Eine Prise Magie (Bd. 1). Michelle Harrison

Читать онлайн.
Название Eine Prise Magie (Bd. 1)
Автор произведения Michelle Harrison
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783961775446



Скачать книгу

hierher mitzunehmen war dumm und unverantwortlich. Da hätte alles Mögliche passieren können!«

      »Genau«, zischte Betty. Sie schob das nagende Gefühl der Scham beiseite. Jetzt, wo sie angefangen hatte, musste sie weiterreden. »Womöglich hätten wir sogar Spaß gehabt.«

      Granny ignorierte sie und zog ihr Tuch fester um den Körper. Dann bohrte sie einen Finger zwischen Bettys Schultern und schob sie vor sich her die Gasse entlang. »Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen, Betty Widdershins. Ich dachte, ich könnte dir vertrauen, aber da habe ich mich wohl getäuscht.«

      »Das ist nicht fair!« Bettys Stimme klang jetzt laut durch die Nacht. »Gut, ich hätte das nicht hinter deinem Rücken machen sollen. Komm schon, Granny! Ein klein bisschen Freiheit zu wollen – das ist doch kein Verbrechen, und du weißt, ich würde nie zulassen, dass Charlie etwas zustößt …«

      »Das denkst du«, warf Granny ein. »Aber du bist dreizehn Jahre alt! Du weißt nichts von der Welt. Es gibt so vieles da draußen, das euch zustoßen könnte – Dinge, von denen du nichts weißt …«

      »Ich werde auch nie darüber Bescheid wissen, wenn du mich nicht lässt.« Betty sprach jetzt ganz ruhig, doch mit so viel Trotz, wie sie es wagte. Grannys grimmige Art reichte normalerweise bereits, um sie von frechen Widerworten abzubringen, und dazu kam das Gefühl, nicht noch eine größere Belastung sein zu wollen als ohnehin schon. Und trotzdem: Genug war genug. Sie wartete auf den üblichen Protest ihrer Großmutter, die üblichen Versprechungen, mit den Mädchen Ausflüge oder Urlaubsreisen zu unternehmen – aber diesmal schwieg Granny. Sie sah jetzt furchtbar müde aus und noch älter als sonst.

      Das schlechte Gewissen saß wie ein Kloß in Bettys Hals. Granny war immerhin diejenige gewesen, die sich um Betty und ihre Schwestern gekümmert hatte. Wenn sie nicht da gewesen wäre, um sie aufzunehmen, wären die Mädchen im Waisenhaus gelandet oder, schlimmer noch, getrennt worden und bei Fremden untergebracht. Sie schob den Gedanken beiseite. Dankbar zu sein sollte sie nicht davon abhalten, Antworten zu verlangen. »Du sagst, du kannst mir jetzt nicht mehr vertrauen, aber du hast mir noch nie vertraut – zumindest nicht, wenn es darum ging, sich aus Krähenstein wegzubewegen.«

      Granny stampfte über das Kopfsteinpflaster. »Hör auf, Betty. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt oder der richtige Ort.« Sie ging schnellen Schrittes weiter. Mit der einen Hand hielt sie ihr Tuch fest, in der anderen trug sie die Reisetasche.

      Betty griff nach Charlies Hand und eilte Granny hinterher, entschlossen, sich nicht so schnell abwimmeln zu lassen. »Wie hast du herausgefunden, wo wir sind?«

      »Das Flugblatt«, sagte Granny knapp.

      Am Nachmittag war Betty das Flugblatt aus der Manteltasche gefallen, und Fliss hatte es stirnrunzelnd aufgehoben.

      »Was ist denn das? Ein Halloween-Jahrmarkt in Marschweiler?«

      »Oh«, hatte Betty mit klopfendem Herzen gesagt. »Ich hab gefragt, ob wir da hingehen können, aber Granny hat natürlich Nein gesagt.«

      »Natürlich«, hatte Fliss wiederholt und das Flugblatt einen Augenblick zu lang in der Hand gehalten.

      »Dann hat Fliss uns also verpfiffen?«, fragte Betty, kochend vor Wut. »Oder hat sie das Flugblatt absichtlich rumliegen lassen, damit du es findest?«

      Granny wich der Frage aus. Sie beugte sich kurz hinunter, um einen Strumpf hochzuziehen, und sagte nur: »Es ist ein Glück, dass ihr eure Spuren nicht besser verwischt habt.«

      »Ein Glück?« Betty blieb mitten auf der Straße stehen. Als Glück empfand sie es nun wirklich nicht, dass Granny ihr Abenteuer durchkreuzt hatte. Wieso wollte Fliss der täglichen Schinderei nicht ebenso entkommen wie sie, und warum schien es sie nicht mehr zu stören, dass Granny sie ständig kontrollierte?

