Название | Religionsgeschichte Anatoliens |
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Автор произведения | Manfred Hutter |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170269767 |
Durch den politischen Zusammenbruch des Hethiterreiches zu Beginn des 12. Jahrhunderts verschwinden auch flächendeckende überregionale politische Machtgefüge. Im Südosten (bis in den Norden des modernen Syrien ausgreifend) entfaltet sich mit Karkamiš ein größeres Machtzentrum, westlich davon schließen sich Kleinstaaten in Kilikien südlich des Taurusgebirges an, die zum lykischen Raum überleiten. An der Südwest- und Westküste mit dem Hinterland etablieren Lyder und Karer ihre politische Macht, während große Teile des ehemaligen Hethiterreiches in Zentralanatolien bis ins 1. Jahrtausend durch Phryger besiedelt sind, eine Bevölkerungsgruppe, die wohl bereits im späten 2. Jahrtausend vom Balkan kommend nach Anatolien eingewandert ist. Am Rande der heutigen Osttürkei und in großen Teilen des modernen Armenien und des Nordwestens vom Iran bilden vom 9. bis 7. Jahrhundert die Urartäer ein eigenes Machtzentrum. Diese oberflächliche Skizzierung der strukturellen Vielfalt des »politischen« Kleinasien des frühen 1. Jahrtausends macht deutlich, dass die kulturelle, politische und auch religiöse Situation jeweils eine eigenständige regionale Betrachtung erfordert.
Dabei sind immer wieder die Wechselwirkungen und der Kontakt zwischen diesen genannten Gebieten Kleinasiens zu berücksichtigen, aber auch der »gebende und nehmende« Kulturkontakt nach außen – d. h. einerseits in den nordsyrisch-aramäischen sowie in den obermesopotamisch-assyrischen Raum, andererseits entlang der Süd- und Südwestküste auch der maritime Kontakt zur Ägäis sowie zu jenen griechischen Siedlern, die ab der mykenischen Zeit Handelsniederlassungen oder Kolonien in Küstennähe errichtet hatten. Somit steht die Religionsgeschichte Anatoliens immer im Austausch mit politischen und kulturellen Strömungen in solchen Kontaktzonen.
1 Quellenvielfalt und Varietät
Die umfangreichste schriftliche Überlieferung stammt aus dem Hethiterreich. Diese Texte sind in einer in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts v.u.Z. aus Nordsyrien übernommenen Keilschrift geschrieben, wobei bislang rund 30.000 Bruchstücke seit 1906 gefunden wurden; wegen der Möglichkeit, einzelne Fragmente zu einem größeren Textstück zusammenzufügen, bzw. wegen laufender Neufunde liefert diese Zahl lediglich eine allgemeine Orientierung über den Umfang des Textcorpus. Der wichtigste Fundort, von dem die überwältigende Mehrheit der Textfunde aus Ausgrabungen stammt, ist Boğazkale (die hethitische Hauptstadt Ḫattuša). Auch von anderen Fundorten wie Alaca Höyük (Identifizierung mit einem hethitischen Ort ist umstritten, eventuell Arinna?), Maşat Höyük (Tapikka), Kuşaklı (Šarišša), Kayalıpınar (Šamuḫa), Oymaağaç Höyük (Nerik), Ortaköy (Šapinuwa) oder Büklükale gibt es Texte in unterschiedlich großer Zahl.2 Eine geringe Anzahl von hethitischen Texten stammt von Orten in Nordsyrien, so etwa aus Ugarit oder Emar. Diese schriftliche Überlieferung umfasst einen Zeitraum von rund vier Jahrhunderten, nämlich von der Zeit Ḫattušilis I. in der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Untergang des hethitischen Großreiches zu Beginn des 12. Jahrhunderts. In neuerer Zeit hat Theo van den Hout sich für eine spätere Datierung ausgesprochen, derzufolge die Verschriftlichung hethitischer Texte erst im 15. Jahrhundert im großen Umfang eingesetzt habe.3
Die Texte des 2. Jahrtausends – in hethitischer, altassyrischer, hattischer, hurritischer, palaischer und luwischer Sprache – sind in Varianten der Keilschrift geschrieben.4 Die am besten bezeugte Sprache ist das so genannte Hethitische,5 eine frühe indogermanische Sprache, die bereits ein Jahrzehnt nach dem Beginn der Ausgrabungen in Boğazkale entziffert werden konnte. Quantitativ am besten vertreten sind Texte mit religiösen Inhalten, so etwa ausführliche Beschreibungen von Festabläufen und Opfergaben sowie Texte zur Organisation von Festen und Kultorten, ferner Ritualtexte und Orakelprotokolle. Ebenfalls dem religiösen Bereich kann man Texte mythologischen Inhalts, Gebete und Gelübde zuordnen. Dazu kommen – unter inhaltlichem Aspekt – Verwaltungstexte bzw. Verträge, diplomatische Korrespondenz, Erlässe und Gesetze sowie umfangreiche historiographische Texte.6 Insgesamt kann man die meisten hethitischen Texte als »Überlieferungsliteratur«7 verstehen, d. h. es ist das, was über einen längeren Zeitraum tradiert worden ist. Somit können wir nicht von »Autoren«8 im engeren Sinn sprechen, da die Texte in der Überlieferung durch viele Hände im »Schreiberkollektiv« des »Schreiberhauses« (sumerographisch: É.DUB.BA.A) gegangen sein können. Bezüglich der Aufbewahrung und des Interesses an der Überlieferung hethitischer Texte ist erwähnenswert, dass man das hethitische Schrifttum in zwei Gruppen einteilen kann: Texte, die in Inventartexten verzeichnet sind und von denen – fast immer – mehrere Exemplare erhalten geblieben sind, sowie jene Texte, die nur jeweils in einem Exemplar bekannt sind. Theo van den Hout liefert etwa folgende große Verteilung der Texte entsprechend den beiden Gruppen:9
A) Texts with duplicates: historiography, treaties, edicts, instructions, laws; celestial oracle theory; hymns and prayers; festivals; rituals; mythology (Anatolian and non-Anatolian); Hattic, Palaic, Luwian, Hurrian texts; lexical lists; Sumerian and Akkadian compositions.
