Herbarium, giftgrün. Gert Ueding

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Название Herbarium, giftgrün
Автор произведения Gert Ueding
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783520753915



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stemmten unter Ächzen und mit schweißdurchtränkten Trikots Gewichtstangen oder zogen schwere Blöcke zu sich herab. Kersting kam es so vor, als ob nicht sie die Maschinen lenkten, sondern die Maschinen ihnen jede Bewegung diktierten.

      Inzwischen hatte er allerdings eingesehen, dass ihm sein spontaner Einfall nicht den gewünschten Erfolg bringen würde. Nicht nur die Tattoo-Uniformen, auch die Frisuren verrieten auffälligen Corpsgeist: beinah jeder dieser Verrenkungskünstler hatte sich die Kopfseiten kahl rasieren und auf dem Kopf ein dichtes Haarbüschel stehen lassen, das jene Silhouette formte, wie er sie in der vorigen Nacht bei einem seiner Peiniger bemerkt hatte.

      Er ließ sich den Rest der Führung mit guter Miene gefallen. Was ihm nicht schwer fiel. Einige junge Frauen bemühten sich, es ihren Kombattanten möglichst gleich zu tun. Der Anblick gefiel ihm und war von einem leichten Frösteln begleitet, wenn er sich diese Verrenkungen in andere Situationen übertragen vorstellte.

      Als er sich verabschiedete, drückte ihm die hinter dem Tresen gebliebene Hostess einen Prospekt in die Hand.

      »Darin finden Sie alles, Kursprogramme, Öffnungszeiten, Kosten. Wenn Sie wollen, können wir gleich eine Probewoche vereinbaren. Dann wird einer unserer Trainer (sie wies auf den Kahlköpfigen, der inzwischen seinen Kaffee ausgetrunken hatte und in einem Magazin blätterte) Ihnen für ihre Wünsche ein Trainingsprogramm zusammenstellen.«

      Kersting überlegte einen Augenblick, ob er seine Suche auf diese Weise vertiefen sollte. Er hatte geradezu hautnah gespürt, was ihm fehlte, seit Christa ihn verlassen hatte. Doch war er vom Anblick der uniformierten Geräte-Artisten auch entmutigt. Er dankte, erbat sich Bedenkzeit, verließ, betont ernst und aufmerksam um sich blickend, die schweißtreibende Stätte und fuhr nach Hause.

      Auf der Staffelei wartete nun schon einige Tage das gerade erst begonnene Bild der Tübinger Neckarfront. Er hatte das Motiv ausgewählt, weil er aus diesem meistphotographierten und von Ansichtskarten und Prospekten völlig verschlissenen Ensemble etwas Neues machen, es so verfremden wollte, dass man seine Schönheit wieder wahrnehmen konnte. Als er das erste Mal in die Neckarstadt gekommen war, hatte ihn der Anblick beinah umgeworfen, diesen Moment vergaß er nie.

      Eine überzeugende Idee war ihm bisher nicht eingefallen, so dass ihm die Erinnerung an den geraubten Zettel mit der rätselhaften Botschaft als Ausrede gerade recht kam. Oder sollte er sich nicht gleich offen eingestehen, dass er höchst zufrieden war über die Störung mitten in seiner Arbeit? Als hätte er eine neue Begabung entdeckt, die ihn nicht bloß von der Staffelei fernhielt, sondern ihm andere Erfahrungen, neue Reize und Genüsse versprach, die ihm bislang unbekannt waren, aber seine Malerei durchaus bereichern könnten.

      Er schrieb sich die Zeilen aus Verenas Nachlass in sein Notizbuch. »Herbarium sidereum«, himmlisches Kräuterbuch, wo war ihm das schon einmal begegnet?

      Mit einem Male (er musste über sich selber lachen) wurde ihm bewusst, wie überflüssig diese Frage im Zeitalter der Computer und Suchdienste war. (Wieso war Müller-Riedel nicht auf dieselbe Idee gekommen?) Und wirklich, das lateinische Stichwort führte auf mehrere Treffer. Im Handbuch der Geschichte der Medizin fand er den Eintrag »Herbarium spirituale sidereum« und den Hinweis auf die Entsprechungslehre des Paracelsus: Jedem elementar körperlichen Gegenstand entspricht ein geistig himmlischer, hat von dorther seine Form – was eben auch für alle Heilkräuter, jede Arznei gilt.

      Aber was sollte das nun in diesem Falle bedeuten?

      In der Hoffnung, auf irgendeine Spur zu stoßen, nahm er sich die Zeitungsartikel vor, die er in der Universitätsbibliothek gesichtet und von denen er die wichtigsten mit dem Smartphone abphotographiert hatte. Darunter auch ein Interview mit einer Freundin der Toten. Er überflog noch einmal den Text, und fand gleich zu Beginn die Antwort auf die Frage, wann und wo sich die beiden kennengelernt hatten: »Das war im Sommersemester vor zwei Jahren, in einem Cusanus- Seminar, wir arbeiteten gemeinsam an einem Referat über die Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos …«

      Nun, aber was sollte diese Reminiszenz an eine vergangene Seminararbeit auf dem später gefundenen Zettel bedeuten, zudem offenbar verbunden mit der Bestätigung einer Verabredung? Und dann die Fortsetzung: »oder die Andere schreit und lärmt in allen Gassen«? Klang das nicht fast wie eine Drohung?

