Herbarium, giftgrün. Gert Ueding

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Название Herbarium, giftgrün
Автор произведения Gert Ueding
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783520753915



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gerne mit ihm über sein Seminarthema vom letzten Semester unterhalten. Wir suchen einen Referenten über die Geschichte des Feminismus.«

      Kersting fiel es wegen seiner verletzten Lippe immer noch schwer, deutlich zu artikulieren. Buch schienen erst jetzt die Blessuren seines Gastes aufzufallen. Er musterte ihn jedenfalls genauer.

      »Wem sind Sie in die Quere geraten?«

      »Bloß meiner Haustür, aber das genügte. Die Sache ist eilig, deshalb bin ich trotzdem hier.«

      »Ob Sie da bei ihm an der richtigen Adresse sind? Der interessiert sich jetzt mehr für allerlei Elementargeister. Eine Mode, wie so vieles in unserer Wissenschaft. Auch wenn Sie der Titel seines letzten Seminars angelockt hat …«

      »Genau deshalb bin ich hier.«

      »Mit Feminismus in unserem Sinne hat das wenig zu tun.« Kersting spürte eine Spur von Geringschätzung im Tonfall, machte aber ein fragendes Gesicht.

      »Es ging viel mehr um so etwas wie die Chemie der Geschlechter, wenn Sie wissen, was ich meine – aber nehmen Sie doch Platz«, unterbrach er sich, wies auf einen Stuhl schräg vor seinem Schreibtisch, und setzte sich selber wieder nieder.

      »Ich glaube schon, dass ich weiß, worauf Sie hinauswollen. So etwas, wie Goethe es in den »Wahlverwandtschaften« thematisiert hat, nehme ich an.«

      »Das hat natürlich mit Feminismus nichts zu tun. Aber dessen Verfechter nehmen’s nicht so genau. Eine Kollegin behauptete, Paracelsus habe seine ganzen medizinischen Kenntnisse aus weiblicher Quelle und begründete das mit einem angeblichen Zitat: ›Alles, was ich weiß, weiß ich von weisen Frauen‹. Nirgendwo belegt, hat man ihm untergeschoben.« Buch begleitete seine Kritik mit einer wegwerfenden Handbewegung.

      »Erstaunliches Thema für das kurzatmige Studium, das man den Studenten heute zumutet. Ist das denn modulgerecht?«

      Kerstings Spott fiel auf fruchtbaren Boden. Buch kicherte. »Wenn man danach gehen wollte, gäbe es nur noch Kurse wie »Drama 1« oder »Drama 2« oder »Romantischer Roman 1« und so weiter, wie bei den Maschinenbauern. Aber etwas anderes wollen die Studenten, pardon, die Studierenden nicht. Schön wär’s ja, wenn unsere Studenten Studierende wären, aber studieren tun nur die wenigsten, die aber sammeln sich dann in Kursen über Paracelsus oder Niklaus von Flüe.«

      »Immerhin gibt es noch die, die nicht den Trampelpfad gehen.«

      »Eine ganz kleine Minderheit. Die meisten wollen billiges Grundwissen, leblos und breitgetreten. Dann werden sie möglichst schnell auf die Schüler losgelassen und lesen mit denen den »Wilhelm Tell« als Comic. Unsere didaktischen Kollegen finden das super und liefern noch das gute Gewissen dazu. In Sautters Seminar saßen sieben Teilnehmer, davon fünf Studentinnen.«

      Da hatte Kersting offenbar einen Nerv getroffen! Wie aber nun zu den Fragen kommen, die ihn interessierten?

      »Warum soviel Studentinnen?«

      »Einmal, weil sie prozentual in der Mehrheit sind. Aber sie sind auch hartnäckiger. Paracelsus lesen, ist nicht so einfach, man muss die Sprache regelrecht lernen. Dann aber begeistert sie einen, so kernig, so bildhaft, dagegen wirkt unser heutiges Deutsch wie eine Verfallssprache. Eine von Sautters Studentinnen wollte darüber ihre Doktorarbeit schreiben. Daraus wird nun nichts …«

      »Lust verloren?«

      »Nein, tot. Sie haben bestimmt vor ein paar Monaten darüber gelesen. Man fand sie tot im Gebäude nebenan.«

      »Ja, ich erinnere mich. War nicht die Todesursache rätselhaft?«

      »Meint jedenfalls die Polizei, oder verbreitet diese Meinung aus ermittlungstaktischen Gründen. Wie auch immer. Man wird schon wissen, woran sie gestorben ist! Auch junge Leute können schon mal an Herzversagen sterben, ganz natürlich.«

      »Sie schließen ein Verbrechen aus?«

      Kersting wollte ihn am Ball halten; vielleicht erfuhr er etwas über sein Zeitungswissen hinaus. Seine Hoffnung wurde aber gleich enttäuscht. Buch erwiderte lapidar: »Ich bin sicher« und riet ihm dann, sich im Sekretariat um einen Gesprächstermin bei Herrn Sautter zu bemühen.

