Der mondhelle Pfad. Petra Wagner

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Название Der mondhelle Pfad
Автор произведения Petra Wagner
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783867779579



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zwei Stämmen hörte er auf. Er wusste schon im Voraus, dass es 360 waren. Die Kerben der Pfosten brauchte er auch nicht zählen. Das waren garantiert 90. Nun hatte er das Offensichtliche entdeckt und schüttelte schon wieder grübelnd den Kopf. Er bemerkte gar nicht, wie Afal sich nach Osten drehte und Achtung heischend seinen Arm hob. Silvanus musste ihm deshalb erst den Ellenbogen in die Seite rammen. Auf ein Zeichen Afals gingen alle auf die Knie und es wurde still. Loranthus wollte sein Haupt neigen, doch Silvanus knurrte zwischen den Zähnen: „Du musst hinsehen! Sonst verpasst du den Sonnenkorridor!“

      „Sonnenkorridor“, echote Loranthus leise und sah Afal zu, wie er vier goldene Stäbe in einigen Kerben des steinernen Beckens feststeckte.

      Einen Wimpernschlag lang betrachtete Loranthus die dünnen Stäbe, dann rutschte er auf seinen Knien so unruhig umher, dass Silvanus ihm die Hand auf die Schulter legen musste.

      „Bleib ruhig, Loranthus“, raunte er. „Es passiert dir nichts. Heute wird nichts geopfert.“

      „Es sei denn, du willst als Zwiesel enden, wenn du weiter so zappelst“, gluckste Arminius leise und drückte fest auf die andere Schulter von Loranthus, obwohl er dabei an Conall und Tarian vorbei langen musste.

      „Dann braucht Großmutter Mara nicht bis zum Winter warten“, kicherte ihm Tarian ins Ohr und löste seinen Vater beim Drücken der Schulter ab.

      „Du kannst persönlich in der Buttermilch deine Früchte verrühren und das Gemüse in der Suppe“, versicherte Conall und rieb kräftig die Hände gegeneinander, als wolle er einen Zwiesel führen.

      Loranthus wirbelte so schnell mit seinem Kopf zwischen Arminius, Silvanus, Conall und Tarian herum, dass er einem echten Zwiesel erstaunliche Konkurrenz machte. Und als seine Hände zwischen den goldenen Stäben und dem gleißenden Gold des Sonnenaufgangs hin und her zuckten, war das Bild perfekt.

      „Das ist ein Observatorium!“, flüsterte er aufgeregt und zeigte auf die Holzstämme rund herum. „Damit könnt ihr Mondjahr und Sonnenjahr in Einklang bringen! Und dieser Hut! Afals Hut …“

      Silvanus sah ihn übertrieben erstaunt an und wisperte: „Natürlich. Was hast du denn gedacht?! Meinst du, ihr Griechen seid die einzigen, die Zyklen von Mond- und Sonnenfinsternis berechnen können? Afal kann das auch. Was meinst du wohl, woher wir wissen, wann die Tagundnachtgleichen sind, die Sonnenwenden, die Rauhnächte, Samhain, Imbolg, Beltaine, Lugnasad?“

      „Ruhe jetzt! Augen gerade aus!“, zischte Arminius und Loranthus klappte seinen Mund kommentarlos zu. Er hatte sowieso keine plausible Antwort parat.

      Afal drehte sich zu ihnen um und schien sich prächtig zu amüsieren, hatte also gute Ohren. Er wurde aber schnell wieder ernst, hob die Hände zum Himmel und breitete die Arme in seiner allumfassenden Geste aus.

      „Seht, Nachkommen des Cernunnos! Ostara breitet ihren göttlichen Mantel für unseren König aus, auf dass der Strahlende darüber schreite, wie es einem König gebührt: In einer Aura aus Licht, auf goldenem Pfad. Heißt ihn willkommen!“

      Ein melodiöser Hornstoß schallte über die Hochebene, ein zweiter setzte ein, ein dritter, ein vierter … Dreizehn Bläser wechselten sich so gekonnt ab, dass man nicht hörte, wie sie Luft holten. Ihr Signal dauerte an, bis die Sonne ihren Scheitel über den Horizont der Thuringer Berge geschoben hatte und in einem gleißenden Kranz aus Licht erstrahlte. Von überall her auf den Bergen hallte Hörnerklang zu ihnen herüber, mal mehr, mal weniger laut. Loranthus stellten sich die Nackenhaare auf, so majestätisch hörte es sich an. Ein Raunen ging durch die Menge, als der erste Strahl über einem spitzen Felsen aufglomm, der am äußersten Rand der Hochebene aufragte. Dieser Finger aus Licht ging exakt zwischen den beiden Pfeilern am Osteingang hindurch und traf den vordersten der goldenen Stäbe auf dem Stein. Sofort flammte der zweite Stab auf und warf seinen Glanz geradewegs auf den dritten, dann strahlte der dritte den vierten an.

