Название | In der Vertikale |
---|---|
Автор произведения | Engelbert Guggenberger |
Жанр | Религия: прочее |
Серия | |
Издательство | Религия: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990404522 |
Noch etwas schlaftrunken queren wir im Morgengrauen die Schotterhalden am Wandfuß des Torre d’Alleghe auf der Suche nach dem Einstieg in unsere Tour. Zustieg und Einstieg sind in einer alpinen Route nicht bezeichnet, man muss sie selbst finden. Eine kleine Unachtsamkeit kann zeitraubende Folgen haben. Und die passiert uns heute. Wir geraten am Fuß unseres Turms in den falschen Kamin und müssen, als wir den ärgerlichen Irrtum bemerken, alles wieder abklettern. Jetzt passen wir aber auf. Wir finden den richtigen Kamin, queren an seinem Ende über ein Felsband nach rechts hinaus und stehen bald am Einstieg. Beim ersten Blick nach oben bleiben wir beide wie angewurzelt stehen. Ein Bilderbuchriss spaltet den Berg und zieht wie eine Rakete gegen den Himmel. Doch jählings wird der nach oben schweifende Blick durch ein Hindernis gestoppt. In etwa hundert Meter Höhe klafft ein schwarzes Loch und lässt ein gewaltiges Dach sichtbar werden. Das muss wohl die Schlüsselstelle sein, in der sich Raffaele Carlesso seinerzeit in gewagter Kletterei einen Durchstieg erkämpft hat und Lino Lacedelli geflogen ist. Ich bin schon gespannt, wie es uns dabei ergehen wird.
Die ersten beiden Seillängen im oberen fünften Grad kommen uns da gerade recht, um unseren Körper auf die nötige Betriebstemperatur zu bringen. Dann stehen wir am ruhmvollen Schauplatz und mustern die uns verbleibenden Möglichkeiten. Roland fällt die nächste Seillänge zu. Ich lehne meinen Rucksack vorerst einmal an die Höhlenwand und mache mich bereit Roland zu sichern. Er klettert im hinteren Grund der Grotte nach oben, bis er an der Decke ansteht. Von dort muss er über das Dach hinaus an die Kante gelangen. Zentimeter für Zentimeter gebe ich ihm das nötige Seil heraus, während er weit ausspreizend versucht weiterzukommen. Geschickt nützt er alle Raffinessen der Doppelseiltechnik, hängt da und dort ein und achtet darauf, dass sich die Seilreibung in Grenzen hält. Roland ist ein starker Partner, trotzdem treibt es ihm den Schweiß aus den Poren. Das Dach entlässt ihn nicht so schnell aus seinem Würgegriff. Ich höre seinen schnellen Atem, spüre die Spannung, unter der er steht, und versuche ihn möglichst gut zu sichern. Jetzt hat er den Rand des Daches erreicht, hängt dort noch einmal das Seil in einen Haken, zieht sich hinauf und entschwindet meinen Blicken. Dann stockt der Seilfluss, offensichtlich gönnt sich Roland eine Verschnaufpause. Die hat er jetzt, da das Ärgste vorbei ist, redlich verdient. Aber nicht lange rastet er, dann beginnt das Seil wieder regelmäßig aus meinen Händen zu gleiten und ich weiß, der Kamerad ist gut unterwegs.
Mit Roland stelle ich mich am Torre di Valgrande einer großen Herausforderung.
