In der Vertikale. Engelbert Guggenberger

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Название In der Vertikale
Автор произведения Engelbert Guggenberger
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783990404522



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schwierig. Hermann Buhl hat an diesem Platz 1952 anlässlich seiner Begehung der Route biwakiert4. Wie oft habe ich als Bub seinen Bericht gelesen und mir gewünscht, diese Tour einmal klettern zu können. Jetzt befinde ich mich mitten drin. Gut, dass wir nicht biwakieren müssen, sage ich mir angesichts der beißenden Kälte. Wir sind gut in der Zeit: Es ist gerade erst Mittag vorbei und wir haben bereits zwei Drittel der Tour hinter uns.

      Schiena di Mulo (Eselsrücken) wird die glatte, überhängende Verschneidung genannt, vor der wir nun stehen, und sie ist gefürchtet. So manche Seilschaft hat sich an ihr schon die Zähne ausgebissen. Im hintersten Grund des Kamins, einer Höhle gleich, steige ich an Tropfsteingebilden höher. Unwillkürlich muss ich an die Dinos denken. Ich sage aber nichts zu Marian. Schließlich will ich mich nicht noch einmal blamieren. Dann verlasse ich die Höhle und steige im ersten Stock beim Fenster wieder heraus. Jetzt befindet sich Marian genau unter mir, etwa zehn Meter tiefer. Der Fels wird rutschig, Griffe und Tritte sind rar. Die Sturzbäche, die hier anlässlich von Gewittern dem Wandfuß entgegendonnern, haben den Dolomit marmorglatt poliert. Ein wulstiger Überhang auf der rechten Seite drängt mich nach links ab. Die Sicherungshaken befinden sich außerhalb der Linie. Alle diese ungünstigen Umstände veranlassen mich, mir eine gute Strategie zu überlegen. Um mich weiter oben nicht durch einen hemmenden Seilzug selbst zu fesseln, hänge ich jeweils nur ein Seil in die Sicherung ein. So vermeide ich eine Zick-Zack-Führung meiner Schnüre, was den Tod jeder reibungslosen Fortbewegung im alpinen Gelände bedeutet. Die Maßnahme zeitigt Erfolg. Ich klettere bereits hoch über Marian, seinem Blick schon längst entschwunden, und immer noch lassen sich meine Seile gut nachziehen. Viel Seil zum Ausgeben kann Marian nicht mehr haben, schießt es mir durch den Kopf. Ich muss schon mehr als vierzig Meter geklettert sein. Wo bleibt denn der Stand? Lange quält mich die Frage nicht mehr, dann stoße ich auf zwei Haken und kann aufatmen. Ich verstärke sie noch mit einem Friend und baue daraus eine bombensichere Verankerung, an die ich die Sicherheit meines Neffen bedenkenlos delegieren kann.

      Während Marian zu mir heraufklettert, muss er das Sicherungsmaterial, das ich eingesetzt habe, wieder abbauen. Das aber ist eine relativ leichte Aufgabe im Vergleich zum Tanz auf dem glitschigen Parkett an der Schiena di Mulo, der ihm jetzt bevorsteht. Doch Marian bewegt sich geschickt von einer Herausforderung zur anderen und kommt gut über alles hinweg. Als wir uns oben am Stand wieder treffen, wissen wir: Der Löwenanteil der Tour ist „gegessen“. Der Rest wird uns nicht mehr weh tun. Anfangs folgen wir einem eindrucksvollen breiten Riss, der rund achtzig Meter fast senkrecht in die Höhe zieht. Dann stehen wir auf einer Kanzel, die uns einen traumhaften Rundblick beschert. Über steile graue Platten geht es anschließend rund hundert Meter nach links an die Kante, die den Weg zum Gipfel weist. Die Position am Grat ist luftig, die Kletterei aber nicht mehr schwer. Zwar bremst da und dort noch ein Steilaufschwung unsere Dynamik, doch wir lassen unser Ziel, den höchsten Punkt des Pfeilers, nicht mehr aus den Augen. Am mittleren Nachmittag steigen wir aus der Wand aus, beglückwünschen uns und stimmen darin überein, dass die Begehung des Pilastro für uns ein gewaltiges Abenteuer und ein alpines Erlebnis der Extraklasse war.

      Wo es in einer Wand weitergeht, finde ich nirgendwo angezeichnet. Alpiner Spürsinn ist gefragt!

      2.

      Wohin denn gehen wir?

      BRENTA-DOLOMITEN | CROZZON DI BRENTA

      Via delle Guide

      VI– | 800 Meter

      Diese Frage stellt sich regelmäßig anlässlich der Planung einer Klettertour. Viele Wege bieten sich an, verlockende Ziele stehen zur Auswahl. Wofür soll ich mich mit meiner Kletterpartnerin, meinem Kletterpartner entscheiden? Von der richtigen Wahl hängt viel ab. Die Route darf nicht zu leicht, aber auch nicht zu schwer sein. Enthält sie zu wenig an Herausforderung, können wir uns für sie nicht richtig begeistern, ist sie aber zu anspruchsvoll, löst sie möglicherweise Versagensängste in uns aus. Hier gilt es klug zu wählen. Das ist nicht immer ganz leicht. Folge ich allein meinem Ehrgeiz, gerate ich in die Gefahr mich zu überfordern. Höre ich aber nur auf meine Angst, kann ich am besten gleich zu Hause bleiben. Wie Herkules am Scheideweg, stehe auch ich vor verschiedenen Alternativen und muss mich entscheiden. Diese Gesetzmäßigkeit begegnet mir nicht nur beim Klettern – auch im beruflichen Leben und im zwischenmenschlichen Bereich gilt es klug zu wählen und die Mitte zwischen Unter- und Überforderung zu finden. So gesehen sind meine alpinen Unternehmen in vielem eine Einübung in das, was der gewöhnliche Alltag mir abverlangt.

