Hochzeitsreise nach Riva. Gerhard Gaedke

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Название Hochzeitsreise nach Riva
Автор произведения Gerhard Gaedke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701181162



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und Erich, jung vermählt. Mit einem Roller an den Gardasee, 1960. Sie ließ sich mit dem Buch in ihr Sofa fallen und begann die Zusammenfassung zu lesen.

      Rita, blond gelockt, lebenslustig und unbeschwert, Verkäuferin in einem Schuhgeschäft, und Erich, junger Ingenieur, Pfeifenraucher und leidenschaftlicher Tänzer, einen Nichttänzer hätte Rita nie genommen. Der liebste Tanz: ein Tango.

      Dabei fiel Elise dieser Satz ein, den ich ihr einmal bei einem Tanz ins Ohr geflüstert hatte: Tango sei das vertikale Vorspiel für das Horizontale. Ich erinnere mich an Zeit und Ort.

      Also Rita und Erich auf der Hochzeitsreise. Von Salzburg, dort hatte man geheiratet und sich eine Nacht in der Blauen Gans geleistet, nach Riva. Mit kleinem Gepäck.

      Elise lachte leise. Schade, habe sie gedacht, mit einem Liebhaber und geringem Gepäck, vielleicht mit einer Vespa an den Gardasee. Nicht auf der Autobahn. Auf Nebenstraßen, stehenbleiben, wo man will, an einem Bach, auf einer Passhöhe, sich in einem kleinen Ort ein Zimmer suchen, eine Polsterschlacht, sich hemmungslos lieben. Jean sei ihr dabei wieder eingefallen, ihr letzter Liebhaber. Und plötzlich war sie weit weg und eingeschlafen.

      Vom Kaffeeduft war sie wachgeworden. Eine Tasse Kaffee stand neben ihrem Tischchen. Signora Carla lächelte sie an. Das Buch in ihren Händen, sagte sie, das lesen alle Gäste gerne. Eine süße Geschichte. Elise nickte.

      Beim Weiterblättern fiel eine Visitenkarte heraus. Tillman Schneider. Elise dachte sofort an Tilman Riemenschneider, an diesen deutschen Bildschnitzer und Bildhauer. Eine Wiener Adresse. Signora Carla, die sich neben sie gesetzt hatte, nahm die Karte in die Hand. Ein netter Gast, sagte sie, groß, dunkelblond, höflich, noch nicht 50. Zwei Nächte, so weit sie sich erinnere. Auf der Durchreise nach Paris. Er habe seine Wiener Wohnung einem Ehepaar aus Paris überlassen und sie ihm dafür dort ihr Domizil. Das komme jetzt öfters vor. Und er, der Durchreisende, wollte lieber mit dem Auto fahren, er habe ihr auch gestanden, Flugangst zu haben. Dabei lächelte sie wieder. Und er habe sich für den Buchtipp bedankt. Und es fiel ihr ein, dass er mit einem dunkelblauen Saab Cabrio unterwegs gewesen sei.

      Elise trank den Kaffee und sah dabei hinaus auf die Bäume im Garten, die sich im Wind bewegten. In einigen Wochen würde sie wieder in Wien sein, dann könnte sie ihn, diesen Tillman Schneider, anrufen. Tausche Wohnung in Vaduz mit ihrer in Wien. Für eine Woche oder zwei. Vielleicht würde sich der Glücksfall Jean wiederholen. Ein Mann, der eine so süße Liebesgeschichte wie die von Rita und Erich liest, Flugangst hat und mit einem betagten Cabrio fährt, der kann kein Macho sein. Der hat Gefühl. Und dazu noch groß und dunkelblond und höflich. Sie erinnerte sich an die Worte der Hotelbesitzerin. Diese Gedanken machten sie froh. Vielleicht mit diesem Tillman Schneider und seinem Cabrio statt mit dem Roller an den Gardasee? Etwas in ihr hatte Fahrt aufgenommen. Sie nahm sich vor, Signora Carla über diesen Tillman näher zu befragen.

      Ich unterbrach Elise bei ihren Schilderungen und sprach sie auf den Namen Schneider an, ich hatte ihn vorher auf dem Buch gelesen.

      Ich möge ihr bitte nicht vorgreifen, sagte Elise.

      Beim Frühstück also ergab sich dann die Gelegenheit, Signora Carla zu fragen, was dieser Tillman Schneider beruflich mache.

      Soweit sie sich erinnern könne, habe er von seiner Tätigkeit als Kinderbuchillustrator und Fotograf berichtet. Er habe einfach einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen. Vielleicht auch, weil sie die Österreicher liebe. Die Männer, ergänzte sie mit einem Augenzwinkern.

      Um ihre Gedanken wieder zu beruhigen, las sie im Buch. Die beiden, Rita und Erich, 1960 mit einem Puch-Roller rund um den Gardasee. Das erste Mal in ihrem jungen Leben, sie 27, er 30, sie sehen Olivenbäume, Oleander, Pinien, Steineichen und Aleppokiefern, erfreuen sich am Lärm der Zikaden und genießen das Fremdländische, die Sprache, die Kellner, nicht einfach Eis, nein Gelato, nicht Liebe, sondern Amore.

