Название | Leben - Wie geht das? |
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Автор произведения | Matthias Beck |
Жанр | Религия: прочее |
Серия | |
Издательство | Религия: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990402306 |
In all dem Hin und Her muss der Mensch Orientierung finden. Er muss das Gute vom Schlechten unterscheiden lernen, die desintegrierenden und ihn in Verwirrung bringenden Kräften von jenen unterscheiden lernen, die ihn zur inneren Mitte und zum inneren Frieden führen. Das geht nicht von heute auf morgen. Es bedarf verschiedener Suchbewegungen, Grenzerfahrungen, Scheiterns und Gelingens, Gesprächs mit Älteren und gegenseitigen Austausches. In Umbruchszeiten, wenn Äußeres zusammenbricht, sucht der Mensch im Chaos des eigenen Lebens nach neuem Halt. Das gilt für die persönliche Biographie, das gilt aber auch für geschichtliche Perioden von Umbruchzeiten.
Die gegenwärtige Zeit ist eine Zeit derartiger Umbrüche. Diese sind begleitet von einem Verlust an Grundwerten, Zerbrechen von Beziehungen und Strukturen, von enormer Zeitbeschleunigung und Verdichtung von Zeit durch immer mehr zu bewältigende Aufgaben. Die Neuorientierungen geschehen in einer ständig komplexer werdenden Welt mit einer nahezu unüberschaubaren Zunahme an Informationen. Außerdem kommt es durch Internet und Handy-Kultur zu ganz neuen Formen der Kommunikation sowie zu einem Gleichzeitig-Werden mit der ganzen Welt. Eine immer tiefere Durchmischung von Kulturen und Religionen. Migrationsbewegungen, Reisen sowie Flugverkehr beschleunigt diesen Vorgang.
Dieses zum Teil undurchschaubare Vielerlei führt zu einer Suche nach Ethik und Spiritualität, der Mensch sucht in dieser aufgewühlten Zeit nach Ruhe, Orientierung und innerer Ausrichtung. Er droht einerseits in der Flut von Angeboten unterzugehen, im Pluralismus von Meinungen und Sinnangeboten seine Orientierung zu verlieren und andererseits zu vereinsamen und in die Isolation zu geraten. Er braucht für sich selbst und für andere neue Orientierungspunkte. Auch die Gesellschaft muss sich neu ausrichten und sich fragen, wohin die Reise eigentlich gehen soll und welche Grundwerte sie aufrecht erhalten will. Was in einer Einzelbiographie in der Pubertät an Unruhe aufbricht und durcheinander gerät, scheint auch in Zeitepochen immer wieder zu geschehen: Umbruch, Aufbruch, neue Orientierung, tieferen Stand finden. Die Gegenwart ist eine solche Zeit der Umbrüche und Transformationen. Sie bedarf einer neuen Ausrichtung und einer tieferen Verankerung des Lebens.
In einer derartigen Zeit der Krise des Staates entstand die Nikomachische Ethik von Aristoteles, ein Buch, das dem Menschen helfen will, wieder Halt und Orientierung zu finden. Aristoteles geht davon aus, dass der Mensch diese Orientierung braucht, wenn er sein Leben nicht verfehlen will. Im letzten will der einzelne, dass sein Leben gelingt. Er sucht nach seinem Glück. Nach diesem Glück strebt – so Aristoteles und später Thomas von Aquin – jeder Mensch, allein der Weg dahin ist schwer zu finden. Glück heißt im Griechischen Eu-daimonia („eu“ heißt gut und „daimon“ ist der Geist). Diesen Begriff kann man frei so übersetzen: dem guten Geist folgen. Der Mensch findet sein Glück, wenn er dem guten Geist folgt.
Glück kann man nicht machen, aber Glück stellt sich ein, wenn man richtig lebt und dem guten Geist folgt. Richtig leben und dem guten Geist folgen bedeutet für Aristoteles: ein tugendhaftes Leben zu leben. Und das heißt wiederum – sehr verkürzt – die vier Tugenden der Klugheit, Tapferkeit, des Maßes und der Gerechtigkeit im Leben umzusetzen. Es bedeutet, in allem das rechte Maß zu finden, nicht zuviel, nicht zu wenig, die rechte Mitte einzuhalten zwischen den Extremen. Der Mensch soll klug entscheiden und klug handeln, mutig und tapfer nach vorne leben und nach der Gerechtigkeit streben. Gerade diese Werte und ein solches Leben interessieren aber den Pubertierenden womöglich gar nicht.
