Das Lied der Eibe. Duke Meyer

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Название Das Lied der Eibe
Автор произведения Duke Meyer
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783964260109



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kam sie zu uns und wurde eine Katze so wie wir. Eine von uns. Mit uns. Sonnentochter. Und dass ihre Haut so schwarz sei, das läge daran, dass die Mutter sie zu lange gewiegt habe. Denn wo sie, die Erilar, herkam, bevor sie eine Erilar wurde, eine Runenkundige, sei die Sonne näher und heißer gewesen und – äh ja, „männlich“. Das war mir dann ein bisschen zu hoch. Ob Gottheit oder sterblich: Ein Mann ist doch keine Mutter! Zumal die Haut der Erilar nicht wirklich verbrannt ist, sondern einfach nur dunkel. So dunkel wie die Augen meines toten Bruders, des geliebten. Obwohl meine Augen die Farben des Wassers haben und mein Haar hell ist wie das von Sif selbst: wie das reife Korn im Wind! Egal. Hauptsache ist, dass wir alle Katzen sind. Kinder der leuchtenden Großen Herrin, der Sonne am Himmel.

      Ich weiß jetzt wieder, wie die Ansuz geht. Ritze ins Holz. Runter, kräftig: ein langer Strich. Ganz gerade, steil und stolz. Kerb ihn rein in den Speerschaft, in seine Rundung. Atme durch, konzentriere mich und setze nochmal an: am oberen Ende des Strichs, direkt an dem Ende, seiner Kante. Ritze von da aus schräg runter: den Ast, den einen. Muss plötzlich lachen. Das ist doch auch ein Zeichen? Ja, ich erinnere mich der Weisen Frau, der Erilar Worte. Wie heißt das Ding? Laguz! Das fließende Wasser, der Lauch! Das ist nicht die Rune, die ich ritzen will. Ein einziger Schräg-Ast macht den Unterschied. Es ist schon kompliziert mit der Zauberei. Es kommt aufs Detail an, aufs verdammte. Zum Donner! Fast scheint es mir einfacher, einen wehrhaften Mann zu erschlagen, was ja auch geübt sein will, als diesen ritzigen Fitzelkram herzukerben. Alles so klein hier! Hochkonzentriert: Der zweite Ast kerbt sich parallel zum ersten in die Schaftrundung. Dies ist Ansuz. Jau, jahu, gelungen! Die erste! Wie viele Runen sollen es werden? Sechs, sagte die Erilar, sechs mindestens. Warum sechs, fragte ich. Denn ich bin ja kein Erilar. „Weil sechs das Zeichen des Könnens ist, der Fackel, der Kunst. Und acht schaffst du ja sowieso nicht.“ Sagte die Erilar. Und hat gelacht. Dieses kehlige Lachen, das ich an ihr so liebe. Natürlich schaffe ich acht – hab ich mir vorgenommen. Eine ganze Ætt: eine Familie, eine Sippe! Aber ich sehe schon: Das wird schwierig. Die zweite Ansuz-Rune, die ich ritze, gerät weniger ideal als ihr Vorbild. Ihr zweiter Ast ragt links ein Stück über den Rückgratsstab hinaus. Mist! Hoffentlich gilt das noch… Außerdem ist sie kleiner als die erste. Gleich die nächste ritzen! Mit Schweiß und Not gelingen mir vier – aber irgendwie sehen sie alle aus wie die Kinder, die ich noch nicht zeugte: eins missratener als das andere. Ansuz, Ansuz, Ansuz…

      Verzeiht mir, ihr Großen – meine Pfoten sind zu grob, diesen Zauber vollendet zu weben, aber ich hoffe und bitt‘ euch, ihr versteht, wie mein ungelenkes Ritzen gemeint ist. Ihr versteht doch? Um Schutz ruf ich euch an, dich, Speerschüttler, dich, Hammerwerfer, dich, fauchende Sonnenkatze, Herrin des Krieges, den es zu gewinnen gilt: für mich, für den toten Bruder und den lebendigen, der noch keiner ist, für alle Katzen vom Stamm der Katzen – macht meine Hand sicher, lasst diesen Schaft, den sie wirft, über oder in das Heer der Feinde fliegen! Macht mich, bittebittebitte, unverwundbar, groß und mächtig wie den Schreckensbringer selbst! Leiht mir seinen Mantel! Macht mich unversehrbar für Pfeil, Speer und Axt! Denn ihr Großen wisst ja, worum es geht! Wir sind die Katzen! Die, denen wir morgen gegenüberstehen, nennen sich auch so – doch sie sind keine! Die paktieren mit den Legionen des eisernen Lindwurms… von denen sie auch ihre Schwerter haben. Ein römischer Pfeil war es, der meinen Bruder fällte! So weit zu uns hinauf wären die Schildkrötenpanzer des großen Lindwurms aber nie geklappert gekommen, hätten die vom Stamm der falschen Katzen ihnen nicht den Weg gewiesen und bereitet. Wir werden sehen, wer morgen den Speer übers Heer schleudert – es Gungnirs Schüttler weiht, dem Leichenschwelger und seinen schwarzgefiederten Töchtern.

