Im Nebel kein Wort. Frank Hebben

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Название Im Nebel kein Wort
Автор произведения Frank Hebben
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783957770981



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      Eine Böe rüttelt am Schirm, sie umklammert den Elfenbeingriff. Bergab in kleinen Schritten – tritt Kiesel los, die kollernd ins Gras rollen. Unten flutet Regen den Waldweg, gestaut von Reisig, Schutt und Schlamm. Es gurgelt und plätschert.

      Die Äste neigen sich knarzend. Lilja stapft durchs Laub, bis ihr der Fuß weggleitet; ihre Hände im Schlick, der weich und schwarz wie Tierkot ist, und schüttelt ihn ab, steht auf. Nackte Beine, die Strickjacke pitschnass.

      Andrej, neben ihr im Unterhemd, rote Hosenträger, aber barfuß wie sie: Wo, zum Teufel, willst du hin?

      Komm.

      Ein Knistern in der Luft, ehe Lichter über die Anhöhe tasten: bleiche Flammen, gasblau und gelb – kribbelnd, wie Niesel auf der Haut, dann ein Ziehen, es brennt; ihr Arm versteift, der Schirm rutscht aus ihrer Hand und der Rucksack in den Matsch, bevor Dostya umfällt, zum Wald starrt, jetzt eine graue, zerbombte Kraterlandschaft. Verkohlte Bäume. Granathülsen stapeln sich. Und Schatten zielen auf Schatten. Nein!

      Nur ein Erdloch; doch so, als würde der Wald mit reingezerrt: struppiges Gras und Wilderdbeeren. Die Stämme wie Säulen einer Kirche. Lilja, an knotigen Ästen verheddert, zwängt sich hindurch.

      Andrej folgt ihr.

      Mittig sind Stöcke wie zum Feuer aufgestellt, und Lilja geht vor, kippt alles um, darunter verborgen ein Quarzkristall, der aus einer Stufe emporgewachsen scheint; kindsgroß. Auf den glatten Seiten spiegeln sich Himmel und Erde – lupenrein: Ameisen, Blätter, Wolken. In den Ohren pocht das Blut.

      Oh, macht Andrej.

      Lass es uns anfassen! Ihre Wangen glühen. Sie nimmt seine Hand.

      Das dürfen wir nicht.

      Lässt sie los. Ach so?

      Es ist verboten, und das weißt du.

      Feigling.

      Bin ich nicht …

      Bist du wohl!

      Na gut, auf drei.

      Zwei, sagt Lilja. Eins.

      Sie nicken sich zu, sie lächeln — worauf beide jeweils eine Facette berühren: kalt; schmerzt, saugt sich fest! Es tut weh, schreit er.

      Dostya, schwankend, noch immer die Bombentrichter vor Augen und den Stacheldraht; hört das Geschrei der Soldaten, das Knattern der Gewehre, wie aus weiter Ferne, ehe die Bilder ganz verblassen. Schaut mit an, wie Lilja den Leib schüttelt; ihm auf die Brust boxt, ihn beatmet, weint. Blut überall – quillt dem Mädchen aus der Nase, rinnt dem Jungen aus dem Schädel, dünn vom Liquor, ins Laub. Jetzt hilf uns doch!

      Andrej, verkrümmt, er stöhnt.

      Mach was, schreit Lilja.

      Gut, sagt sie. Dreh dich um.

      Hinter ihr ein scharfes Knacken.

      Kauernd, die Hände im Schoß; das Blut tröpfelt über ihren Mund, vom Kinn, sie wischt es ab, es läuft nach.

      Drück zwei Finger auf deine Nase.

      Hast ihn einfach totgemacht. Wie kann das sein? Das ist unmöglich!

      Nicht für uns Steinkinder.

      … Müssen ihn begraben, wimmert Lilja.

      Nein, das Fleisch gehört dem Wald.

      Ich hole Papa! Sie will aufstehen, wird von Dostya auf die Füße gezerrt. Hör zu, Kind: Du bist markiert, du kannst nie mehr zurück.

      Lilja rührt sich nicht.

      Und wieso hast du kaum was an? Wirst dich noch erkälten.

      Doch egal, brüllt sie, heftig schlotternd; reißt sich los. Lass mich in Frieden, Hexe! Lilja dreht sich weg und rennt davon.

      Dumme Göre, flucht Dostya, den Zettel zerreißend, betrachtet danach den Stein: ein Bruchstück, vielkantig, glasklar und mit reinen Kristallflächen. Wie schön er ist! Sie legt ihre Hand auf, schließt die Augen – zieht die restliche Kraft ab.