Als ich von ihm das Signalwort Stand! höre, sind meine Gedanken nur mehr auf das Dach fokussiert. Ich hatte ja alle Zeit der Welt, mir zu überlegen wie ich es angehen sollte, und bin jetzt gespannt, ob meine Strategie auch aufgeht. So sehr bin ich von meinem Vorhaben gefesselt, dass ich ganz auf meinen Rucksack vergesse, der verlassen an der Rückwand der Höhle lagert. Ich sehe nur noch das Dach und sage mir: Eine schwierige Situation bewältigt man am besten, wenn man sie entschieden anpackt. So werfe ich mich in die Schlacht und arbeite mich durch die Schwierigkeiten. Bei Roland angekommen, übernehme ich die Führung der nächsten Seillänge. Der Riss zieht nun wieder kerzengerade nach oben. In Piaz-Technik arbeite ich mich höher, genieße die irre Position inmitten der senkrechten Platten und erreiche den nächsten Stand. Unbändiger Durst überfällt mich. Ich will nach meiner Wasserflasche greifen und stelle mit Schrecken fest, dass mein Rucksack fehlt. Wo ist er denn geblieben? Nervös recherchiere ich in meiner Erinnerung und komme zum Ergebnis, dass ich ihn unten in der Höhle zurückgelassen habe. O Schreck, o Graus, was mach ich denn jetzt?, schießt es mir durch den Kopf. Ohne Rucksack können wir die Tour vergessen. Zu viele notwendige Utensilien enthält er. Auf Jause und Getränke könnte ich ja notfalls noch verzichten, nicht aber auf meine Schuhe. Mit den engen Kletterpatschen schaffe ich den Abstieg bis zur Coldai-Hütte nie. Da kann ich gleich barfuß gehen. Ich wage gar nicht Roland mein Missgeschick zu gestehen. Vor allem auch deshalb nicht, da mir in den letzten Tagen bereits einige Peinlichkeiten passiert sind. Eines Abends beispielsweise – es war schon längst Hüttenruhe am Rifugio Coldai – war ich noch einmal vor die Hüttentür getreten, mit der Absicht, dort meine Dehnübungen ungestört verrichten zu können. Durch einen Luftzug fiel die Tür ins Schloss. Nun saß ich ausgesperrt im Freien. Ich hatte zwar mein Handy dabei, aber Roland hatte, wie ich merkte, das Seinige bereits auf stumm geschaltet. So konnte ich ihn nicht erreichen. Ich suchte nach einem Schlupfloch, um ins Haus zu gelangen. Ich wollte doch nicht vor der Hütte biwakieren. Doch so sehr ich mich auch abmühte, ich fand kein offenes Fenster, um ins Innere zu kommen. So musste ich notgedrungen Lärm schlagen und den Wirt wecken. Dieser war natürlich alles andere als begeistert. Er fragte mich wütend, wie alt ich denn wäre und ob man mir denn noch eigens sagen müsste, dass die Nacht zum Schlafen da wäre?
Das Problem aber, das ich heute habe, ist ein noch viel größeres. Wie soll ich denn Roland die Situation, in die wir jetzt aufgrund meiner Gedankenlosigkeit geraten sind, erklären? Und welche Lösung des Problems soll ich ihm denn nun vorschlagen, außer die Tour abzubrechen? Immerhin, so sagte ich mir, habe ich noch einige Minuten Zeit, bis er bei mir angelangt ist. Dann aber, wenn er vor mir steht, schlägt die Stunde der Wahrheit. Die verbleibende Galgenfrist muss ich bestmöglich nutzen. Während ich ihn sichere und das Seil einhole, suche ich fieberhaft nach einer Lösung. Ich muss, so sage ich mir, mein Geständnis möglichst in eine Kurzformel kleiden und Roland mit einem plausiblen Vorschlag überraschen, noch bevor er seinem Ärger Luft machen kann. Schon sehe ich Rolands gelben Helm unter meinen Füßen blinken, da habe ich das Paket geschnürt. Roland, sage ich, als er vor mir steht, du musst mich jetzt noch einmal zur Höhle ablassen. Ich habe dort meinen Rucksack vergessen. Roland ist sprachlos. Er, der perfekte Organisator, bei dem zu Hause, in der Firma und im Bergrettungsdienst immer alles klappt und wie am Schnürchen läuft, kann es sich nicht vorstellen, dass jemand nicht in der Lage ist, auf seine sieben Zwetschgen aufzupassen. Er schüttelt nur den Kopf. Dann gibt zu bedenken, dass unsere Seile nicht reichen werden. Doch, erwidere ich und versuche selbstsicher zu wirken: Ich habe schon alles berechnet. Es geht sich aus.
Wenn der Verschluss meines Helms einrastet, weiß mein Körper, dass es losgeht.
Noch bevor Roland mir etwas entgegnen kann, reiche ich ihm mein Abseilgerät