      Leiber will ich fällen, Krieger töten, Schwerter von Armen trennen mit der Schneide meiner Klinge, Schädel zertrümmern und in Augen sehen, die brechen, während ein roter Fluss den Schmerz lindern soll, den das bleiche Antlitz meines jüngsten Bruders hinterließ. Ansuz, Ansuz, Ansuz… Atmet mit mir, ihr Großen: Leiht mir euren Atem, den langen. Wenn ich falle, sollen tausend Katzen meinen Tod rächen – wie ich den Fall meines Bruders räche an so vielen von diesen Lindwurmkriegern, wie mein Speer, mein Sax, meine Axt, meine Keule – oder mein bloßer Arm erreicht. Feuer schleudern sie durch die Luft, heißt es – doch es bricht sich an den Bäumen. Morgen noch nicht: Erst stellen – und fällen – wir die falschen Katzen, Lindwurms Vorhut. Die haben kein Feuer. Doch wir das der Sonne. Wir sind die Katzen. Krieger Freyjas, der Herrin der Lust, der Vanadís. Ich ritze die Ansuz. Ein-, zwei-, drei-, sechsmal. In den Schaft meines Speers. Der übers Heer fliegen wird. Das Heer der Feinde. Sie dem Einäugigen opfernd. Hoch steht Mani am Himmel. Was höre ich? Die Geräusche des Lagers, wieder. Gesprächsfetzen, Feuerknacken, Scheitgeprassel, Lachen. Rundmond: fast voll. So neigt sich die Nacht! Einem roten Morgen entgegen. Dem Tag der Entscheidung. Zurück, rasch zurück: für ein, zwei Hörner am Feuer – und eine Mütze Schlaf!

      Nachtrag. Ich überlebte die Schlacht, und mein Blutsbruder in spe auch. Wir siegten! Gewannen die Schlacht – verloren den Krieg. Andere Geschichte. Ich starb Jahre später. Im Kampf gegen Hennen. Die ich versuchte, aus dem obersten Speicher der Scheune zu verscheuchen – wobei ich vom Balken fiel. Als ich erwachte, war ich tot. Ich sah ins Antlitz der Sonne. Komm ich zu dir, bin ich daheim? Fragte ich. Die Große lächelte. Ich schämte mich, den Strohtod gestorben zu sein: als Krieger! Nicht nach Walhall gekommen. Nicht zu Odin – so sein Name – und den Einherjern. Doch die große Katze lächelte. Willkommen in Folkwang, flüsterte sie. Hier ist es viel schöner. Du bist meine erste Wahl. Und – so ich zu euch – nichts sonst geht euch Sterbliche an. Weshalb es keine Überlieferung gibt von diesem Ort. Lebt euer Leben. Macht‘s gut!

      Felzritzungen mit Runen, Sollentuna, Schweden

       KAPITEL IV

       Warum und wie Runen in heutiger Zeit sinnvoll anwendbar sind

       GEDANKEN ZUR GEGENWART

      Rund 1.500 Jahre später: Die Kämpfe und Nöte unseres Erzählers (aus dem vorigen Kapitel) sind vergessen. Mama Globus trägt über sieben Milliarden Menschen, weit mehr als je zuvor, und ein Großteil ihrer Zivilisationen lebt mit elektrischem Strom. Die wenigsten Erwachsenen haben noch Angst vor Blitzen oder verehren irgendwelche Donnergötter. Vergöttert wird vielmehr ein weltumgreifendes Magiesystem namens Geld. Selbst der eine große Gott, der keine anderen neben sich zulassen will und damit über anderthalb Jahrtausende höchst erfolgreich war, wird in den Industrienationen oft nur noch geduldet oder als zeremonieller Zierrat aufgefasst. Seine Alleinherrschaft jedenfalls ist vorbei und kehrt genauso wenig wieder wie das Zeitalter der Dampfmaschine und ihrer Vorgängerinnen, allen Dampfplauderern – auch allen Wächterräten, Sprengstoffgürtelzündern, Kalifatserköpfungsmaßnahmen sowie dem gesamten Bible Belt – zum Trotz. Der Himmel ist nicht länger sauber, aber, so weit wir sehen und schießen können, ernüchternd unbewohnt. Wir Menschen fliegen längst selbst über den Wolken. Wer sich‘s leisten kann. Die Mehrheit der Menschheit lernte lesen und schreiben – und macht davon Gebrauch. Nur mit dem Denken hapert‘s noch.

      Wozu sich mit Runen beschäftigen? Sind das nicht so schreckliche Zeichen, die noch schrecklichere Nazis benutzt haben und noch immer benutzen – gehört das nicht zu deren unappetitlichen Erkennungsmerkmalen? Ja, das ist auch wichtig zu wissen. Aber die haben das nur geklaut – und obendrein keine Ahnung. Runen sind weder Ausdruck ethnischer Zugehörigkeit noch Künder vorbestimmter Schicksale. Es sind mehrschichtige Bedeutungsträger, die eine große Anzahl von Interpretations- und Anwendungsmöglichkeiten zulassen. Die germanischen Zeichensysteme stammen aus Agrar- und Nomadenkulturen, die stammesrechtlich organisiert waren – und in vielerlei Hinsicht, was ich keineswegs despektierlich meine, der Jungsteinzeit näher standen als dem Mittelalter. Als mögliche Werkzeuge sind Runen so amoralisch wie ein Satz Messer, Schraubenschlüssel oder die Kochfelder eines Elektroherdes.

      Verabschieden wir uns von der Zwangsvorstellung, dass es eine ausschließliche, immer und überall zutreffende