Название | Ich zähle jetzt bis drei |
---|---|
Автор произведения | Egon Christian Leitner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990471173 |
Tag, Monat, Jahr
Einen Jesus hat es gegeben, der war ein Bauer und ist jahrelang bei Tag und Nacht durch die Hauptstadt gelaufen und hat geschrien, dass sie augenblicklich untergehen werde. Die örtliche fromme Obrigkeit hat ihn dafür jedes Mal zusammenschlagen lassen. Am Ende dann wurde er vom Stein einer Wurfmaschine der andrängenden Besatzer erschlagen. Und einen Jesus hat es gegeben, der war der Anführer der Aufständischen am See. Dieser Jesus floh damals mit den Seinen aus der Stadt am See und der Gegend rundherum, deren Bewohner sich alle ergeben und die Aufrührer den Besatzern ausliefern wollten, auf Booten über den See, und sie wurden von den Soldaten eingeholt und entweder auf der Stelle umgebracht oder zum Kanalbau verwendet. Und einen Jesus gab es, der war Hohepriester, und noch einen Jesus gab es, der war auch Hohepriester, und die beiden waren miteinander dermaßen verfeindet, dass ihre Anhänger einander in Tötungsabsicht mit Steinen bewarfen. Als dann einmal die Revolutionäre, Rebellen den Tempel des verhassten Königs besetzten und statt des einen Hohepriesters namens Jesus den anderen Hohepriester namens Jesus tatsächlich ins höchste Amt einsetzten, kam infolge der Eskalationen einer der beiden Hohepriester namens Jesus ums Leben. Zuvor redete er von dem Berg und der Mauer herab.
Tag, Monat, Jahr
Die vergoldeten Platten in den Sonden, die seit 40 Jahren im Weltraum unterwegs sind und nach Lebewesen und Zivilisationen suchen. Auf den vergoldeten Platten befinden sich folgende Botschaften der Menschheit: das hohe F, Musik von Pygmäen, Navajo-Indianern und aus Aserbaidschan und von Bach und Louis Armstrong und die Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte, Grußworte in 55 Sprachen, Herzschlaggeräusche, Stimmen von Erdbewohnern, Spatzen und Walen, Brandungsgeräusche, Presslufthammergeräusche, das Knistern von Feuer, ein Donner, ein Kuss. Zu sehen sind: eine Gebärmutter, ein Fötus, DNA, kleine und große Städte, Landschaften, Gebäude, stillende Frauen und jagende Männer und ein paar die Erdkugel betrachtende Kinder, ein nacktes Menschenpaar, die Erde im Sonnensystem und die Sonne in der Milchstraße und ein paar Telefonnummern. Kann man so sagen. Ist so. Mich bitte nicht anrufen, ich hebe nie ab bei so was.
Tag, Monat, Jahr
In der Schulung die Lacheinheiten. Das Lachen da beim Begrüßen. Und zwischendurch auch. Die sogenannte Presslufthammertechnik. Angst und bang wird’s mir, was die Leut’ alles können. Die Frau, die mir heut das Training, in dem sie für ihre Firma war, erklärt hat, findet’s zwar nicht lustig, aber es funktioniere eben so. Das hierarchische Lachen eben funktioniert von oben nach unten und die, die unten sind, dürfen aber ja nicht tief lachen, sondern mit hoher Stimme müssen die lachen. Harmlos eben wie harmlose Frauen und harmlose Kinder sein muss man da beim Lachen. Das Lachen, vor dem man keine Angst haben muss, wenn man’s hört, ist eben hoch. Hoch! Wenn man ein solches hochfrequentes zu hören bekommt, ist man dem Menschen, der so lacht, unter Garantie sympathisch. Die Weiblichkeit z. B. lacht so, wenn sie einen mag. Es gibt also ein Lachen, das andere unterwirft, und eines, mit dem man sich gut fügt und das Beste aus allem macht; ein aufbegehrendes gibt’s auch. Aber darum geht’s im Prinzip nicht, sondern immer sicherheitshalber ums Ungefährlichmachen. Egal was, egal wen. Und man soll prinzipiell beim Lachen dem anderen Menschen, egal, ob männlich oder weiblichen Geschlechts, ja nicht sofort in die Augen schauen oder gar den oder die fixieren, während man lacht, sondern erst, wenn fertiggelacht ist, kann man irgend so was probieren. Im Guten. Immer eben muss alles ungefährlich sein oder werden. Zusammen weinen ist auch wichtig, muss man auch lernen. Ist auch gut für die Firmen. Wird auch trainiert. Das stärke den Zusammenhalt. Weinen ist eine empathische Übung gegen Egozentrik und Narzissmus, sagt die Kollegin. Ja eh, sag ich und frage die Kollegin, wie viel ich denn jetzt allein weinen soll jeden Tag. Eine halbe Stunde.
