Die Siegel von Tench'alin. Klaus D. Biedermann

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Название Die Siegel von Tench'alin
Автор произведения Klaus D. Biedermann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783937883533



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eine Grabesstimmung geherrscht, gerade so, als seien die Kinder bereits gestorben.

      Als die Haushälterin der Siskos, Maria Gonzales, eine äußerst resolute Person und unter normalen Umständen nicht auf den Mund gefallen, in der dritten Woche der Entführung zum Einkaufen in einem nahe gelegenen Supermarkt gewesen war, war sie von jemandem im allgemeinen Gedränge an der Kasse angerempelt worden. Sie hatte dem leichten Rempler außer einem sehr kurzen bösen Blick aus ihren braunen Augen zunächst keine weitere Beachtung geschenkt. Erst als sie später beim Auspacken der Lebensmittel in ihrer Einkaufstasche einen Brief gefunden hatte – sie konnte sich nicht erinnern, jemals überhaupt einen in der Hand gehabt zu haben –, hatte die kleine Rempelei doch noch eine Bedeutung bekommen.

      Von diesem Moment an hatte Mike Stunks Stunde geschlagen und bei den geplagten Siskos war neue Hoffnung aufgekeimt. Es war Mikes erster großer Fall bei der NSPO gewesen. Zuvor hatte er sich bereits bei der Kriminalpolizei, die ebenfalls an diesem Fall dran war, einen Namen gemacht und die Siskos wussten das. Er hatte sich in den Fall verbissen gehabt wie ein Terrier, dem man sein Lieblingsspielzeug wegnehmen wollte. Er war in das Gästehaus des Sisko-Anwesens eingezogen. Es war doppelt so groß wie sein eigenes Wohnhaus und es hatte zwei Wochen lang den Anschein gehabt, als würde er keinen Schlaf brauchen.

      Als Erstes hatte er Maria Gonzales befragt, die kräftig gebaut und gut einen halben Kopf größer war als er. Jeder Angestellte des Hauses war selbstverständlich auf Herz und Nieren geprüft worden und alle hatten eine Weste, die so blütenweiß war wie frisch gefallener Schnee in den Rockys.

      »Mrs. Gonzales, was genau haben Sie im Supermarkt gesehen? Bitte denken Sie genau nach. Jede noch so kleine Einzelheit ist wichtig ... ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich unser Gespräch aufnehme«, hatte Mike das Verhör ganz ruhig begonnen und dabei auf sein kleines Aufnahmegerät gezeigt, das er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Er hatte die Frau dabei fixiert wie die Schlange das Kaninchen. Er wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass jede noch so kleine Körperreaktion eines Zeugen einen Hinweis auf eine unbewusste Beobachtung geben konnte. Aus diesem Grund war er auch in die Küche, in ihr Reich, gekommen. Sie sollte möglichst entspannt sein.

      »Mein Gott«, hatte die Haushälterin, mit einer Geste in Richtung des Aufnahmegeräts, die Mike als Zustimmung deutete, erwidert, »was soll ich schon gesehen haben? Ich war damit beschäftigt, die Kassiererin zu kontrollieren. Sie machen andauernd Fehler, komischerweise meist zu ihren Gunsten. Ich verstehe gar nicht, warum es wieder Geschäfte gibt, in denen Menschen an der Kasse sitzen. Aber der Laden ist nicht weit und ich wollte schnell wieder zu Hause sein ... Sie wissen doch ... die arme Mrs. Sisko, die ...« Von Entspanntheit war Mrs. Gonzales meilenweit entfernt gewesen, obwohl sie selbst vielleicht auf Nachfrage das Gegenteil behauptet hätte.

      »Mrs. Gonzales«, hatte Mike den beginnenden Redeschwall unterbrochen, »ist Ihnen vielleicht vorher etwas aufgefallen, wurden Sie verfolgt oder hat Sie jemand beobachtet?«

      »Hören Sie, Sir, ich war damit beschäftigt, alles was auf meinem Display stand, einzukaufen, da schaue ich nicht nach anderen Leuten. Wissen Sie, wie viele Menschen in Supermärkten rumlaufen? Da hätte ich viel zu tun ... aber sagen Sie doch Maria zu mir, das machen alle hier.« Maria war aufgestanden und hatte begonnen, in der Küche herumzuhantieren, was eher planlos ausgesehen und wohl dem Abbau ihrer Nervosität gedient hatte. Mike hatte sich aber nicht so schnell abschütteln lassen.

      »Danke, Frau Gonzales, ... äh, Maria, bitte setzen Sie sich doch«, sein Ton war um eine Nuance schärfer geworden. »Ich weiß, wie viele Leute sich in Geschäften aufhalten ... ich gehe hin und wieder selber einkaufen. Aber manchmal kann man fühlen, dass man beobachtet oder verfolgt wird, kennen Sie das nicht? Es ist wie ein sechster Sinn.«

      »Doch, klar kenne ich das«, in Marias Stimme hatte jetzt leichter Trotz gelegen und daran hatte Mike erkannt, dass seine kleine Stresserhöhung funktioniert hatte, »aber neulich war es nicht so ... bestimmt, glauben Sie mir, Sir, Mr. Stunks. Was soll ich sagen, ich hab´ nix gesehen.« Sie hatte sich auf einen Stuhl fallen lassen, ihre Schultern waren herabgesunken und sie hatte ihre Hände in den Schoß gelegt, als ihr linkes Augenlid auf einmal wild zu zucken begonnen hatte, als ob ihr etwas ins Auge geflogen wäre, was Mike nicht entgangen war. Er hatte den Atem angehalten, um einer möglichen Erinnerung Zeit zu geben. Und diese war gekommen, wenn es auch nicht viel gewesen war. Maria hatte für einen Moment die Augen geschlossen. Das Zucken hatte so plötzlich aufgehört, wie es begonnen hatte.

