Da ist mehr, noch so viel mehr .... Andrea Volkelt

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Название Da ist mehr, noch so viel mehr ...
Автор произведения Andrea Volkelt
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783898019125



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übten und übten. Außerdem brachte sie mich dazu, sämtlichen Erwachsenen die Karten zu deuten. »Es geht um das Gefühl, das du bekommst und anschließend um die Umschreibung, also die richtigen Worte zu finden.« Bei unserer Abreise hatte mir die alte Dame wissend zugenickt, erinnerte ich mich wieder. Meine Neugierde war geweckt und ich erzählte Renate von meinem Interesse an diesen Karten.

      »Lass dir ein Set kommen. Da ist doch nichts verloren. Du kannst es zur Auswahl bestellen und falls es dir nicht gefällt, gibst du es wieder zurück.«

      Am nächsten Tag lag meine Lieferung im Büro. Es waren sechsunddreißig Karten mit verschiedenen Symbolen. Ein Anleitungsbuch lag bei, das die Zeichen erklärte und einige Legearten beschrieb. Das war ganz anders als damals mit den Rommeekarten. Ich klappte das Buch zu und sagte: »Na gut, da reicht die Mittagspause nicht, das alles zu begreifen. Ich nehme es mit nach Hause.«

      »Jep!« Renate hielt den Daumen hoch. Ein paar Tage später fragte sie nach, wie weit ich mit den Karten sei.

      »Ich übe schon an fiktiven Personen, die von mir Antworten erwarten«, erklärte ich kichernd.

      »Dann bring die Karten doch mal mit und ich stelle mich als Testperson zur Verfügung. Das macht doch nur Sinn, wenn du Rückmeldungen bekommst«, sagte sie. Damit war unsere Beschäftigung während der Mittagspause am nächsten Tag schon gesichert.

      »Zuerst mischst du die Karten und denkst entweder an dich und die Frage, die du gerne beantwortet haben möchtest, oder du versuchst an nichts zu denken, dann kommen Antworten auf ganz allgemeine Themen«, erklärte ich Renate.

      Ich gab ihr die Karten und sie mischte mit ernster Miene.

      »Wenn du soweit bist, legst du sie auf den Tisch und hebst den Stapel einmal ab. Anschließend übernehme ich.«

      Sie folgte meinen Vorgaben. Es sah aus, als zitterten ihre Hände beim Mischen. Aber ich war selbst aufgeregt.

      Endlich war sie soweit. Sie hob einen Stapel ab. Ich nahm die Karten auf und legte nach einer von mir ausgewählten Legetechnik alle aus. In vier Reihen war das Deck dann vor uns ausgebreitet. Ich suchte die Personenkarte. Für eine Frau ist es die Pik-Dame. Von ihr wird gedanklich ein Kreuz gezogen. Die Karten links, über, unter und rechts davon beschreiben die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.

      Ein paar Minuten brauchte ich zur Orientierung. Wichtig ist, eigene Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, sagte ich mir innerlich vor, damit die »Sprache der Karten« durchkommt. Alle Symbole und ihre Bedeutung hatte ich im Grunde zu Hause auswendig gelernt. Das fiel mir überhaupt nicht schwer. Schließlich denke ich oft in Bildern und diese Symbole bestanden ja im Wesentlichen aus Zeichnungen. Die aneinander gereihten Abbildungen erzeugten nun eine Kette von Erläuterungen, die ich mir augenblicklich in meinem Geist aufsagte. Einzelne Wörter ergaben keinen Sinn für die Situation, in der sich mein Gegenüber offenbar befand und was aus den Karten zu deuten war. Deshalb stellte ich mir Fragen, angefangen mit: Was soll das Haus für meine Fragestellerin bedeuten? Geht es um ihr privates Umfeld oder um das Gebäude selber? Dabei sah ich mir die umliegenden Karten genauer an. Und plötzlich begann mein Kopfkino. Wie ein kleiner Film, den ich vor meinem inneren Auge ablaufen sah. Die Story wurde sehr lebendig. Ich konnte meine Aufregung nicht mehr verbergen. Die Hitze stieg mir in den Kopf und ich spürte eine innere Euphorie. Dann legte ich los. Schließlich bestand die Herausforderung nun darin, die richtigen Worte für die Bilder und Gefühle zu finden. Alles zu beschreiben, damit Renate etwas damit anfangen konnte. Erst sprudelte es aus mir heraus. Dann bremste ich mich wieder und hielt mich an, sensibel die richtigen Worte zu finden, Hinweise zu geben, mit denen sie etwas anfangen konnte. Immer wieder hörte ich in mich hinein und fragte, in welcher Lebensphase diese Frau steckte. Ich fokussierte mich auf die Frage: Was ist wichtig für den momentanen Lebensweg? Was soll sie wissen? Unmittelbar folgten weitere Geistesblitze, die aus mir herausschossen und nachvollziehbare Zusammenhänge ergaben. Ich zügelte jedoch meinen Redefluss und beschrieb die weitere Deutung ruhiger.