Tag, Monat, Jahr
Will mit dem Vietnamesen wieder mehr Deutsch lernen. Damit er so bleibt, wie er ist. Sage, er soll mir bitte aus der Zeitung vorlesen. Er erwidert: Nein, geht nicht! Ich ärgere mich, schimpfe: Was soll da nicht gehen? Er nickt, liest, laut vor, die Schlagzeilen eines jeden Artikels. Es geht wirklich nicht. Was da steht, kann man nicht lesen. Ist eine Zumutung. Das Gratisblatt von der Haltestelle heut. Nur böse Nachrichten, nichts sonst. So etwas habe ich noch nie erlebt. Was hat die Zeitung von diesem Blödsinn? Nur Bedrohungen stehen da heute drinnen. Der Vietnamese ist auf der Flucht von seiner Familie getrennt worden und fast im Meer ertrunken. Ist aus Südvietnam. Die Gegend dort gilt als die, auf die am meisten Napalm und Agent Orange abgeworfen wurden. Nirgendwo sollen mehr Menschen gestorben sein als dort. Amerikanischer Militärstützpunkt und zugleich das Zentrum der Vietcong. Grausamstes Kampfgebiet. Ich weiß das nur aus Zufall und erst seit ein paar Monaten, ich war früher oft ungeduldig, obwohl ja eh nie etwas wirklich schwer war mit ihm. Aber hilflos eben ist er so schnell. So schnell hilflos! Und so allein und stumm. Ein immer freundliches uraltes Kind. Überhaupt nichts Böses hat er an sich. Aufgegeben da hier ist er worden. Ja, das war so. Er war wirklich immer gut. Hat nichts davon. Nie gehabt. Nur Probleme. Jetzt ist’s besser. Kann er leben. Wird so bleiben. Bitte! Ja, wird so bleiben. Alt ist er jetzt halt. Wieder eine andere Zeit kommt. In ein Heim er. Nein! Er bleibt in der Wohnung. Kann’s. Hat’s immer gekonnt.
Tag, Monat, Jahr
Der amerikanische Außenminister hat im Frühjahr 1954 dem französischen Außenminister zwei Atombomben angeboten. Die Franzosen nahmen die nicht an und verloren dadurch Vietnam. Sie sollen damals den amerikanischen Vorschlag deshalb abgelehnt haben, aus humanitären Gründen eben, weil er zur Folge gehabt hätte, dass auch die in Vietnam befindlichen Franzosen zu Schaden und umkommen. Was in Frankreich nicht gut angekommen wäre. Als die Amerikaner später dann selber Krieg führten, kostete sie jeder getötete Vietnamese, egal ob Mann, Frau oder Kind, im Durchschnitt 200.000 Dollar. Was viel Geld war. Heutzutage kostet ein jeweils getöteter Feind gewiss ein Vielfaches. Das Leben eines Menschen ist eben viel wert.
Tag, Monat, Jahr
Die Psychotherapeutin, die oft so zu kämpfen hat, dass sie während der Therapiestunden ja nicht einschläft. Das ist nicht aus Langeweile so bei ihr, sondern weil die Geschehnisse ihr so nahe gehen. Bedrücken eben. Sie wird sehr gemocht. Ist deshalb eine so große Hilfe, weil sie die Leute in Arbeit bringen kann. Das ist die größte Hilfe. Ein normales Leben eben. Der fällt auch immer etwas ein, was man doch noch tun könnt’. Der Kindertherapeut dann, andere Praxis dann heut, der nicht will, dass der Bub seinem Vater abgenommen wird. Die Kollegen sagen aber alle, dass es notwendig sei. Die Kolleginnen auch. Aber der Therapeut will das nicht, weil das Kind will, dass dem Vater geholfen wird. Der Vater kann nichts. Nicht mehr und