Im Nebel kein Wort. Frank Hebben

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Название Im Nebel kein Wort
Автор произведения Frank Hebben
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783957770981



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ihn ab, wirft ihn auf Stacheldraht und klettert drüber, packt ihre Waffe mit Bajonett, springt in die feindliche Stellung.

      Als Gegner ein Knabe: roter Bartflaum; der Spaten zuckt in seiner Hand. Lilja zögert, schlägt ihm doch den Kolben ans Kinn, dreht das Gewehr, treibt die Klinge bis zur Mündung ins Herz. Blut tränkt den Stoff, ein handbreiter Fleck. Achtung, ruft Dostya hinter ihr, weil ein –

      Warmes Holz; auf einem Strunk in der Sonne ruhen sie sich aus. Ihre Handflächen schmerzen, die Schultern, der Rücken, die Beine, Füße; Dostya stöhnt.

      Haben wir wirklich gekämpft?, fragt Lilja, während sie die Schuhe auszieht, die Socken auswringt. Es fühlt sich so echt an.

      Weil es echt ist – oder besser: war.

      Versteh ich nicht.

      Da gibt’s nichts zu verstehen. Was sagen die Pfaffen? Na, dieses Wunder, das uns das Gift der Schlange ausgesaugt hat …

      Mysterium?

      Ja genau, höhnt sie: Sein Wille geschehe und so.

      Du glaubst nicht daran?

      Dostya schaut hoch. Ich glaube an gar nichts mehr.

      Der Wald trocknet.

      Zeig mir deine Hände.

      Lilja zögert.

      Gib schon her! Mit beiden Daumen befühlt Dostya ihre Haut … Weich wie zwei Daunenkissen. Hast nie auf den Feldern geschuftet.

      Doch. Oft sogar.

      Wer ist dein Vater, der liebe Herr Pastor? Bist aber leicht wie ein Spatz, und deine dürren Ärmchen. Ist die Ernte nicht gut gewesen? Keine Kartoffeln in der Kollekte? Sie grunzt über den eigenen Scherz.

      Hastig zieht Lilja die Finger zurück. Warum beleidigst du mich?

      Tut mir leid …

      Nein, sicher nicht!, springt sie auf; verschränkt die Arme. Bist doch bloß neidisch.

      Dostya schweigt.

      Und du bist schmutzig, sagt Lilja. Du stinkst!

      Gewöhn dich besser dran.

      Beide schmunzeln.

      Eine schwarze Spinne krabbelt am Halm, Lilja beobachtet sie. Also darfst du auch nicht mehr heim?

      Leider.

      Wo hast du denn gelebt?

      Dostya klopft verkrusteten Dreck aus den Sohlen. Also, hör zu: Ich kann dich zum Kloster mitnehmen, dort bist du sicher. Ist ein Tagesmarsch von hier; dann trennen sich unsere Wege.

      Du willst mich allein lassen? Ich weiß gar nicht –

      Jeder für sich. So sind die Regeln.

      Wer sagt das? Diese blöden Steine‽ Sie kämpft mit den Tränen. Ich hab mir das doch nicht ausgesucht; was soll ich denn jetzt machen?

      Überleben.

      Ach ja? Was für ein Leben soll das sein?

      Mittagsstille.

      Deine Uhr tickt ja, staunt Lilja.

      Manche Dinge können wir instand setzen. Autos, Lastwagen — sogar Waffen.

      Wozu?

      Ein Pfad aus Kieseln im Licht. An Ästen, an Wurzeln schimmert Nässe, aber der Schlamm wird schon rissig, die Erdkrume hell. Nach dem Regen gleicht der Weg einem Bachbett, das vertrocknet ist – Klunker von Steinen und Holzstückchen, abwärts geschwemmt; geriffelte Bahnen aus Rinde und Laub. Dann wieder breiig, ständig rutschen die Schuhe weg, weshalb beide am Rand auf Grasbüscheln weiterlaufen.

      Wo bringst du mich hin?, fragt Lilja hinter ihr. Ein Kloster? Was –

      Herrgott! Kannst du nicht Ruhe geben?

      Was für ein Kloster?, beharrt sie.

      Wirst ja sehen …

      Am Überhang ragt ein Tropfstein in die Tiefe wie ein Reißzahn; links wird der Durchbruch von Fichten gerahmt. Noch Fels, noch fester Tritt, bis der Waldboden nachfedert: Ein Nadelteppich dämpft ihre Schritte. Es riecht nach Myrrhe. Farne sprießen und Moos.