      Ich sprach gerade über das Leben eines Menschen und plötzlich schaltete sich mein Verstand ein und tadelte mich. Das ist doch nicht Renate, von der du sprichst. Stimmt, so kannte ich meine Kollegin nicht. Mein Eindruck war jetzt, die Karten sprächen von einer mir völlig fremden Person. Ich sah von dem Kartendeck auf, schaute ihr in die Augen: »Keine Ahnung was das zu bedeuten hat, aber das bist ganz eindeutig nicht du.«

      Das funktioniert so nicht, grübelte ich und fuhr fort: »Soll ich weitermachen? Es ist, weil es so aus mir heraussprudelt und ich noch so viel dazu zu sagen hätte. Vielleicht tun wir einfach so, als wärst du eine fremde Frau, deren Situation ich gerade vor mir habe. Bist du damit einverstanden?«

      Mit einem Nicken gab sie mir die Erlaubnis und ich fuhr fort. Nach ungünstigen Vorkommnissen schloss ich ab: »Auch wenn das jetzt unlogisch klingt, aber eine Veränderung wird dafür sorgen, dass sich das Leben wieder leichter anfühlt und mit neuen Begegnungen ergeben sich neue Möglichkeiten. Sie werden besser, als du sie dir heute vorstellen kannst.« Ich lächelte erleichtert.

      Geduldig hörte Renate zu. Ich sah sie an, sie erwiderte mein Lächeln etwas gequält, oder bildete ich mir das ein? Die Mittagspause war ohnehin zu Ende, keine Zeit für mehr. Wir öffneten kurz die Fenster. Schnell und konzentriert erledigten wir die anstehenden Aufgaben und am Abend verabschiedete ich mich in den Urlaub.

      Drei Wochen später traf ich wieder im Büro ein. Renate wirkte verändert. Sie strahlte und erschien mir gelöster als zuvor. »Was ist denn mit dir los? Gibt es was Neues?«

      »Ja.« Die Lachfältchen um ihre Mundwinkel vertieften sich. »Das muss ich dir in der Pause erzählen. Ist ne längere Geschichte.«

      Was war nur während meines Urlaubs passiert? Hatte sie womöglich einen Heiratsantrag bekommen?

      »Los, wir gehen in den Park, damit wir ungestört reden können, ich bin so neugierig.«

      Der ganze Park war voll alter Eichen. Wir setzten uns auf eine Bank unter einer der größten. Was die Bäume alles erzählen könnten, dachte ich noch. Da fing Renate schon an: »Ich habe mein Leben grundlegend verändert, unmittelbar nachdem du die Karten gedeutet hast.«

      Entsetzt riss ich die Augen auf, sog die Luft tief ein und hielt den Atem an. Dann blies ich langsam den Atem durch die Lippen und wartete ab.

      »Es war lange schon fällig, ich konnte niemandem davon erzählen, weil ich mich geschämt habe. Was du mir gesagt hast, hat genau gestimmt, das war ich. Du hast meine Situation haargenau geschildert.«

      Ich glaube, mir wird schlecht, dachte ich, wollte etwas sagen und öffnete meinen Mund.

      Doch sie hob abwehrend die Hand. »Du hast von den Möglichkeiten gesprochen, die ich hätte, mein Leben wieder lebenswerter zu gestalten. Das hat mir dermaßen viel Kraft und Mut gegeben, dass ich diesen Schritt endlich gegangen bin. Jetzt ist alles gut.«

      Langsam löste ich den Blick von ihr. Ich senkte den Kopf, meine Schultern hingen runter. Ein ungutes Gefühl umgab mich. Darf ich durch meine Quasselei Leben verändern?, fragte ich mich und mir wurde richtig mulmig.

      »Warum sagst du denn nichts?« Renate beugte sich vor, um in mein Blickfeld zu gelangen. Sie sah mich fragend an und wartete auf eine Antwort.

      Langsam fand ich meine Stimme wieder. »Ich bin total verwirrt, muss ich gestehen. Nie hätte ich auch nur ansatzweise gedacht, dass es dich tatsächlich betrifft, und jetzt fühle ich mich gar nicht gut.«

      »Was hast du?«

      »Mir ist übel.«

      »Aber warum denn?«

      »Was habe ich mir nur dabei gedacht?« Tränen stiegen mir in die Augen. Das hatte ich nicht gewollt. »Jetzt bin ich verantwortlich. Ich habe Lebenswege verändert. Nie wieder lege ich jemandem die Karten!«

      Sie winkte ab. »Das siehst du völlig falsch. Du hast mich befreit. Ohne dich hätte ich den Mut und die Kraft nicht aufgebracht. Letztendlich habe ich doch die Entscheidung selber getroffen. Ich habe immer selbst die Wahl.« Aufmunternd nickte sie mir zu. »Du hast nicht gesagt, ich müsste