Vampirnovelle. Frank Hebben

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Название Vampirnovelle
Автор произведения Frank Hebben
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783957771254



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auf! Wir sind da.

      Der Motor versackt.

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      Ein Parkplatz an der Regiobahn: die Endhaltestelle. Im Sommer staubgrauer Sand, der bei jedem Schritt wölkt und in der Nase kitzelt, das Zirpen der Grillen; flimmernde Hitze, ein Geruch von Autoreifen und Kamille – doch jetzt ist der Boden steinhart, die Büsche kahl und vereist. Ein nackter Baum im Gegenlicht. Ihr Atem beschlägt, als wir aus dem Taxi steigen, meiner ist dünn, zu niedrige Körpertemperatur; lange her, dass ich getrunken oder etwas gefressen habe. Und ich spüre, wie der Entzug näherkommt, sich wie ein Tier im Käfig aufbäumen wird, wie jedes Mal, so, wie Ruth diese Enge nicht erträgt, wieder ausbricht im neuen Rausch …

      Ich bin ein Junkie.

      Wir alle sind es, stumpf, teilnahmslos oder gefährlich durch die Droge, die wir brauchen. Jeden Tag.

      +

      In der ersten Bahn zurück; wortlos lassen wir das Bier kreisen, blicken an uns vorbei aus dem Fenster: noch diese magische Welt, wo Eistropfen schillern, an Ästen, an Grashalmen. Weite Felder, dann Teiche. Eine Vogelscheuche aus Besenstil und Mülltüten, einen Putzeimer als Kopf. Die Krähe fliegt davon …

      Ava weint.

      +

      Häuserschlucht, so viele Balkone im Schatten, dort eine Wäschespindel, hier stehen Plastikstühle, tote Blumen. Satellitenschüsseln. Eine schmutzige Deutschlandflagge. Mein Handy klingelt, ich gehe ran: Was?

      Bist du crazy‽ Ein Meeting am Samstag? Sein englischer Akzent, den er einfach nicht loswird. Dein, wie heißt das: Betriebsrat hat mir eine E-Mail geschickt …

      Hallo Vater.

      Spar dir den Ton. Du kannst mit deinen Leuten nicht spielen wie mit Rats. Das ist schlecht für die Moral.

      Okay.

      Obwohl ich natürlich weiß, dass –

      Genau, unterbreche ich ihn. Sehe ihn vor mir, sein kantiges Gesicht mit den eisgrauen Schläfen.

      Wir sind eine Corporation, Martin. Wann begreifst du das endlich? Eine Dynastie, zieht er das Wort lang.

      Nein, du bist die Dynastie! Ich bin dein missratener Sohn, eine herbe Enttäuschung.

      Habe gedacht, dass sich das irgendwann ändert, aber –

      … Ich bin immer noch der Taugenichts von früher: keine Ideale, keine Ziele vor Augen. Lebe einfach in den Tag hinein und lasse mich treiben wie ein Teenager.

      Werdet erwachsen, das gilt für euch alle, übernehmt, damn: Wie heißt das Wort?

      Verantwortung?, helfe ich nach.

      Wir haben ein Erbe zu bewahren, das auch deins ist.

      Schon klar.

      No, ich denke nicht, dass dir das klar ist, Martin. Bitte, tu es nicht schon wieder, dafür habe ich dich nicht zum … Vampire gemacht. Du sollst mir eine Hilfe sein, in diesen harten Zeiten, und kein neues Ärgernis. Wäre dein Bruder nicht –

      Tot, knurre ich. Ist er aber. Bist du fertig‽

      Doch er hat schon aufgelegt.

      Dein Dad? Ruth zieht die Stirn in Falten.

      Wer sonst.

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      Hinter uns die Schiebetüren, und während die Bahn weiterzieht, wechseln wir die Straßenseite zum Hauseingang: Die Türklingeln sind adrett beschriftet, andere mit schrägen Etikettierbändern, mit Kreppband und Kuli – oder der Name fehlt ganz. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, schließe auf, und die anderen gleiten die Treppen hoch wie ein Nebel.

      +

      Wir hocken am Frühstückstisch, es ist nach neun; im Ofen diese billigen Aufbackbrötchen, die Kaffeemaschine röchelt vor sich hin. Keiner sagt etwas, bis ich das Schweigen breche: Wo wart ihr gestern?