      Noch der Wald; noch ein Abhang, Halme kitzeln, dann querbeet – ein Acker, wo der Rotkohl verfault, Rillen und Furchen, plötzlich: Schützengräben, Knochen, Schädel. Niemandsland. Todeszone. Das Kampfgas kratzt in ihrer Kehle. Ein Geheul in der Luft, leiernd, als die Geschosse niederregnen, sind Blindgänger; eine Kapsel qualmt gelb und zischelt. Lilja hinkt übers Feld. Hilfe, schreit sie.

      Am Horizont stehen Bäume wie abgebrannte Streichhölzer. Und über allem das Flugzeug – ein Vogel, nach Aas spähend; dreht lautlos ab.

      Und sie sieht Zinnsoldaten, die sich mit dem Bajonett abstechen; sich ins Herz schießen, in die Lunge, in den Kopf. Den Reiter auf seinem Ross, mit rostiger Stacheldrahtkrone, dessen Gesicht spiegelglatt ist: weder Augen, noch Nase, nur der Mund obszön verfärbt, trunkene Lippen; mit gezücktem Säbel galoppiert er – voran, voran! –, bis ihn die Kugel im Maschinenfeuer abwirft. Der Krieg. Und der Tod stakst auf Krücken, als Pestarzt oder Vogelscheuche, zählt seine Beute wie Münzen. Hilfe!

      Im Dunkeln ein Licht. Lilja folgt ihm zur Ruine einer Kathedrale: Gewölbe und Altar sind weggebombt und die Fenster in bunten Scherben auf dem Marmor verstreut. Die Bänke schwarz verkohlt, schwelend, die Pfeiler gesplittert; auf der Apsis steht die Madonna neben Heiligen wie eine Krankenschwester bei den Feldgrauen.

      Das Kreuz hängt schief.

      Lilja macht kehrt, stolpert einen Erdwall entlang, in einen Schützengraben — über Säcke und Helme, Patronenkästen, Holzbalken; über Telefonkabel, Kochgeschirr; über Spielkarten, Zigaretten, Flaschen, Schaufeln, Maschinengewehre, die nach Urin stinken wie alles andere auch; und nach Blut, nach Fäulnis; ein abgetrennter Arm, eine Leiche, ewig schlafend, an die Bretterwand gelehnt; und niemand hockt im Unterstand, um die Kanonade auszusitzen. Sie ist allein, und es wird hell.

      Sie flieht nicht länger, liegt, mit gefalteten Händen, rücklings im Schlamm und schaut zum Firmament: Wie groß der Mond steht! Diese herrliche Ruhe, seit der Angriff vorbei ist. Kein Floh beißt sie mehr, kein Ungeziefer in der Uniform. Lilja seufzt erleichtert; sie hat Durst, sucht nach dem Tornister: nicht da; auch ihr Gewehr fehlt. Seltsam alles.

      Wind streicht durchs Gras.

      Ein Knall, ein neues Licht – wie Signalraketen in den Himmel aufschießend, quarzgrau. Müde hebt Lilja den Kopf, reibt sich den Schlaf aus den Augen. Ich will nicht mehr, sagt sie.

      Neben Rotkohlköpfen, dort findet sie das Mädchen, halb erfroren, blaue Lippen. Meine Güte, steh auf! Und hält den Schirm über sie, während Lilja sich aufrappelt, so dürr, wie eine Porzellanpuppe zerbrechlich. Komm mit, sagt Dostya, hakt sich bei ihr unter, schleppt sie zur Kastanie, wo eine verwitterte Bank steht.

      Lilja zittert, die Augen rot verheult. Ich möchte sterben, sagt sie.

      Unsinn. Dostya kramt im Rucksack, nimmt Unterzeug, Wollsocken, den Zweitpullover, eine weite Hose, die Lederschuhe und ein Handtuch, das sie gleich ausbreitet. Zieh die feuchte Wäsche aus! Lilja tut es, stocksteif, es dauert. Gut so … Behutsam reibt Dostya ihr den Rücken ab, danach Arme und Gesicht, Brust und Beine, bis die Nässe, der Dreck weg sind — reicht ihr die neuen Sachen. Zuletzt streift sie ihre Mütze vom Kopf, stülpt sie Lilja übers Haar. Na? Schon besser. Ein Wolfsgrienen.

      Danke.

      Deine Hose ist mir viel zu groß! Lilja zieht den Bund lang. Auch diese Schlappen …

      Haben wir gleich, sagt Dostya und hilft mit einer Kordel aus, stopft ihr jeweils eine Socke vorne in den Schuh. Besser?

      Na ja.

      Geh weiter.

      Wohin?

      Bloß weg, sonst kriegen wir Besuch.

      II

      Reife, rote Hagebutten – und gegenüber ein Tümpel: Schilf an den Rädern; das Bächlein gluckert, fließt nach unten. Dostya horcht hin, worauf sie den Schirm zuklappt.

      Der