Paradiese. Andrea Sailer

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Название Paradiese
Автор произведения Andrea Sailer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701179954



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sich instinktiv die Hände vors Gesicht. „Hat jemand Tigerbalsam dabei?“, fragte einer. „Oder irgendeine Mentholcreme? Schnupftabak? Der Gestank macht einen doch fertig!“ Sie gingen zurück ins Freie und ordneten die Bereitstellung von Mundschutz an sowie eine Verständigung der Seuchenpolizei.

      Er hatte keine leichte Kindheit gehabt. Aber, andererseits, wer hatte die schon? Und dennoch. Er war nun einmal kein Kind wie alle anderen gewesen.

      Wenn zwei seiner Mitschüler auf dem Nachhauseweg ein Tier quälten, belanglos, gleichsam nebenbei, dann musste er einschreiten. Konnte nicht tatenlos dabei zusehen, wie die anderen Kinder in ihrer ganz und gar nicht unschuldigen Kindlichkeit auf eine Spinne traten, einer mühevoll gefangenen Fliege Beine und Flügel ausrissen, eine Schnecke mit Salz bestreuten, einen Käfer anzündeten. Er übte sich damals schon in versuchsweiser Schadensbegrenzung und rettete, was eben noch zu retten war. Bei einer totgetrampelten Spinne war das nicht mehr möglich. Da konnte er bestenfalls noch den haarigen Matsch vom Asphalt schaben, mit seinen ungelenken Kinderfingern, und den verbliebenen Leichnam in der lockeren Erde eines Maulwurfshügels vergraben. Weil seiner Meinung nach auch eine Spinne wenigstens ansatzweise eine würdige letzte Ruhestätte verdient hatte.

      Er hatte sich schon damals nicht erklären können, weshalb die Erwachsenen mit manchen Tieren durchaus großes Mitleid haben konnten, bei anderen aber nur Feindseligkeit und Abscheu empfanden. Es war doch kein Lebewesen auf der Erde in der Lage, sich seine Daseinsform aussuchen zu können. Es hatte doch kein einziges, noch so unscheinbares, unbedeutendes Etwas auch nur für Sekundenbruchteile eine Wahl! Es konnte doch keine Spinne etwas dafür, eine Spinne geworden zu sein. Keine Schnecke bekam vor ihrer Geburt einen Fragenkatalog vorgelegt, auf dem sie ankreuzen durfte, als was sie später ihr Leben verbringen wollte, ob als Haselstrauch, Flusskiesel, Hochschullehrer, Massaifrau, Tigerkatze oder Nacktschnecke. Und das war vielleicht auch gut so, denn jede mögliche Auswahl gipfelte letztlich doch nur in einer Wahl der Versäumnisse. Mit der Entscheidung für das eine entschied man sich automatisch gegen alles andere. Und überhaupt: Es musste doch alles geben auf der Welt! Fehlte auch nur ein Baustein, brach das Ökosystem zusammen. Das war ihm natürlich erst klar geworden, als er längst erwachsen geworden war, viele Bücher las, Fachzeitschriften, lehrreiche Dokumentationen im Fernsehen anschaute, wissbegierig alles in sich aufsog über die vielen fremden Leben und Welten, denen er sich aus unerklärlichen Gründen immer schon so nahe gefühlt hatte.

      Als Kind wusste er noch nicht, dass das Blut der Insekten und Spinnen nicht rot, sondern farblos ist. Ein Nachteil, denn rotes Blut erregt ohne Zweifel mehr Mitleid bei den Menschen, weil es sie an sie selbst erinnert. Rotes Blut wirkt stets dramatisch, farbloses Blut hingegen sieht bestenfalls nach Schmutz aus, oder nach gar nichts.

      Solange man ein Kind ist, glaubt man an die absonderlichsten Dinge. Ohne schon ein Wort dafür zu haben, glaubt man an so etwas wie Gerechtigkeit, Güte, Liebe, Gott, den Himmel, das Paradies. Und stellt sich vor, wenn man den Käfer mit den ausgerissenen Beinen nur sachte an den Wegesrand legt und still davongeht, kommen bald darauf die Käfersanitäter und der Käfernotarzt und schienen die noch verbliebenen, zerquetschten Beine und nähen ihm später in einer hochkomplizierten Operation, die viele Stunden dauert und allergrößte Konzentration vom Käferchirurgen erfordert, dem die angespannten Fühler wachsam aus der grünen Operationshaube herauswippen, eventuell ein paar neue Spenderbeine an, oder gar künstliche Laufwerkzeuge aus dem Käferforschungslabor. Aber das war nicht wahr. In Wirklichkeit blieb der Käfer einfach am Wegesrand liegen und starb, um sogleich von anderen, kleineren Käfern, Ameisen und dergleichen mehr entsorgt zu werden.

      „Es gibt eigene Entsorgungsfirmen“, bemerkte der Sachbearbeiter, während er sich in der Wohnung umblickte. Die Polizisten nickten verständnisvoll. „Ja, Entrümpelungsservice, sowas in der Art“, ergänzte einer von ihnen. „Das muss dann, wenn es leer ist, erst einmal gründlich desinfiziert werden. Dann neu gestrichen, neue Böden, von Grund auf alles saniert.“ „Die Seuchenpolizei ist bereits unterwegs“, rief eine Frauenstimme von draußen herein.