      Als Kersting das Zimmer verließ, trat er in den immer noch leeren Flur, überlegte einen Augenblick, ob er vielleicht an Müller-Riedels Tür klopfen sollte, der auch hier oben sein Dienstzimmer hatte. Verzichtete dann darauf, da er mit der Aufgabe, die der ihm gestern zugeschanzt hatte, nicht weitergekommen war.

      Aber sein Besuch im Brechtbau sollte Kersting noch einen unvermuteten Erfolg bringen.

      Als er ins Erdgeschoss hinuntergefahren war und sich in der Eingangshalle aus etwas zerstreuter Neugier auf den Tischen umsah, die überall standen und mit Prospekten über Veranstaltungen, Zeitungsabos und Firmenanzeigen überfüllt waren, fiel ihm ein Faltblatt besonders ins Auge. Ein Fitness-Studio annoncierte darin Sonderkonditionen für Studenten. In der ersten Spalte ein Photo mit mehreren Trainerinnen und Trainern, von denen ihn das Bild eines jungen Mannes stutzen ließ. Es war die Frisur, die ihn aufmerksam machte: die Seiten des Kopfes kahlgeschoren, oben das Haar wie ein Vogelnest mit Gel geformt. So ähnlich (der Einfall kam ihm ganz unvermutet) hatte das James Bonds schwarze Gegnerin in einem der alten Filme schon getragen.

      Inzwischen war diese Frisur Mode geworden. Irgendeine Fußballergröße hatte sie populär gemacht. Am vorigen Abend hatte er zwar keinen seiner Angreifer erkennen können, doch trug zumindest der, der ihn niederschlug, eine Frisur wie diese – Kersting hatte das, am Boden liegend, sehen können, als sich die Silhouette des Schlägers einen Augenblick gegen den trotz der Wolken nicht ganz schwarzen Himmel abhob. Er nahm das Faltblatt mit und ging zu seinem Auto.

      Ein Blick auf die Uhr. In ein paar Minuten könnte er in der Weststadt im hier angezeigten Fitness-Studio sein.

      Der Laden unterschied sich nicht von anderen Etablissements dieser Art. Gleich nach dem Eingang der lange Tresen, hinter dem sich zwei junge Frauen angeregt über Tübinger Friseure unterhielten. Beide blond und mit trainierter Figur, in eng anliegende Trikots gekleidet, denen der Studioname aufgedruckt war, verrieten in Gestalt und Aussehen, dass sie das hier herrschende Körperbewusstsein auch anregend zu repräsentieren hatten. Neben ihnen ein untersetzter junger Mann mit glattrasiertem Schädel, der gerade aus der Kaffeemaschine seine Tasse füllte. Das Kaffee-Aroma überdeckte kaum die sonst herrschende Geruchsmischung aus Duftspray und Schweiß.

      Kersting fragte, ob er sich umsehen könne, er trüge sich mit dem Gedanken, seiner körperlichen Verfassung etwas auf die Sprünge zu helfen.

      Die etwas Ältere von den beiden maß ihn mit einem Blick, der im umgekehrten Falle sofort die feministische MeToo- Bewegung alarmiert hätte. Kein Zweifel, er gefiel ihr: mit seinem etwas dunklen Teint, dem freundlich-strahlenden Augenausdruck und der schlanken Figur. Sie erbot sich jedenfalls sofort, ihm die Trainingsräume zu zeigen. Der große saalartige, im Hintergrund etwas verwinkelte Raum stand voller Marterinstrumente, von deren teilweise weit in die Gegend krakenden Armen Lederschlingen herabhingen oder Gewichte baumelten, oder die sich bei näherem Zusehen als überdimensionale Fahrräder, Schlitten oder Laufbänder entpuppten. Ein Paradies für alle mittelalterlichen Hexenmeister oder Folterkünstler, von denen es ja wieder viele gab.

      Bei jeder Maschine erläuterte die Begleiterin Funktion und Aufgabe. Bauchmaschine (»Haben Sie ja nicht nötig!«), Bizeps- und Trizeps-Trainer, Rückendehner. Kersting musste sich gestehen, dass seine nachlässige Haltung und sein schlaksiger Gang durchaus ein korrigierendes Training vertragen könnten, ließ es sich aber dennoch nicht anmerken, dass ihn die Benutzer mehr interessierten als diese beeindruckenden Apparate. Er war enttäuscht, dass nicht mehr als ein Dutzend schwitzender Gestalten sich in dem reichhaltigen Angebot abmühten. Einer von ihnen stemmte ein Gewicht und stieß dabei Laute aus, die man sonst nur in zoologischen Gärten oder aus einschlägigen Hotelzimmern hören konnte.

      Auf seine Bemerkung hin erfuhr Kersting, dass die Mittagszeit von den meisten Mitgliedern gemieden wurde. Er hatte also die falsche Zeit erwischt.

      Sie gingen durch einen Bogengang in einen großen, seitlich angegliederten Raum, der vor allem der Muskelbildung