Der mondhelle Pfad. Petra Wagner

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Название Der mondhelle Pfad
Автор произведения Petra Wagner
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783867779579



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      Vorsichtig legte sie das kleine Ei in ihre Hand, strich liebevoll darüber und wiegte es hin und her.

      „Mein liebes Schwesterchen. Wenn du geboren bist, wiege ich dich genauso immer hin und her. Das kann ich schon gut, sagt Noeira.“

      Viviane gluckste und wollte schon den Mund aufmachen, doch Flora schüttelte warnend den Kopf. Ihr stand nämlich gerade das Bild vor Augen, auf welche Weise Viviane damals Medan gewiegt hatte.

      Sie hatte sich unter die Wiege gehängt und war daran hin und her geschaukelt. Das ging gerade noch gut. Der Balken an der Decke war ja stark genug, um die hängende Wiege und Viviane zu halten. Doch auf die Wiederholung dieser Belastungsprobe konnte Flora gerne verzichten und der Deckenbalken bestimmt auch, immerhin war er nun schon seit elf Generationen im stetigen Gebrauch und musste geschont werden.

      Noeira stemmte die Hände in die Hüften.

      „Da wir gerade von Babys reden … Wie bist du eigentlich zu deinem gekommen?“

      Viviane schnaufte, als wäre ihr eine Fliege in die Nase geflogen.

      „Das habe ich euch doch schon erzählt!“

      Noeira winkte gelangweilt ab, von Fliegen – egal welcher Art – ließ sie sich nicht beirren, wenn es etwas Neues zu erforschen gab.

      „Ja, ja, wir haben aufgepasst. Morgens Prüfung für das Drachenschwert im Wald, abends Initiation für den Orden mit himmlisch duftender Schale in einem sonst leeren Raum. Was mich persönlich dabei interessieren täte, ist das, was nach dem Riechen an der Schale passierte.“

      „Na, nichts!“ Viviane warf die Hände in die Höhe und verscheuchte einen ganzen Schwarm Fliegen. „Nichts, nichts und nochmal nichts!“ Es war die reinste Fliegenplage. „Einfach nur am nächsten Morgen orientierungslos mit schmerzenden Gliedern aufgewacht!“

      Noeira reckte das Kinn und sah Viviane herausfordernd an.

      „Hast du nicht gesagt, du hättest einen Traum gehabt?“

      Jetzt winkte Viviane ab, als wolle sie eine ganz besonders lästige Fliege mit einem Wisch schnappen.

      „Ach, das war doch nur ein total abstrakter Traum, Noeira! Absolut surreal! Skurril! Abstrus! Hervorgerufen durch Drogen! So was Irres sehen nicht mal die Feinschmiede, wenn sie in Trance sind und ihre phantastischen Figuren ins Edelmetall treiben.“

      Noeira wedelte mit ihrem Zeigefinger vor Vivianes Nase herum und beförderte sie energisch auf die Sitzbank.

      „Da wäre ich mir nicht so sicher! Schließlich ist bei dir ja auch ein Kunstwerk entstanden. Hauptsache, der Kleine hat keine Hufe oder einen Hirschkopf, wenn er raus kommt! Das wird nämlich schwierig mit dem Anziehen.“

      Viviane schüttelte übertrieben tadelnd den Kopf, verdrehte die Augen und nickte zur Tür.

      „Du denkst schon wie Silvanus! Der hat letztens erst gemeint, ich solle bei den Mützchen Löcher rein machen, damit das Geweih gut durchpasst.“

      „Also wirklich!“ Noeira klatschte entrüstet die Hand auf den Tisch. „Das schlägt dem Fass den Boden aus! Ich hoffe doch, du hast ihn für so eine freche Rede ordentlich bezahlen lassen!?“

      Viviane grinste listig.

      „Der bezahlt mir jeden Tag dafür! Doppelt und dreifach.“

      „Recht so! Also los! Erzähl schon von diesem phantastischen Traum! Je mehr abstrakt, surreal, skurril und abstrus, umso besser.“

      Mit rollenden Augen schaute Viviane zu Noeira und allen andern, die sich nun erwartungsvoll um den Tisch platzierten. Lavinia huschte schnell zwischen Großmutter Mara und Taberia, damit sie Viviane exakt gegenüber saß, und beugte sich sogar noch weiter vor als Noeira. Nur Hanibu sah aus, als wüsste sie schon Bescheid. Viviane seufzte und verschränkte die Hände auf dem Tisch.

      „Also. Mein oberster Lehrer, Akanthus, hatte Merdin und mich in ein mickriges kreisrundes Grubenhaus ohne Mobiliar geführt und von außen den Riegel vorgeschoben. Da es nur ein winziges Fenster hatte, haben wir neben der Tür darauf gelauert, was nun kommt, denn wir waren auf einen erneuten Reaktionstest gefasst. Doch es passierte nichts, überhaupt nichts. Also haben wir uns auf die Bärenfelle gesetzt und erzählt, wie es uns bei der Prüfung früh morgens im Wald ergangen ist.