      »Jetzt ... ich erinnere mich doch!«, hatte Maria dann gerufen.

      »Da war ein Mann, der hat sich an allen vorbeigedrängt! Er hatte nichts eingekauft, hatte keinen Korb, keine Tasche ... nichts. Der hat mich angerempelt und so komisch geschaut! Jesus!«, es klang wie ›Jesses‹. »Meinen Sie, das war das Monster, das unsere Engelchen entführt hat? Ich weiß noch ... in diesem Moment hatte ich so ein Gefühl wie ... kennen Sie das? Als wenn die Welt für einen Moment aufgehört hätte sich zu drehen. Mein Gott! Wie konnte ich den Kerl vergessen, Sir? Es ist wohl alles ein bisschen viel für mich, es ist so schrecklich!« Marias Augen waren vor Entsetzen ganz groß geworden und sie hatte sich mit der flachen Hand an die Stirn geschlagen, dass es leise, aber unüberhörbar geklatscht hatte.

      »Sehr gut. Können Sie ihn beschreiben, Mrs. Gonzales, äh ... Maria?« Mikes Stimme war ganz ruhig gewesen. »Jede noch so kleine Einzelheit ist wichtig.«

      »Nein ... es ging ja schnell ... oder ... warten Sie, es gibt doch etwas, nur eine Einzelheit, an die ich mich erinnere, und die ist nicht klein, ich sehe sie gerade förmlich vor mir. Eine Raubvogelnase, ja, eine ziemlich große, gebogene Nase. Irgendwie passte sie nicht zu dem Typ, das dachte ich noch. Und, ja, Augen wie aus Stahl, er hatte einen Blick wie aus Eis. Aber dann war er auch schon weg und ich musste meine Sachen einpacken, weil von hinten wieder gedrängelt wurde.« Maria hatte laut geseufzt. »Mehr weiß ich nicht, es tut mir so leid, wenn ich geahnt hätte, dass das der Entführer der Kleinen ist, glauben Sie mir, ich hätte ihn nicht einfach gehen lassen«, hatte sie gejammert.

      »Bringen Sie uns die Kinder zurück, Mr. Stunks, ich flehe Sie an.«

      »Nun mal langsam mit den Pferden, Maria, wir wissen weder, ob das der Entführer war, noch ob er den Brief in ihre Tasche getan hat. Es ist eine reine Vermutung, dass es dieser Mann war. Sind Sie sich sicher, dass Sie ansonsten mit niemandem Kontakt hatten? Bitte denken Sie noch einmal genau nach, das mit der Rempelei ist Ihnen ja auch nicht gleich eingefallen.«

      Mike hatte innerlich dem Schicksal gedankt, dass Maria im Supermarkt nicht eingegriffen hatte. Nicht weil ihm der Überbringer des Briefes leid getan hätte, sondern weil er sich sicher gewesen war, dass es sich bei den Entführern um mindestens zwei Personen gehandelt hatte. Jemand musste das Auto gefahren haben, mit dem die Kinder abgeholt wurden, ein anderer hatte sicherstellen müssen, dass der richtige Chauffeur, der vielleicht ausgerechnet an diesem Tage früher dran war, lange genug beschäftigt war und eventuell nochmals aufgehalten werden konnte. Mit dieser Vermutung hatte Mike allerdings falsch gelegen.

      »Nein«, hatte Maria stirnrunzelnd nach einer weiteren kurzen Pause gemeint, »ich bin nach dem Einkaufen direkt nach Hause gegangen, da war nichts mehr.«

      »Na, jedenfalls danke ich Ihnen, Maria, Sie haben uns sehr geholfen.« Das hatte er zwar nicht wirklich so gemeint, hatte sich aber für den Fall, dass Maria eventuell doch noch etwas einfiele, eine Hintertür offen lassen wollen.

      Mike Stunks hatte gesehen, dass in dem Moment nicht mehr aus der Frau herauszuholen war, und deshalb hatte er sich als Nächstes dem Umschlag gewidmet. Es war mit den Siskos ausgemacht worden, dass alles, was an Post eventuell ins Haus kam, zunächst von ihm untersucht werden würde. Mike hatte

      nicht einen Moment daran geglaubt, dass eventuelle Forderungen auf dem sonst üblichen elektronischen Weg eintreffen würden, dazu waren sie zu leicht zurückzuverfolgen.

      Die Entführer hatten bereits gezeigt, dass sie nicht auf den Kopf gefallen waren. Man würde ganz sicher auch keinen der staatlich geprüften Kurierdienste beauftragen, die auf schnellstem Weg kleinere Warensendungen oder wichtige Dokumente, die man nicht elektronisch übermitteln konnte, ihrem Empfänger zukommen ließen. Mit dieser Vermutung hatte er recht behalten.

      Er