      Um die Häuser gezogen, meint Johann, der aufsteht, die Klappe öffnet, das heiße Blech mit dem Spültuch herausnimmt. Dampfend. Heiß!

      Sicher, ich meinte … ach egal. Ich sehe ihm dabei zu, wie er die Brötchen einzeln in eine Bastschale legt, dann auf den Tisch stellt. Bedient euch. Ruth greift zu, ich greife zu – Ava hält die Hände im Schoß, schaut nicht auf. Er nimmt sich selbst eins, zersäbelt es in zwei Hälften und streicht Butter und die Marmelade drauf. Beißt rein.

      +

      Erzähl uns von dir … Ruth will sie aufmuntern. Liest du denn gern?

      Was?, fragt Ava.

      Na, welche Bücher kennst du?

      Keine Ahnung.

      Lass dir Zeit.

      Wir warten, während sie an diesen Puffärmeln zerrt.

      Sag schon, herrsche ich sie an – und Ava ruckt hoch: Gestern hat mich das klare Porzellanweiß ihrer Augen fasziniert, dieses Zerbrechliche, und ihr hoffnungsfrohes Lächeln. Heute sind sie stumpf, gerötet und verquollen. An Daumen und Zeigefinger ist schwarzer Nagellack abgeblättert. Ja, beginnt sie, plötzlich ganz ruhig: Harry Potter.

      Logisch …

      Alice im Wunderland. Lolita. Knochenmädchen im Pelze mit Peitsche.

      Von Sacher-Masoch?, grinst Ruth. Ich mag dich, kleine Schwindlerin.

      Das zählt nicht, sage ich.

      Und ob das zählt!

      Na, besser als Der kleine Prinz.

      +

      Wie hat Santana dich gefunden?, wechselt Ruth das Thema und legt sich eine Salami auf die Brötchenhälfte, starrt sie an, ohne zu essen.

      Wer?, fragt Ava.

      Was, wer, fluche ich. Scheiße auch.

      Entspann dich. Johann greift meine Hand, die ich zurückziehe. Ist bloß der Entzug.

      +

      Es war zu kühl, als ich aufgewacht bin. Du hast das Fenster auf Kipp gelassen. Die Bettdecke neben mir. Habe gefroren; wollte noch duschen – überall Blut im Kissen. Hastig die Strümpfe gesucht, meine Sachen. Konnte mein Smartphone nicht finden. Vorm Aufzug gestanden, die grellen Lichter, die Treppen genommen.

      An der Empfangsdame vorbei, erkläre ich.

      Ja, nickt sie, einfach nur raus.

      Ruth knabbert am Brötchen. Und weiter?

      Schmerzen, am Hals, an meinen Handgelenken. Was hast du mit mir angestellt? Das tat höllisch weh!

      Ich zucke die Schultern.

      Alles wie im Traum: verbogene Laternen, ihr wisst schon: solche Uhren wie bei Dalí, dann ein verzerrtes Gesicht, in einer Ecke, das zu mir aufschaut, und plötzlich falle ich sie an: eine Obdachlose, versuche, es aus ihr rauszuholen, obwohl ich gar nicht weiß, was ich von ihr will. Es war … ein Drang, ich konnte mich nicht beherrschen. Kapiert ihr das?

      Sicher, sage ich. Netter Vergleich.

      Kitschig, meint Ruth. Aber das wird schon.

      Später seine Hand, ich drehe mich um, und als würde ich in mein eigenes Spiegelbild schauen, ist da dieser Mann …

      Santana, erklärt Ruth.

      Genau. Ihr kennt den?

      Jepp.

      So hat er sich vorgestellt: mit tiefer Verbeugung, Frack und Zylinder und einer Plastikblume am Revers.

      Der alte Poser, sage ich, und Johann grunzt.

      +

      Erzähl!, fordert Ruth; sie liebt das.

      Na ja, fährt Ava zögernd fort. Durch die Innenstadt zur U-Bahn. Wie eine Hochzeitsbraut hat er mich die Treppen runtergeführt – am Automaten zwei Tickets gezogen, und wir sind rein, hocken auf den gelben Schalensitzen, während