      Merdin war in einem anderen Teil des Waldes unterwegs gewesen als ich und der irrigen Annahme, dass ich als Maid nicht so hart geprüft würde wie er. Bei Tarnung und Spurensuche war es ja egal, aber er hat gestaunt, weil ich mich gegen jeden meiner fünf Angreifer genauso erwehren musste wie er. Einen hatte ich sogar früher erwischt als er mich, weil ich ihn von einem Baum aus gesehen hatte. Zwar nur seinen blinkenden Schwertknauf, aber gesehen ist gesehen.

      An den habe ich mich herangeschlichen wie ein Wolf auf Beutefang und habe ihm aus meinem längsten Blasrohr eine ordentliche Ladung Pfeile verpasst. Bis er endlich von seinem Baum unten war, hatte er einen im Hintern, einen im Oberschenkel und einen mitten im Genick. Natürlich ohne Betäubungsgift dran, er sollte mich ja im Schwertkampf testen, was er danach auch ziemlich rabiat tat. Am Ende sah er richtig zerzaust aus. Ich dagegen bin tadellos aus dem Wald herausgetreten und meine Prüfer hatten nichts zu bemängeln. Der Zerzauste hat mir sogar feixend sein Schwert hingehalten und Revanche gefordert. Ich habe es natürlich nicht berührt, es war ja nur Spaß.

      Merdin musste lachen, als er sich die Szene vorstellte. Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen und sprang in dem winzigen Raum herum, als hätte er einen von meinen Blasrohrpfeilen im Hintern. Weil es mittlerweile schon dunkel geworden war, nahm ich ein Stück Glut aus meinem Zunderschwämmchen und legte es in eine Ölschale, die vom obersten Deckenbalken hing. Merdin musste mich hochstemmen, sonst wären wir gar nicht an die Schale herangekommen, so extrem weit oben war sie angekettet. Kaum brannte das Öl, verströmte es auch schon einen ganz intensiven Duft, unbeschreiblich gut, einfach genial. Wir konnten gar nicht genug davon bekommen und reckten beide die Hälse, um möglichst viel von den Duftschwaden einzuatmen.

      Wann ich die Besinnung verloren habe, kann ich absolut nicht sagen. Jedenfalls sah ich einen Hirsch in meinem Traum. Der stand vor mir auf einer großen Wiese und rief mich. Ich lief auf ihn zu, schlug im letzten Augenblick einen Haken und rannte an ihm vorbei. Er stellte sich auf die Hinterläufe und preschte mir lachend hinterher. Übermütig trieben wir uns gegenseitig durch einen schattigen Birkenwald und einen steilen Berg hinauf. Oben auf der Kuppe befand sich eine sonnige Wiese mit herrlichen Blumen und Kräutern.

      Ich pflückte Blumen und steckte mir die wohlriechenden Kräuter in den Mund. Die Sonne wärmte mich so angenehm, also legte ich mich auf die Wiese und ruhte mich aus. Als die Sonne im Zenit stand, begann ich zu schwitzen.

      Der Hirsch legte sich neben mich und leckte mir den Schweiß ab. Das kitzelte, aber ich fühlte mich gleich viel besser und döste kurz ein. Als ich aufwachte, äste der Hirsch an einem kleinen Weiher. Wir tranken das herrlich erquickende Wasser und liefen gemeinsam von einem duftenden Kraut zum anderen.

      So kamen wir zu einem Weg, der zum nächsten Berg führte. Dort glitzerte es in der Sonne und wir wollten sehen, was das war. Also sind wir wieder losgelaufen, aber der Pfad wurde immer schmaler und abschüssiger. Kurzerhand nahm mich der Hirsch auf seinen Rücken, damit ich nicht vom Wege abglitt.

      Ich wollte ihm danken und streichelte über seine Flanken, seinen Rücken, die Schultern, den Hals und das Geweih. Bei jedem seiner Schritte konnte ich seine sehnigen Muskeln spüren. Er strotzte vor Kraft. Sein Fell war weich und warm. Sein stattliches Geweih fühlte sich herrlich an. Ich musste es einfach immer wieder berühren und meine Finger glitten über jeden Zacken in seiner Krone.

      Der Pfad ging bald steiler nach oben, doch der Hirsch trug mich sicher hinauf und ich war froh, so einen guten Weggefährten zu haben. Auf der Bergkuppe fanden wir wieder eine große Wiese mit saftigem Gras. Was von Weitem so gefunkelt hatte, waren Tautropfen, die in der Sonne glänzten. Das wunderte mich, denn nachmittags gibt es eigentlich keinen Tau mehr.

      Erstaunt betraten wir die Wiese