Название | Menschen im Krieg – Gone to Soldiers |
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Автор произведения | Marge Piercy |
Жанр | Книги о войне |
Серия | |
Издательство | Книги о войне |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548724 |
Onkel Nat, der in Deutschland Geschäftsmann gewesen war, ging fort, sobald Hitler die Macht ergriffen hatte. In Schanghai blühten seine Geschäfte, und so wollte er seine Brüder nachkommen lassen. Onkel Mendel arbeitete in Frankreich; Onkel Eli und Tante Esther ging es in Kozienice sehr gut, vielen Dank. Daniels Vater in der Bronx nahm das Geld für die Überfahrt dankbar an und machte sich auf den Weg, um das Glück seines Bruders in Schanghai zu versuchen. Keiner von beiden wurde reich, aber es ging ihnen gut, taipans, erfolgreiche Geschäftsleute. Innerhalb von sechs Monaten holte Daniels Vater seine Familie nach. Alle fuhren, bis auf Haskel, den hochbegabten, wenngleich engstirnigen Medizinstudenten in einem vorklinischen Semester am City College.
Er konnte sich noch daran erinnern, wie er und seine Schwester Judy und seine Mutter auf dem französischen Schiff, das sie nach China brachte, gegessen hatten. Sie fuhren dritter Klasse, doch das Essen war reichlich, so reichlich, dass sie in ihrer ersten Woche auf See von nichts anderem reden konnten. Wie viel es zu essen gab. Wie oft sie aßen. Wie bald sie wieder so viel essen würden. Nach drei Wochen auf dem Schiff hatte sich ihre Ausgezehrtheit in sonnengebräuntes Fleisch verwandelt. Seine Mutter sah zehn Jahre jünger aus. Seine sechzehnjährige Schwester Judy war plötzlich hübsch.
Bis dahin war er ein linkisches Kind gewesen. Flog ein Ball in seine Richtung, traf er ihn unweigerlich ins Gesicht, als leite Bosheit das runde Ding oder ein Magneteisen in seinem Schädel, so dass er mit vierzehn von harten und weichen Baseballbällen, von Footballbällen, Basketbällen, Fußbällen, Strandbällen, Tennisbällen, ja selbst von Pingpongbällen schmerzlich getroffen worden war; sobald sie Gelegenheit dazu bekamen, hatten die Bälle ihn angegriffen und damit bei seinen Spielkameraden Wut und Spott ausgelöst.
Er war ein eigensinniges, verträumtes, in sich gekehrtes Kind und liebte Bücher über die Hunde und Katzen und Pferde, die er nicht haben konnte. Seine Kosetiere waren zwei Goldfische, Mink und Mank. Seine Mutter schärfte ihm immer wieder ein, sie nicht zu überfüttern, doch das war das Einzige, was er für sie tun konnte. Eines Morgens schwammen sie mit dem Bauch nach oben in ihrem winzigen Glas. Er ersetzte sie nicht. Er las lieber Burschi, ein Hund oder das Dschungelbuch. Ihm schienen Wölfe die liebevolleren, aufmerksameren Eltern. In früher Kindheit war er seiner Mutter eng verbunden gewesen, doch der Verlust ihres behaglichen Heims, des Autos, der Möbel, des Ansehens versetzte sie in Apathie. Sie führte nur noch Selbstgespräche, wenn sie ohne Unterlass die enge, überfüllte Wohnung putzte. Obwohl sie sich nun unablässig über China beklagte, hatte sie hier einen Hausdiener und einen Koch, und jeden Tag stattete sie anderen verheirateten jüdischen Damen Besuche ab.
Daniels Familie zog in ein sogenanntes Hofhaus in Hongkew, einem armen, überbevölkerten, aber faszinierenden nordöstlichen Vorort, der auf drei Seiten von Wasser umgeben war. Sie wohnten dort, weil die Mieten und die Lebensmittel nur halb so teuer waren wie im International Settlement oder in der Französischen Konzession. Ihr Haus gehörte zu den rasch hochgezogenen Neubauten der Gegend, stand im Schutze einer Mauer mit einem Tor und war feuchtkalt, nur beheizt von kleinen, stinkenden Kohleöfen.
Daniel wurde auf die amerikanische Schule im International Settlement geschickt, aber der tägliche Unterricht dauerte nicht lange und ließ ihm viel Zeit, durch die Straßen zu stromern. Bei einem Straßenhändler kaufte er sich getragene chinesische Kleidungsstücke, die er in der Mauer verbarg. Mit seinem schwarzen Haar, der tiefgebräunten Haut und den dunkelblauen Augen sah er nicht chinesisch aus, konnte aber als mandschurisch durchgehen. Wäre er in europäischen Kleidern mit seiner Armbanduhr herumgelaufen, man hätte ihn überfallen und ausgeraubt. In seinem selbsterdachten Abenteuer blühte er auf vor neuem Selbstvertrauen. Er stellte sich vor, wie die Jungens aus seinem alten Viertel ihn beneideten und wie sie bedauerten, ihn nicht in ihre Baseballmannschaft gewählt und ihn sogar vom Brennball ausgeschlossen zu haben. Die Straßen waren verstopft und glitzerten von riesigen, vergoldeten Schildern, leuchtenden Neon reklamen und gewaltigen grellbunten Wandbildern, die einheimische Produkte anpriesen. Er wuchs rasch und hatte immer Hunger, aber es gab viel zu essen, und alles billig: Nudeln, gefülltes Pao, Tangtuanklöße, süße Mandelsuppe, süße oder salzige Kuchen, Salzfisch und Kohl. Er liebte die Dampfer und die Sampans, die Hausboote mit den aufgemalten Augen im brackigen Hafen.