      Granny blieb ebenfalls stehen und schimpfte: »Hört auf zu trödeln!«

      »Komm schon, Betty«, bettelte Charlie. »Mir ist kalt!«

      Betty ließ die Hand ihrer Schwester los und ballte ihre eigene langsam zur Faust. Das Flugblatt für den Halloween-Jahrmarkt mitzunehmen war leichtsinnig gewesen, und jetzt würde es schwieriger werden als je zuvor, irgendwelche geheimen Ausflüge zu planen, denn Granny würde sie von nun an auf Schritt und Tritt bewachen. Aber Pläne würde sie trotzdem schmieden, und nächstes Mal würde sie keinen Fehler machen. Ach was, nächstes Mal würde sie vielleicht gar nicht mehr zurückkommen.

      Schritte klangen durch die Stille, als Granny sie überholte und plötzlich vor ihr stand.

      »Hör auf zu schmollen. Und ich will keinen Streit, wenn wir zurückkommen. Fliss hat absolut keine Schuld an dieser Sache.«

      »Nein.« Betty lockerte ihre Fäuste. »Du hast Schuld.«

      »Wie bitte?«, fragte Granny. Ihre gedämpfte Stimme klang unheimlich, doch Betty ließ nicht locker. All ihr aufgestauter Ärger, all ihre Enttäuschung und die vielen Ermahnungen, immer in der Nähe von zu Hause zu bleiben, die Art, wie Fliss sie in letzter Zeit ausgeschlossen hatte – all das brach aus ihr heraus.

      »Früher wollte Fliss auch Abenteuer erleben, so wie ich«, sagte Betty. Sie zog sich die Maske vom Gesicht, und die kalte Luft traf auf ihre Wangen. »Sie hat immer von all den Orten gesprochen, die sie sehen wollte … aber jetzt nicht mehr. Dabei ist sie sechzehn! Sie sollte überall hingehen dürfen. Dass sie aufgegeben hat, ist allein deine Schuld.«

      Da wich auf einmal die Wut aus Granny, und sie schien in ihrer Kleidung zusammenzuschrumpfen. »Das ist nicht gerecht.«

      »Nein, das ist es nicht.« Tränen brannten in Bettys Augen. »All deine Geschichten und das ständige Was-wäre-wenn haben Fliss entmutigt. Du hast ihr die Abenteuerlust ausgetrieben. Ich werde nicht zulassen, dass mir oder Charlie das auch passiert.«

      Granny schüttelte den Kopf, und es sah aus, als würde sie selbst auseinanderfallen wie die Haarsträhnen, die sich aus ihrem Knoten lösten. »So ist es nicht.«

      »Dann erklär es mir«, sagte Betty und konnte selbst kaum glauben, welche Worte da aus ihr herausplatzten. »Warum all die gebrochenen Versprechen und Ausreden? Du tust immer so knallhart, aber vielleicht bist du ja diejenige, die Angst hat, Krähenstein zu verlassen!«

      Granny wich Bettys Blick aus und sah zu Boden. »Wir waren schon oft woanders. Du warst nur zu klein, um dich zu erinnern.«

      »Das glaube ich dir nicht«, sagte Betty. Ihre Stimme wurde fester, als sie sich ihrer Sache sicherer wurde. Jetzt, wo sie richtig darüber nachdachte, war schon immer etwas Merkwürdiges daran gewesen, dass Granny sie nie irgendwo hingehen ließ. Und ihr Griff schien nicht lockerer zu werden, je älter die Mädchen wurden – im Gegenteil. Es fühlte sich einfach alles falsch an. »Ich müsste mich doch an etwas erinnern können, zum Beispiel an besondere Ausflüge. Aber da ist nichts!«

      Granny schwieg.

      »Betty«, wisperte Charlie. »Bitte hör auf. Ich will nach Hause.«

      »Warum?«, fragte Betty verbittert. »Wozu die Eile? Zu Hause sind wir doch schließlich immer!« Sie fuchtelte mit dem Finger in Richtung des Gefängnisses. »Wir sind auch nicht besser dran als die Gefangenen da drinnen.« Wütend ließ sie ihren Blick durch die kleinen, verwinkelten Gassen streifen. »Es mag vielleicht nicht heute Abend passieren, aber ich werde diesem Ort entkommen. Es gibt noch mehr im Leben als Krähenstein.«

      »Nein, gibt es nicht«, sagte Granny mit gequältem Blick. »Es gibt keinen Weg aus diesem Ort. Nicht für uns.« Ihre Worte waren wie kleine scharfe Nadelspitzen. Charlie begann zu weinen.

      »N-nicht für uns?«, wiederholte Betty. Bestimmt versuchte Granny nur wieder, sie einzuschüchtern. Warum sollten sie Krähenstein nicht verlassen können?

      »Bist du sicher, dass du bereit für die Wahrheit bist?«, fragte Granny niedergeschlagen.

      Betty erwiderte hilflos ihren starren Blick. Sie war nicht sicher – nicht, nachdem Granny