      Loranthus hätte schwören können, auf den wuchtigen Dreiergruppen Bilder zu sehen, die ihm vorher nicht aufgefallen waren, aber das Licht am Horizont, das Licht auf dem Becken, das Licht der Reflektion, Afals goldener Hut … alles zusammen gleißte derart hell, dass er die Augen fest zusammen kneifen musste.

      „Der Sonnenkorridor!“ rief er aufgeregt und schielte mit gesenktem Kopf zu Silvanus. „Beim Pfeil und Bogen von Apoll! Ich glaub, ich werd irre! Ihr habt hier oben auf dem Berg ein Observatorium, ein Kalendarium wenn man so will. Und heute ist die Sommersonnenwende. Da steht die Sonne in ihrem Jahresverlauf am nördlichsten! Ist der Felsensporn dort vorne natürlichen Ursprungs oder habt ihr ihn auf diesem Platz eingegraben? Egal! Jedenfalls geht über diesem Felsen heute die Sonne auf und Apollo schießt seinen Pfeil direkt hierher.“

      „Arcturus. Und das Horn ist echt.“

      „Was?“

      „Der Felsen ist natürlichen Ursprungs“, betonte Silvanus und brüllte fast, damit Loranthus bei dem lauten Hörnerklang auch alles gut verstand. „Und Arcturus schießt seinen Pfeil direkt hierher.“

      „Arcturus − Apollo … hört sich für mich einerseits verschieden, andererseits doch ähnlich an! Da gibt es so viele Namen für ein und dasselbe!“, schrie Loranthus zurück.

      „Aber weißt du, Silvanus, was mich am meisten verwundert?“

      „Sag’s laut!“

      „Dass die Symbole gleich sind!“, brüllte Loranthus.

      „Ich schätze mal, das ist der Sinn von Symbolen! Hat irgendwie den selben Zweck wie Zeichensprache!“

      „Zeichensprache?“, fragte Loranthus verblüfft und vergaß zu schreien, dafür versuchte er ein Auge zu öffnen. Gequält verzog er sein Gesicht, kniff das Auge wieder zu und hob den Daumen. „Zeichensprache.“

      Die Hörner vereinten sich zu einem letzten langen Crescendo und verstummten abrupt. Die plötzliche Stille hallte auf eine ganz besonders anrührende Weise nach. Loranthus konnte das erhabene Schweigen nicht nur hören, sondern auch fühlen und jetzt sogar wieder einigermaßen sehen.

      Afal, in gleißendes Licht gehüllt, breitete die Arme aus.

      „Lasst − die Weihe − beginnen!“

      König Gort und Gardan erhoben sich und trugen eine mannshohe Holzstatue zu Afal. Loranthus hatte sie bis jetzt noch gar nicht bemerkt, aber er erkannte sofort, dass es die Figur war, die Noeira bei seiner Ankunft hier, in diesem Land, behauen hatte. Jetzt war sie fertig und irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Es war eine Frau mit langen wallenden Haaren. Sie streckte die Hände aus, als wolle sie dem Betrachter einen Schluck Wasser darbringen.

      „Hiermit gebe ich dir den Namen ‚Quellgöttin Sünna‘. Möge deine göttliche Gabe allzeit bestehen und all jenen, die dich achten und ehren, zum Wohle gereichen.“

      Afal tauchte Birkenzweige in das steinerne Becken und besprengte Sünna mit geweihtem Wasser, bis sie von oben bis unten nass war.

      Loranthus überlegte, dass sie auch in das Becken gepasst hätte, wenigstens bis zum Bauchnabel. Aber das hätte wohl zu komisch ausgesehen, wenn sie die Statue dann umgedreht und kopfüber hinein getaucht hätten. Obwohl? Auf dem steinernen Becken wurde auch eine Gestalt kopfüber in einen Kessel getaucht. Sie sah aus wie ein … Mensch. Loranthus sah genauer hin.

      Ganz eindeutig: In den Stein waren Symbole und Figuren gehauen. Es waren Krieger. Das erkannte er an ihren Helmen. Der eine hatte Hörner auf seinem, ein anderer eine borstige Wildsau, der nächste einen Hahn. Sie saßen auf Pferden und hielten Schwerter, Äxte und Schilde in den Händen. Hinter ihnen reihten sich Krieger zu Fuß. Sie sahen alle nach vorne zu einem gehörnten Wesen, das einen Krieger an einem Bein gepackt hielt und kopfüber in einen Kessel tauchte.

      Loranthus stellten sich die Haare auf und er bekam Gänsehaut. Ihn hatte nicht so sehr die dargestellte Szene erschreckt, sondern mit welch gleichmütigen Mienen die nachstehenden Krieger darauf warteten, dass sie auch dran kämen. Und dieser Gehörnte … dieses Hirschgeweih da auf seinem Kopf … Das konnte doch nur Cernunnos sein. Ganz eindeutig: In der einen Hand hielt er eine Schlange und seinen Torques,