      Amore, wiederholte sie und dachte nach, wann sich die nächste Gelegenheit ergeben würde, diesen Tillman Schneider kennenzulernen. Irgendein Schriftstück war doch sicher von einem Stifter im Original zu unterfertigen oder irgendeine Transaktion müsste in den nächsten Wochen in Wien abzuwickeln sein. Dabei dachte sie an einen Stein, der, ins Wasser geworfen, viele Kreise zieht.

      Der Spaziergang am nächsten Tag fiel kurz aus, es regnete ihr zu stark. Sie verkroch sich nach dem Essen wieder auf ihre Couch, trank schon am frühen Nachmittag ein Glas Rotwein und las in ihrem Buch.

      Erich schlug Rita vor, für die letzten beiden Tage nach Venedig zu fahren. Rita fiel ihm um den Hals. Sie hatte sich nicht getraut, ihm das vorzuschlagen. Sie fanden ein kleines Zimmer in der Nähe der Kirche am Campo S. Angelo. In der Kirche warfen sie einige Lire in den Opferstock und zündeten zwei Kerzen an. Für wen?, fragten sie. Sie sahen sich an und dann beschlossen sie, jeder eine für den anderen. Und sie küssten sich vor dem Bildnis der Heiligen Maria.

      Im Café am Campo San Polo tranken sie Kaffee. Ewig hier leben?, fragten sie sich. Und beide nickten. Rita zeigte dann in die Auslage eines Murano-Glasgeschäftes. Den kleinen blauen Fisch-Anstecker. Bitte! Und Erich erfüllte ihr den Wunsch. Und am Abend, bitte, sagte Rita, einmal Spaghetti vongole und dazu Vino biancho. Sie bummelten durch den Stadtteil Dorsoduro, Rita zeigte auf das Restaurant Ai Gondolieri. Glaubst du, dass wir uns das leisten können?, dabei sah sie Erich an.

      Erich kramte in seiner Brieftasche und nickte.

      Augenblicklich habe sie sich dann entschlossen, nach Venedig zu fahren, und auf den Spuren der beiden durch Venedig zu bummeln. Auch sie hatte noch zwei Tage Urlaub.

      Sie überlegte, ob sie das Buch einfach mitnehmen sollte, das hieße stehlen. Sie entschied sich dagegen. Und fragte. Und bekam es in Seidenpapier eingewickelt mit. Wenn Sie diesen Tillman Schneider in Wien treffen, dann schreiben Sie mir, sagte Signora Carla. Sie dürfte eine lebenserfahrene Frau gewesen sein, die dieses von Elise anscheinend zu wenig unterdrückte Verlangen mitbekommen hatte.

      In der Nähe des Campo San Angelo fand sie ein kleines Hotel. Sie öffnete die Balkontüren und sah hinunter auf eine der vielen Brücken, die über die Kanäle Venedigs führen. Da standen zwei, die sich umarmten, und sie dachte dabei an Erich und Rita. In einem Café am Campo San Polo trank sie einen Kaffee, nur abends fand sie im Stadtteil Dorsoduro nicht das Restaurant der beiden. Sie nahm in der Cantinone del Vino zwei Cicchetti zu sich – das hatte sie sich gemerkt. Und nahm Abschied von Venedig und Erich und Rita.

      Vier Wochen später saß sie tatsächlich im Zug nach Wien. Und las noch einmal Hochzeitsreise nach Riva. Es hatte für sie die Wirkung einer Droge. In Wien angekommen rief sie diesen Tillman Schneider an und war überrascht, dass sie sich auf das Gespräch nicht besser vorbereitet hatte. Hallo, ja, in aller Kürze, es gehe auch um seine Wohnung in Wien, Wohnungstausch.

      Dann seine Stimme. Die war anders als alle, die sie Männern zuordnen konnte. Nicht Heinz, nicht Georg, nicht Franz, am ehesten Jean, aber da verfälschte ja das Französische. Am ehesten diesen Schriftsteller Humbert Fink, sie war ein Fan von ihm, wenn er im Radio seine Reiseberichte las. Der hatte diese ruhige, bemerkenswerte Stimme.

      Kurz also erwähnte sie noch Riva und dieses Buch über die Hochzeitsreise.

      Ja, er erinnere sich. Er bedaure, aber er müsse zu einer Buchpräsentation. Er sei in Eile. Kommen Sie doch auch ins Café Landtmann, am Ring. In einer Stunde.

      Eine Stunde, dachte sie. Nicht einmal noch ausgepackt hatte sie, war ungeduscht, innerlich aufgewühlt und äußerlich zerknittert. Mama, rief sie, du bist die beste Mutter der Welt, aber das Essen muss jetzt warten. Sie werde ihr später alles erklären, sagte sie, während sie in ihrem Koffer wühlte. Rock und Bluse, darüber den roten Blazer und die flachen Schwarzen? Das blaue Kleid von Bogner und die Perlenkette? Sie entschied sich für die dunkelgraue Hose und den hellgrauen Rollkragenpullover, aus Kaschmir, und die neuen Sneakers von Hogan.

      Mama hatte sie dabei beobachtet. Und während sie sich in eine leichte Duftwolke hüllte, den Duft hatte sie sich in Paris gekauft, nein, Jean, hielt die Mutter ihr den Regenmantel und einen Schirm hin. Es regnet und unten wartet das Taxi. Und mach keine Dummheiten!, rief sie ihr ins Stiegenhaus nach. Sie sei 38, rief sie zurück, aber Mutter bleibt Mutter, diesen Satz formulierte Elise aber nur leise.