrinensitzen zu essen. Von den Häftlingen haben einige einen Teller, die anderen einen abgeschnittenen Gasmaskenfilter oder wieder andere ganz verrostete Konservendosenbüchsen. Alle essen aus unvorstellbaren Gefäßen in unvorstellbarer Geschwindigkeit. Franz wird gleich sehen warum. Plötzlich bricht in diese scheinbar harmonische Situation eine dumpfe Sirene, die asthmatisch atmet. Die Gefangenen erheben sich und werden in Gruppen zum Abort geprügelt. Die Latrinen bestehen aus zwölf am Eingang der jeweiligen Baracken aufgestellten Holzkisten, deren Fassungsvermögen für die Bedürfnisse von 900 Menschen absolut unzureichend ist. Der herausrinnende und überlaufende Inhalt dieser improvisierten Aborte läuft den Flur entlang bis zu den Brettern, auf denen die Gefangenen schlafen. Trotzdem wird jeder, der sich vor den überlaufenden Latrinen ekelt, in die Gegend urinieren will, mit Knüppelschlägen bestraft. Franz sieht unglaubliche Dinge: Frauen, die mit Fehlgeburten niederkommen, wickeln die Neugeborenen in alte Zeitungsreste und werfen sie neben den ihr Geschäft Verrichtenden in den Graben unter dem Abort. Man muss immer nacheinander in den Abort gehen. Ein Aufseher, ein Kapo, steht vor der Tür und beginnt, sobald ein Gefangener die Tür hinter sich geschlossen hat, zu zählen. Er zählt bis zehn, dann reißt er die Tür auf. Und wer nicht fertig ist, kriegt mit dem Knüppel eins auf den Kopf. Manch einer fällt erschlagen in die Grube, anstatt den Abort zu verlassen. Das Hinausgehen wird von einem Kapo, also einem mit grünem Winkel kenntlich gemachten Berufsverbrecher, beschleunigt, der auf einem Fass steht und mit einem langen Knüppel auf die Hinausgehenden einschlägt. Genauso plötzlich, wie sie begonnen hat, erlischt die Sirene. Der Abort ist sofort zu verlassen.

      SS-Männer schreien und blasen auf Trillerpfeifen: „Abmarsch! Waschstunde!“

      900 Menschen werden mit Franz‘ Gruppe durch einen Raum geschleust, der Platz für höchstens 60 Menschen bietet. Das Waschen muss in dem gesamten KZ in höchstens einer Stunde vorüber sein. Wehe dem, wer nicht sofort nackt vor dem Wasserhahn steht. Ein Aufseher an der Tür treibt die Leute mit dem Gummiknüppel an. Das Wasser ist schmutzig und stinkt. Im Übrigen gibt es nur einen Wasserhahn, die meisten Häftlinge waschen sich daher nicht. Nach einer Weile pfeifen die SS-Männer wieder auf ihren Trillerpfeifen, und das Wasser versiegt augenblicklich.

      SS-Männer: „Abmarsch zur Sonntagshygiene. Tag zur freien Verfügung!“

      Franz soll noch sehen, was mit dieser lustigen Bemerkung bei vollständigem Mangel an Hygiene gemeint ist. Die Gefangenen treten in ihre Schlafbaracke. Da die Gefangenen zu viert oder zu fünft auf einem Strohsack eines Bettes liegen müssen, sind sie leichte Beute für typhusverbreitendes Ungeziefer aller Art. Also töten die Menschen am Sonntag Läuse. Aber nicht vereinzelt herumspringende, sondern 100 bis 200 Läuse pro Körper werden zerquetscht. Manche haben offene Füße, manche kratzen sich unaufhörlich. Die Flüssigkeit beim Läusetöten verteilt sich auf der Häftlingswäsche und gibt ihr alle Farben zwischen rot, braun und schwarz.

      Die Viecher sind so zahlreich, dass man sie nicht mehr loswerden kann. Körper und Köpfe sind zerbissen von Flöhen und Wanzen.

      Wenn ein Gefangener es fertigbringt, sich von Läusen frei zu machen, so bekommt er sie zwangsläufig immer wieder zu Hunderten durch die Decken zurück, also müssen sich Franz und die anderen trotz der Kälte und Feuchtigkeit vollständig entkleiden, um sich sorgfältig zu entlausen. Manche, die nicht mehr die Kraft oder den Willen dazu haben und sich seit Monaten nicht mehr ausgezogen haben, sind mit eitrigen Wunden, Ausschlägen und schwarzen Blattern bedeckt.

      Franz lässt sich auf die Lagerstatt fallen und beobachtet die Flöhe, die auf ihm herumspringen. Er schläft ein.

      Das ohrenbetäubende Schrillen der Trillerpfeifen drängt an sein Ohr, das ausgemergelte Gesicht einen älteren Mitgefangenen dicht über ihm. Er hält ihm ein Brot hin:

      „Hier Bub! Iss und versteck es in deiner Hose. Du bist noch jung, du musst noch wachsen.“

      Schwupp greift Franz das halbe Brot. Schwupp hat er es in seiner Hose verstaut. Beim Rausstolpern aus der Baracke duckt er sich vor den Schlägen der Kapos und rempelt mit einem kräftigen Burschen, auch mit Davidstern ungefähr in seinem Alter, zusammen. Ihre Augen treffen sich erst feindselig, dann aber nickt der Größere ihm zu. Sie kommen beim Morgenappell nebeneinander zu stehen.

      Franz flüstert ihm zu: „Ich habe ein halbes Brot!“

      Mikesch: „Brot? Zeig her!“

      „Hier, in meiner Hose.“ Nestelt und bricht Mikesch etwa die Hälfte davon ab.

      Ein SS-Offizier mit Megafon stellt sich auf ein Fass: „Heute Nacht ist einem der Aufseher ein Laib Bauernbrot gestohlen worden. Dieses Verhalten ist eines Insassen eines deutschen Ordnungslagers unwürdig und schädlich für das Großreich. Dieses Bauernbrot ist unverzüglich zurückzugeben. Wenn nicht, wird unbarmherzig durchgegriffen, um Anstand und Sitte aufrecht zu erhalten. Wer von Euch das Brot hat, trete hervor. Wer nicht, sagt laut und deutlich: Nein,