      Was die Kindheit letzten Endes dann doch sehr schön machte, war diese unglaubliche Anhäufung von tröstlichem Nichtwissen, diese vollständige Abwesenheit aufwühlender Fakten und unumstößlicher Tatsachen. Es schmerzte ihn mehr als vieles andere, dass er einmal Gehörtes, Gelesenes, mitunter gar zufällig Aufgeschnapptes nie mehr aus seinem Gehirn tilgen konnte. Es gab keine Löschtaste darin, und für die Gnade des Vergessens war er schlichtweg noch zu jung.

      Wie war diese Grausamkeit innerhalb des Tierreiches zu rechtfertigen? Er erinnerte sich noch genau daran, wie er damals nach der Lektüre dieses einen Artikels die ganze Nacht nicht hatte schlafen können. Es ging um Vorsorge für den Winter, Futtervorräte von Wildtieren. In einem beschaulichen Magazin, das die Lust am Landleben und die Schönheit der Natur bereits auf dem Titel pries. Die Reportage hatte auf den ersten Blick nichts Beunruhigendes gehabt, ganz im Gegenteil. Das Bildmaterial war sogar ausgesprochen entzückend. Ein beflissener Tannenhäher, der stolz eine große Haselnuss im Schnabel trägt. Ein geschäftiges Eichhörnchen, in den kleinen Pfoten einen erstaunlich massiven Kern. Ein Feldhamster inmitten eines Samenberges, eines regelrechten Körnergebirges. Alles äußerst reizend. Und dann in ein paar Zeilen das Unfassbare! Wie der Maulwurf über den Winter kam. Indem er Regenwürmer sammelte, denen er den Kopf abbiss, damit sie zwar nicht mehr fortkrochen, jedoch noch überlebten. Und da lag er nun schlaflos in seinem Bett und schlüpfte im Geiste, ohne es zu wollen, aber auch, ohne es verhindern zu können, in die glatte rosa Wurmhaut. Und litt. Nichts mehr sehen oder riechen, nur noch spüren, dass man lebt, dass es einen noch gibt! Warten müssen, bis man an die Reihe kommt. Zusammen mit anderen kopflosen Kreaturen dem sicheren Tode ausgeliefert. Wie schrecklich! Und wie lange mochte so ein Martyrium dauern? Konnte man ohne Kopf denn überhaupt noch Angst empfinden? Was ging im Restwurm vor?

      Dass auch andere Tiere grausam waren, freilich, ohne darüber nachzudenken, machte das Leiden jedes einzelnen Geschöpfes nicht geringer. Er brauchte nur an die infame Kaltblütigkeit der Weg- und Dolchwespen zu denken, die nicht umsonst zu den Spinnentötern gezählt wurden, schon brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Was man einerseits als durchaus liebevolle Brutpflege bezeichnen könnte, war andererseits an Bestialität kaum zu übertreffen. Wegwespen, äußerlich um nichts unscheinbarer als herkömmliche Fliegen, fingen unschuldig dösende Spinnen und machten sie mit einem giftigen Stich bewegungsunfähig. Dann schleppten sie die gelähmte Spinne in ihr Nest und legten in ihr die Eier ab, die sich als heranwachsende Larven von der immer noch lebenden Spinne ernährten. Das Spinnenherz hörte erst auf zu schlagen, wenn die letzten Larven erwachsen waren. Die Dolchwespen verfuhren mit den Larven der Blatthornkäfer ebenso. Und hielten dabei sogar noch strenge Regeln ein. Die Wespenkinder verzehrten das Käferkind in einer ganz akkuraten Reihenfolge, zuerst das Fettgewebe, dann das Nerven-, zuletzt das Atemsystem, damit der lebende Futterspender nicht zu früh verstarb.

      Schrecklich, einfach schrecklich, alles. Und da war keiner, der ihn verstand. Wenn er mit anderen über diese furchtbaren Dinge sprechen wollte, bei der Arbeit, in einer Pause, oder in der Freizeit, privat, dann sah er sich stets nur mit genau zwei Reaktionen konfrontiert. Entweder starrte man ihn ungläubig, ja fassungslos an, außerstande zu begreifen, weshalb ein Mensch sich über derlei Tatsachen auch nur einen Augenblick lang den Kopf zerbrechen konnte, gerade so, als wäre er ein Marsmensch, oder hätte wenigstens zugegeben, an dergleichen zu glauben. Oder man beschwichtigte ihn mit erbärmlichem Floskelgeschwätz. Das begann schon in der Kantine, wo er mit schöner Regelmäßigkeit um eine vegetarische Mahlzeit bat. Was hatte er sich da sein ganzes Berufsleben lang alles anhören müssen! Von der fast rührenden, zum Gotterbarmen naiven Mitteilung, die Tiere würden genauso geschlachtet werden, auch wenn er auf ihr Fleisch verzichtete, bis zum nahezu brüsken Vorwurf, er sei mitverantwortlich für das Bauernsterben und denke wohl kein bisschen an die vielen Arbeitsplätze in der fleischverarbeitenden Industrie. Er ließ all den Spott, die Wut und das Unverständnis über sich ergehen, saß bald weit abseits von den Kollegen allein an einem Tisch, nahm später nur noch von daheim Jause mit und vermied alle unangenehmen Gelegenheiten, in denen über das Thema Tierschutz hätte gesprochen werden können. Aber nie war ihm der Bericht in der Tageszeitung aus dem Kopf gegangen, in dem von einem entlaufenen Stier die Rede war. Einem Stier, der vor Angst aus dem Schlachthof geflohen war und sich daraufhin im Wald versteckte. Diese Angst in den Tieraugen! Diese Hilflosigkeit