      Wenn man im Gebirge unterwegs ist, besteht eine erste Aufgabe einmal darin, den richtigen Weg zu finden und dann auch darauf zu bleiben. Das ist aber nicht immer einfach, vor allem wenn ungünstige Witterungsverhältnisse wie Nebel, Regen oder Schneefall die Orientierung noch zusätzlich erschweren. Auch bei einer Klettertour ist eine zuverlässige Wegfindung entscheidend für die Sicherheit der Seilschaft. Unterstützen den Bergsteiger in der Regel befestigte Steige und farbige Markierungen, so ist von all dem bei einer alpinen Klettertour nichts mehr zu finden. Wo man durch eine Wand kommt, ist nirgendwo angezeichnet. Zwar trifft man immer wieder auf gewisse Anhaltspunkte wie beispielsweise Haken oder Bandschlingen. Ein solches Relikt einer vorhergehenden Begehung ist aber auch noch kein sicheres Indiz dafür, dass an dieser Stelle bereits jemand nach oben geklettert ist. Der Kletterer kann sich hier genauso gut nach unten abgeseilt haben – in der Erkenntnis, dass es nach oben nicht mehr weitergeht. Eine Hilfe ist natürlich die Routenbeschreibung, die in einer Skizze, Topo genannt, wertvolle Hinweise gibt. Trotzdem aber ist die Orientierung in der Wand oft nicht leicht. Es bedarf schon eines gewissen Spürsinns, um zu erahnen, wo die Erstbegeher gegangen sind. Leitend dabei ist der Gedanke, dass die Kletterer, die die Route eröffnet haben, den leichtesten Weg durch die Schwierigkeiten genommen haben. Daher gilt es die Schwachstellen der Wand zu finden, denn dort verläuft mit großer Wahrscheinlichkeit die Route. Von der Führe abzukommen, kann sehr gefährlich werden und in einer Tragödie enden. Die Alpingeschichte weiß davon ein trauriges Lied zu singen.

      Das erschütterndste Beispiel vom Verlieren des Weges, das ich je gelesen habe, ereignete sich jedoch nicht im Gebirge, sondern in bewohntem Gebiet. In einem aufregenden Gedicht mit dem Titel Kinderkreuzzug5 beschreibt Bertolt Brecht, wie sich deutsche, polnische und jüdische Kinder, die 1939 ihre Eltern verloren hatten, zwischen den Fronten verirrten. Die Gruppe der Kinder, die von Ort zu Ort zogen, wurde immer größer und umfasste schließlich 55 Jungen und Mädchen. Ein elfjähriges Mädchen schleppte wie eine Mutter ein Kind von vier Jahren mit; ein jüdischer Junge, der unterwegs gestorben war, wurde von zwei deutschen und zwei polnischen Jungen begraben; eine junge Liebe hatte wegen zu großer Kälte keinen Bestand. Die Wegweiser am Straßenrand, vom Schnee verweht, wiesen in falsche Richtungen. Die Kinder hatten einen kleinen Hund bei sich, sie brachten es nicht übers Herz, ihn zu schlachten, um etwas zum Essen zu bekommen. Lange Zeit später fanden Bewohner dieser Gegend einen verhungerten Hund, der eine Tafel aus Pappe an seinem Hals trug, worauf mit Kinderhand geschrieben war: Bitte um Hilfe! Wir wissen den Weg nicht mehr.

      Im Italienischen sagt man zu einer Kletterroute auch Via (Weg). Mir gefällt dieser Sprachgebrauch, besteht doch ein alpines Unternehmen letztlich im Gehen eines Weges, wie steil dieser auch immer sein mag. Wo man sich aber für einen bestimmten Weg entscheidet und ihn bewusst geht, schwingt im Hintergrund mehr mit als das, was man vordergründig vollzieht. Ob man sich dessen bewusst ist oder nicht: Es öffnet sich der Horizont auf die tieferen Schichten des Daseins. Denn jeder kleine Weg ist ein Symbol für den großen Weg, den wir zu gehen haben, den Lebensweg. Unsere Seele, die in archetypischen Bildern denkt und fühlt, nimmt die Botschaft solcher Symbole intuitiv wahr und verarbeitet sie zu unserem Wohl. Aus diesem Grund ist das Gehen eines Weges immer heilsam für unsere Seele, was viele bestätigen, die sich beispielsweise einmal auf den Weg des Pilgerns gemacht haben.

      Der Mensch ist ja wesentlich auf dem Weg. Das sieht bereits die antike Philosophie so, die ihn als homo viator bezeichnet, als einen, der Zeit seines Lebens unterwegs ist. Er hat hier keine letzte Bleibe.