      Als hätten sie ein Tor passiert, bricht die Sonne plötzlich ab, sie folgen dem schattigen Pfad — ins Tannendunkel, wo die Stämme dicht an dicht stehen; unten kahles Geäst, wachsgelbes Harz klebt; und nur spärliches Licht dringt durch die Wipfel.

      Wippender Zweig, landet ein Eichelhäher, um seine Beute zu äsen: rupft rotes Fleisch aus dem Fell einer Maus; und fliegt schnarrend auf, als ein Windstoß die Bäume schüttelt …

      Staubige Luft.

      Mir ist flau, seufzt Lilja und kippt um, liegt im Dreck, auf Tannennadeln und Steinchen, verkrampft sich, und ihre Lider flattern, während unter ihrer Haut die Signatur vom Rücken, vom Schulterblatt, am linken Ohr vorbei, bis zur Schläfe kriecht, silbrig wie Wasser im Mondlicht. Sie träumt, vom kitzelnden Bart ihres Vaters, wenn er sie küsst: Gute Nacht, mein Engel. Von ihrem Bett, dem kühlen Stoff, den Daunen in bestickten Kissen. Andrejs Stimme. Einem Teller in der Küche, der scheppernd zerbricht. Und wie sie das Gewehr anlegt, den Schluss an einer Stirn platziert; nochmals abdrückt.

      Schreckt auf! Abends; ein Lagerfeuer brennt auf einer Lichtung, die Tannen im Hintergrund sind Geister. Dostya hat Grassoden eckig ausgestochen und beiseitegelegt und das Feuer mit einem Steinring gesichert – die Zeltbahn, im Rücken, an Sträucher geknotet und daneben der Schirm aufgespannt; großer und kleiner Wärmespiegel. Die Wäsche trocknet. Vorne ist Nadelholz geschichtet: Harzgallen platzen, versprühen Funken und Qualm, der in ihren Augen beißt, weil das Feuer schwelt; endlich aufprasselt, als ein kühler Hangwind weht.

      Eng beisammen, mit ihrem Mantel bedeckt: Dostya hat den Arm um Lilja gelegt und hört, wie das Mädchen leise weint; beide starren zur Glut, wo ein Windhauch die Asche zerwühlt. Die Scheite glosen. Es knistert und knackt. Ich war Krankenschwester, sagt sie, um etwas zu sagen.

      Hm?

      Kurz nach Weihnachten, nach der Schlacht von Verdun, wir verluden gerade Invaliden in einen Lazarettzug, da fielen diese Splitter vom Himmel. Erst dachten wir noch: ein Beschuss, nur kein Laut, kein Flattern oder Sausen wie bei Granaten, nein, sie sanken so still wie der Schnee.

      Das klingt schön, flüstert Lilja.

      Dostya schüttelt den Kopf. Ganz in der Nähe ging einer davon runter, riss einen kleinen Krater ins Feld – lag, oder vielmehr stand er dort, funkelnd hell, wie ein Christbaum.

      Seine Tränen …

      Schwarzes Manna. Die zerbrochenen Schalen. Nenn’s, wie du willst!

      Der Stein hat uns irgendwie … angelockt: eine Stimme, ganz leise, im Kopf. Nur an diesem einen Tag konnte ich sie hören, später nicht mehr.

      So ein Flüstern?

      Genau.

      Lilja blickt auf. Ich habe ein Wort davon behalten. Willst du wissen, welches?

      Ehrlich?, staunt sie.

      Sei …

      Sei was‽, fragt Dostya laut.

      Woher soll ich das wissen?

      Sie streicht Liljas fettiges Haar aus dem Nacken, um ihre Signatur zu sehen: silberne Muster, Kreise. Armes Kind. Blutjung und schon gezeichnet.

      Was uns gar nicht in den Sinn kam, fährt sie fort, dass es eine neue Waffe hätte sein können, etwas Chemisches; etwas aus den Laboren des Feindes – eine Kriegslist, verstehst du?

      Wie das trojanische Pferd?

      Hallo! Sie hat in der Schule aufgepasst.

      Kannst du das nicht einfach lassen?

      Von mir aus, grient sie.

      Danke.

      Sternklare Nacht, ein Halbmond steigt. Der erste Tau. Unter der Kapuze