Orientierung suchen heißt auch, nach Selbstvergewisserung Ausschau halten, nach Haltepunkten, die nicht brechen. Einen solchen Versuch, nach derartigen Haltepunkten zu suchen, unternahm schon Augustinus. Er fragte sich, ob in Situationen, wo alles rundherum zusammenbricht, wirklich alles bricht oder ob es nicht doch noch etwas gibt, was sicher ist, woran man sich halten kann. Seine Antwort war: Selbst wenn alles zusammenbricht, selbst wenn der Mensch an allem zweifelt, selbst wenn er sich in vielem täuscht und getäuscht wird, selbst wenn Gott ihn täuschen sollte, so wird ihm doch klar, dass er es selbst ist, der da zweifelt, sich täuscht oder getäuscht wird. Si enim fallor sum: Selbst wenn ich mich täusche, bin ich26, selbst wenn ich in allem getäuscht werde, weiß ich doch, dass ich es bin, der da getäuscht wird, wenn ich mich irre, weiß ich, dass ich bin und dass ich mich irre.
René Descartes hat später diese Grundeinsicht, die Augustinus mit der Täuschung durchreflektiert hat, auf das Denken selbst übertragen. Sein Satz: cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) stellt ebenfalls einen Versuch dar, sich seiner selbst gewiss zu werden. Die Tatsache, dass der Mensch über all diese Fragen nachdenken kann, zeigt, dass er sich in einem nicht täuschen kann, nämlich darin, dass er selbst es ist, der da denkt. Bei Augustinus lief der Weg zur Selbstvergewisserung über die Täuschung, bei Descartes über das Denken, heutzutage würde er vermutlich über das Fühlen oder das Nicht-mehr Fühlen laufen.
Viele Menschen sagen: Ich fühle nichts mehr, es ist so leer in mir, es ist alles wie abgetötet. Die Depression ist nahezu Volkskrankheit Nummer eins geworden. Manche wollen cool sein, Spaß haben, Chillen. Und hier könnte man sagen: ja, es ist so leer in dir und du fühlst nichts, aber du kannst erkennen, dass du es bist, der nichts fühlt und dass es deine Leere und Gefühllosigkeit ist. Und man könnte sogar hinzufügen: Du kannst etwas dagegen tun. Heidegger würde sagen, der Mensch ist immer irgendwie gestimmt: traurig, fröhlich, leer, erfüllt. Der Mensch kann aber darauf reflektieren, dass es seine Stimmung ist und nicht die eines anderen. So kann der Mensch auch im Bereich der Stimmungen und Gefühle eine Art Selbstvergewisserung suchen: Ich fühle, also bin ich, oder: ich fühle nichts, also bin ich. Aus dieser Perspektive tritt das Ich in den Vordergrund. Aber es muss gefragt werden, ob dieses Ich schon das letzte ist, das den Menschen ausmacht oder ob auch das Fühlen, das Denken und das Getäuschtwerden auf etwas anderes verweist, ob es nicht eine dialogische Struktur hat.
Kehren wir zunächst zurück zum Lebensvollzug. Der Mensch in der Umbruchzeit sucht Halt, zunächst bei den Mitmenschen. Aber gerade diese Menschen wie zum Beispiel die Eltern verlieren ihren Absolutheitsstatus. Das Elternhaus wird brüchig, man beginnt sich davon zu entfernen. Wenn es gut geht, sind Freunde da und Gleichgesinnte, auf die Verlass ist. Neue peer-groups entstehen, es finden sich Gleichaltrige, mit denen man auf Augenhöhe diskutieren kann. (Missbrauchsfälle entstehen oft in Situationen, wo Abhängigkeitsverhältnisse bestehen und gerade keine peergroups vorhanden sind und nicht auf Augenhöhe miteinander kommuni ziert wird.) Gerade in einer solchen Phase braucht man Menschen, mit denen man sprechen kann, mit denen man seine Probleme und Visionen teilen kann. Mancher gerät auch in Gruppen, die ihm nicht gut tun. Selbst wenn der einzelne das spürt, dass er in falschen Gruppen unterwegs ist, scheint für ihn die Hauptsache zu sein, nicht allein zu sein, irgendwo dazuzugehören, verstanden zu werden, angenommen zu sein, nicht ausgestoßen zu werden und geliebt zu sein trotz der schwierigen Phase, in der er steckt.
Diese Fragen bleiben ein ganzes Leben lang: wo bin ich zu hause, wo kann ich mich anlehnen, wo finde ich meine innere Ruhe? Wo bin ich anerkannt und akzeptiert, selbst in meiner Unleidlichkeit? Wo kann ich so sein, wie ich bin, wo muss ich mich nicht verstellen? Wohin soll der Mensch sich wenden, wenn der Halt bei den Mitmenschen verloren geht, wenn Mitmenschen ihn enttäuschen, wenn Eltern nicht da sind oder ihre Autorität und Absolutheit verlieren, wenn beginnende Freundschaften zerbrechen, wenn man sich selbst nicht mag und keine rechte Beziehung zu sich selbst und zu anderen aufbauen kann, wenn man gar ein anderer sein möchte und in die Einsamkeit gerät. Da ist oft Leere und Verzweiflung.
Die größte Verzweiflung ist die, so hat Sören Kierkegaard es formuliert, ein anderer sein zu wollen, als man selbst ist: „Diese Form von Verzweiflung ist: verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder noch niedriger: verzweifelt nicht ein Selbst sein wollen, oder