      Er richtete sich noch einmal an seinen Laptop und gab die Wendung ein. Nach einigen Fehlschlägen landete er beim Stichwort »Anderheit«, das für den Cusaner eine wichtige Kategorie gewesen war; und da, noch ein Treffer: sie kommt aus dem Nichts, diese Anderheit, hält es eben deshalb nicht bei sich aus, ein Vakuum, das nach Sein schreit und sich füllen will. Es ging der Schreiberin also darum, dem Adressaten ihrer Nachricht sehr eindringlich klar zu machen, wie lebenswichtig ihr Anliegen sei. Und sie musste damit gerechnet haben, dass der andere die verschlüsselte Botschaft auch verstand.

      Befriedigt lehnte sich Kersting zurück, musste sich aber bald eingestehen, dass er mit seinen Erklärungen nur scheinbar weitergekommen war. Im Gegenteil: das Ganze erschien ihm jetzt noch rätselhafter. Er suchte noch etwas herum, dann gab er es für diesmal auf.

      Mit ein paar Schritten war er am Regal mit seiner kleinen philosophischen Bibliothek und zog einen flachen Karton heraus. Er öffnete ihn, eine hölzerne Spielschale, etwa 30 Zentimeter im Durchmesser, mit nummerierten Außenfeldern kam zum Vorschein. Eine kleine Holzkugel und ein etwas kantiger Holzkreisel gehörten dazu. Wenn man Glück hat, befördert der Kreisel die Kugel in eines der äußeren Gewinnlöcher. Eine viertel Stunde spielte Kersting wie abgeschaltet von der Welt mit diesem Roulette, dann wendete er sich wieder der Staffelei zu. Immer noch gingen ihm die Begriffe und Cusanischen Ideen im Kopf herum: Anderheit, das Andere, das Chaos, das zum Baumaterial der Welt wird, die der Philosoph die »kleine Welt«, parvus mundus, genannt hatte. Wie von selber begann er, den Gedanken ins Bild und auf die kleine Leinwandwelt da vor sich auf der Staffelei zu übertragen, Mauern in halbfertige Quader und Fenster in pflanzliche Form zu verwandeln. Zufrieden war er dennoch nicht, holte den Kohlestift hervor und fing an zu skizzieren.

      Der Nachmittag verging im Nu. Erst als das schwindende Licht anfing, ihm Probleme zu bereiten, unterbrach er seine Arbeit und machte sich einen Imbiss. Die Tote aus dem Germanistik-Seminar und ihre Zettelhinterlassenschaft waren weit weggerückt.

      Max Kersting sollte höchst unsanft wieder an sie erinnert werden.

       3 Wir sind in Tübingen!

      Nach dem Abendimbiss hatte er sich die Tagesschau angesehen und musste in seinem Sessel einen Augenblick eingenickt sein, als er aus dem Erdgeschoss unter sich zwei Mal kurz hintereinander ein lautes Scheppern mit anschließendem Aufprall hörte. Er schreckte auf, sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, in die Küche, aus der die Geräusche gekommen waren. In beiden Fenstern ein großes Loch, auf der Arbeitsplatte und dem Boden die Scherben, dazwischen zwei große Steine, auf einem der beiden, mit Paketband festgeklebt, eine Spielzeugpistole. Draußen war es schon ziemlich dunkel, er hörte und sah niemanden. Die Straßenlaterne war immer noch defekt, obwohl er gestern deswegen bei der Stadtverwaltung angerufen hatte.

      Das hier war kein Streich dummer Jungen, sondern eine gezielte Aktion, eine Warnung an seine Adresse, daran zweifelte er nicht. Ob prophylaktisch als Verlängerung des gestrigen Überfalls? Oder ob es mit seinem Besuch im Fitness-Studio zusammenhing? Das erschien ihm zwar wenig wahrscheinlich; wäre doch ein zu großer Zufall gewesen, wenn wirklich einer seiner gestrigen Gegner Mitglied dieses Clubs, außerdem just anwesend gewesen war und ihn erkannt hätte. Aber ganz ausschließen konnte er das natürlich nicht.

      Diesmal allerdings wollte er die Polizei benachrichtigen. Die kleine Spielzeugpistole, ein symbolisches Ausrufezeichen gewissermaßen, beunruhigte ihn nun doch.

      Die beiden Beamten brauchten fast eine ganze Stunde von der Tübinger Adenauerstraße hinaus nach Unterjesingen. Sie waren noch jung, schienen kaum dem Schulalter entwachsen. Ein lang aufgeschossener Kerl mit etwas sauertöpfischem Gesicht und ein alert wirkender, mehr als einen Kopf kleinerer Kollege, der forsch nach dem »Tatort« fragte. Beide waren offenbar zunächst entschlossen, die Angelegenheit nicht ganz so dramatisch zu nehmen, wie sie ihm selber erschien. Erst als er nun