Auf der amerikanischen Schule wurde kein Chinesisch unterrichtet. Wenige Eltern sprachen Chinesisch oder verstanden es. Onkel Nat sagte, auf den anderen internationalen Schulen sei es das Gleiche. Als sein Onkel sah, dass er sich dafür interessierte, besorgte er Daniel zwei Lehrer, einen für umgangssprachlichen Wu-Dialekt und den anderen zum Lesen und Schreiben der Schriftzeichen. Er lernte bei seinen beiden chinesischen Lehrern weitaus eifriger als bei seinen Lehrern in der amerikanischen Schule, weil er das, was er lernte, sofort auf der Straße anwenden konnte, dort, wo er immer sein wollte.
»Die Europäer und die Amerikaner verhalten sich wie Schafsköpfe«, sagte Onkel Nat und wies darauf hin, dass die Amerikaner keine Chinesen in ihren Country Club ließen. »Es gibt in dieser Welt niemanden, auf den man sich absolut verlassen kann. Man kommt in anderer Leute Land, wo man die Chance hat, in Sicherheit zu sein, ein gutes Leben zu führen, also lernt man ihre Sitten und spricht ihre Sprache, damit man sie nicht mehr kränkt als nötig. Wenn man in den Wind spuckt, fliegt’s einem ins Gesicht zurück. Kapiert?«
Onkel Nat war ein grauhaariger Mann ähnlich wie sein Vater, aber er stand anders da, nicht krumm und gebeugt. Er hielt sehr auf äußere Form. Daniel fühlte sich bei ihm wohler als bei seinem Vater. Seine Eltern redeten ununterbrochen von Haskel, der im City College Einser sammelte. Der Erstgeborene, der gute Sohn.
Schanghai wimmelte von Menschen, vier Millionen Chinesen und dazu hunderttausend Ausländer, es gab moderne Wolkenkratzer, tipptopp uniformierte Sikhs auf kleinen Zementpodesten, die den Verkehr regelten, fünf Universitäten, zahlreiche gelehrte und wissenschaftliche Einrichtungen, Nobelhotels und exklusive Privatclubs; doch für die meisten Chinesen gab es nur Armut und einen schnellen oder langsamen Tod. Morgens lagen Leichen auf seinem Schulweg. Überall schüttelten verkrüppelte Bettler ihre Büchsen. Schanghai brodelte von Krankheiten, von politischen Unruhen und Morden. Er sah zu, wie Gefangene für politische oder ganz gewöhnliche Verbrechen geköpft oder garrottiert wurden, öffentliche Hinrichtungen, wo er in der Menge stand und staunend mit ansah, wie ein Leben ausgelöscht wurde, sich aber in Acht nahm, so gleichmütig dreinzuschauen wie alle anderen, um keinen Ärger zu bekommen.
Dann fing er sich eine Art Paratyphus ein, der so mächtige Darmkrämpfe auslöste, dass er sehen konnte, wie sein Bauch davon wogte, während er ächzend in hohem Fieber lag. Nach diesem ersten heftigen Anfall kehrte die Krankheit jeden Monat wieder; schließlich schien er sie auszuwachsen. Er aß weiterhin Gerichte von Garküchen und Straßenverkäufern. Er schoss zu einem Meter achtzig auf. Mit sechzehn kaufte er sich seine erste Sexualerfahrung im Rotlichtdistrikt der Kiangsestraße, und im Gegensatz zu dem, was seine Lektüre ihn glauben gemacht hatte, fand er sie nicht widerwärtig oder abstumpfend, sondern reizvoll, wenn auch unvollständig, da ohne jeden Zusammenhang.
Nach diesen anfänglichen Sexualerlebnissen betrachtete er Frauen mit großem Interesse. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber offenbar bemerkte die Frau eines Arztes aus Berlin sein Interesse. Sie verführte ihn, eine Aufgabe, die ihr keine Schwierigkeiten bereitete, sobald er begriffen hatte, dass ihm angeboten wurde, was er am meisten begehrte. Prompt verliebte er sich in sie. Ach, das war es also, worauf er gewartet hatte, was er erwartet hatte. Da war zum einen der Sex und da war zum anderen die Schwärmerei, aber wenn er beides in einer bestimmten Frau zusammenfügte, entstand ein unwiderstehliches neues Spiel, eines, das bis in sein erstes Jahr an der Schanghai-Universität andauerte, wo er sich mit zwei chinesischen Jungen anfreundete und in ihre Elternhäuser eingeladen wurde.
Die japanische Invasionsarmee näherte sich der Stadt. Die chinesischen Truppen verbrannten einen Großteil von Hongkew, die Japaner