B) ›unica‹: letters; title deeds; hippological texts; court depositions; non-celestial oracle theory and oracle practice; vows; administrative texts.
Texte, die man der Gruppe A zuweisen kann, sind dabei präskriptiv, d. h. ihre Überlieferung soll dazu dienen, »Überlieferungswissen« zu bewahren, Anweisungen für kultische Vorgehen zu liefern oder Grundlagen für die hethitische Gesellschaft festzuschreiben. Texte aus Gruppe B hingegen sind deskriptiv und meist nur in einem einzigen Exemplar vorhanden, da sie sich auf einen jeweiligen Einzelanlass beziehen.10 Für die Bewertung des hethitischen Umgangs mit Tradition kann man daraus auch ableiten, dass die präskriptiven Texte der Gruppe A für eine längere Überlieferung (und für eine Förderung des »kulturellen Gedächtnisses«) vorgesehen sind, weshalb der Bestand dieser Texte auch in Inventar- bzw. Katalogtexten verzeichnet wurde. Dieses aufbewahrenswerte Überlieferungsgut wurde in Bibliotheken gesammelt, während die deskriptiven Texte der Gruppe B lediglich vorübergehend in Archivräumen aufbewahrt blieben.11
Einige Anthologien zu Texten des Alten Orients machen inzwischen eine Vielzahl von hethitischen Texten auch für Nicht-Hethitologen in zuverlässigen Übersetzungen zugänglich. Wichtige Texte wurden in der durch Otto Kaiser begründeten Reihe »Texte aus der Umwelt des Alten Testaments« (TUAT), die zwischen 1982 und 2001 mit insgesamt drei Bänden und einer Ergänzungslieferung erschienen ist, sowie in der von Bernd Janowski und Gernot Wilhelm bzw. Daniel Schwemer herausgegebenen »Neuen Folge« dieser Reihe (TUAT.NF) mit neun Bänden zwischen 2004 und 2020 in deutscher Übersetzung vorgelegt. Das Spektrum der darin aufgenommenen hethitischen Texte erstreckt sich über alle Genres des hethitischen Textcorpus, so dass der Leser anhand dieser Übersetzungsbände einen leichten Zugang zu repräsentativen Texten für alle Bereiche der hethitischen Kultur erhält. Ein englischsprachiges, aber weniger umfangreiches Pendant zu diesen Bänden stellt die von William W. Hallo und K. Lawson Younger herausgegebene vierbändige Sammlung »The Context of Scripture« (CoS; 1997–2017) dar. Auch hier findet man ausgewählte hethitische Texte aller Textgenres (Mythen, Gebete, Beschwörungen, Historiographie, juridische und administrative Texte, Briefe). In monographischer Form – mit Einleitung und reichhaltigen Anmerkungen – erschließt die Reihe »Writings from the Ancient World« hethitische Texte für einen größeren Leserkreis. Bislang sind folgende Bände erschienen:12 Hethitische Staatsverträge und Texte der Diplomatie, Mythologie, Hymnen und Gebete, Briefe, die so genannten Aḫḫiyawa-Texte, Instruktionen und Dienstanweisungen sowie eine Zusammenstellung von Kultinventartexten. Anhand solcher Übersetzungsserien13 erschließt sich die hethitische Überlieferung nunmehr auch leicht den Vertretern von Nachbardisziplinen.
Auch wenn das Hethitische die am besten bezeugte Sprache Kleinasiens ist, so weisen zwei Textcorpora in unterschiedlicher Weise in die Zeit vor der Etablierung der politischen Macht der Hethiter. Rund 23.000 Tontafeln, hauptsächlich Briefe und Wirtschaftsurkunden, sind in altassyrischer Sprache überliefert.14 Sie stammen aus den assyrischen Handelsniederlassungen (kārum) in Anatolien, v. a. in Kaneš