Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz

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Название Leben auf brüchigem Eis
Автор произведения Eveline Luutz
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960082040



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und schleuderte die Wellen machtvoll gegen den Strand. Immer neue Wolken schob er zu dunklen Wolkengebirgen zusammen, zwischen denen kein Sonnenstrahl hindurch zu dringen vermochte. Es sah aus, als werde sogleich ein Unwetter niedergehen, doch noch ehe die schwarzen Wolken sich ihrer Last entledigen konnten, hatte der Wind sie weiter ins Binnenland hinein geschoben.

      In diesem Jahr würde niemand die bunten Ostereier für die Kinder im ersten Grün des Grases verstecken können; alles war noch kahl.

      Mama und ich hatten verabredet, die freien Tage gemeinsam an der Ostsee zu verbringen. Zwar wohnten wir nur gut fünfzig Kilometer vom Meer entfernt und gleich hinter unserem Grundstück erstreckte sich ein kleiner, klarer See, in welchem wir vom frühen Sommer bis in den späten Herbst hinein badeten. Dennoch besaß das Meer einen ganz besonderen Reiz für uns beide, der uns immer wieder dazu verlockte, ab und an ein Zimmer auf dem Darß zu mieten. Jedes Jahr vertauschten wir, in der Regel außerhalb der Saison, für ein paar Tage unser Haus mit zwei kleinen Zimmern unter dem Dach von Frau Krawuttke. Frau Krawuttkes Katen lag gleich hinter dem Deich und vom Dachfenster aus konnte man das Meer riechen und sich nachts vom Auf und Ab der Brandung in den Schlaf wiegen lassen.

      Ein weiterer Grund für unsere immer wiederkehrenden Besuche in Zingst war, dass hier Onkel Friedhelm und Tante Annelies wohnten.

      Tante Annelies war eine Schwester von Opa Max, Mamas Vater. Seit Opas Tod verkörperten Annelies und Friedhelm unsere nächsten Verwandten. Jede Reise nach Zingst bedeutete, gemeinsame Zeit mit diesen lieben Menschen zu verbringen. Onkel und Tante waren inzwischen alt geworden. Es war absehbar, dass ihr Leben sich dem Ende zuneigte. Onkel Friedhelm lebte zudem seit ein paar Jahren mit einer schweren Krankheit. Er hatte Krebs. Irgendwie hatten beide sich mit der Krankheit ausgesöhnt. Sie lebten damit unaufgeregt, um das Ende wissend, jede gemeinsame Stunde wie ein Geschenk empfangend. Seit dem Jahreswechsel hatte sich der Gesundheitszustand des Onkels gravierend verschlechtert, ein weiterer Grund, mit einem Besuch nicht lange zu warten.

      Wenn Mama und ich in Zingst weilten, dann fuhren wir stets einmal hinüber, auf die andere Seite des Boddens, um Großmutter zu besuchen.

      Großmutter wohnte in dem großen Haus, das mein Großvater einst erbaut hatte, ebenerdig in einer separaten Wohnung, bestehend aus einem Wohnzimmer mit integrierter Kochnische, einem schmalen Schlafraum und einem kleinen Bad. Es gab in Großmutters Reich keinen Platz zum Übernachten für uns und bei Griseldis, Mutters Schwester, nahmen wir nie Quartier. Dabei war das Haus groß und geräumig. Meine Cousins, Stefan und Sebastian, beide viel älter als ich, lebten seit Jahren in Stuttgart. Ihre Zimmer standen leer. Dennoch zogen wir Zingst vor und das nicht zuletzt, weil nur zehn Gehminuten von unserer Ferienwohnung entfernt in einem mit Reet gedecktem Katen Tante und Onkel lebten.

      Das Haus dieser beiden lieben Menschen stellte für mein kindliches Schönheitsempfinden lange Zeit den Inbegriff eines schönen Hauses dar. Onkel Friedhelm hatte das Haus von seiner Großmutter geerbt und es mit viel Liebe zum Detail restauriert. Die Tür, meerblau, mit leuchtend gelben Sonnen bemalt, liebte ich ebenso innig wie die blaue Gartenbank neben der Haustür und die blauen Fensterrahmen. Stundenlang konnte ich als Kind auf der Bank sitzen und mit den Beinen schlenkern. Meine Augen wanderten derweil den Garten ab, in welchem im Sommer Rosen, Reseda und Dahlien blühten, in dem Himbeeren und Stachelbeeren reiften, aus denen die Tante köstliche Marmeladen kochte. Ich liebte das Haus. Ich liebte den Garten. Und ich liebte Onkel und Tante.

      Tante Annelies war eine korpulente Frau mit einem großen Herzen und einem ebenso großen Busen. Wenn sie mich zur Begrüßung umarmte, fühlte ich mich sogleich warm und aufgehoben. Ihr weicher und runder Körper hieß mich ebenso willkommen wie das Haus, der träge Kater, Willi, und mein lieber Onkel Friedhelm.

      Onkel Friedhelm und ich pflegten, als ich klein war, ein richtiges Ritual zur Begrüßung. Sobald er mich erblickte, breitete der Onkel beide Arme aus und überglücklich, willkommen zu sein, rannte ich hinein. Der Onkel schloss seine Arme um mich und drehte sich mit mir im Kreis, bis uns beiden ganz taumelig war vor lauter Wiedersehensfreude. Dann stellte er mich behutsam auf meine Füße und musterte mich von allen Seiten. Ich musste mich drehen, damit er sehen konnte, ob meine Mutter mich seit dem letzten Besuch gut gefüttert hatte und ob ich gewachsen war. War er mit der Begutachtung fertig, zog er mich an sich und ich bekam einen dicken, schallenden Schmatz auf die Stirn und den von Herzen kommenden Begrüßungsspruch „Evchen, du gefällst mir!“ zu hören.

      Obgleich ich ein Kind war, begriff ich, dass dieser Spruch keine leere Floskel war, sondern dass er voll und ganz der Wahrheit entsprach, dass der Onkel mich wirklich gern mochte.

      Onkel Friedhelm wusste genau, was mir fehlte, ein Opa, der einem kleinen Mädchen das Gefühl von Geborgenheit und Liebe vermittelte. Er besaß bereits vier Enkelinnen, allesamt älter als ich, aber seine Liebe reichte auch für mich noch aus und so „adoptierte“ er mich als seine fünfte Enkelin. Er beschenkte mich nicht nur ebenso wie Linda, Katja, Manja und Vera, sondern beschäftigte sich auch mit mir. Auf einem knatternden Moped fuhr er mit mir zu den Salzwiesen, um im Frühjahr die Kraniche aus der Nähe zu beobachten. Er nahm mich bei der Hand und führte mich zu den Nachbarn, deren Hündin drei niedliche Hundekinder bekommen hatte. Manchmal schaute er mit mir nachts vom Dachfenster aus durch ein geheimnisvolles Rohr zu den Sternen; Onkel Friedhelm war nämlich ein Hobby-Sterngucker. Und – er schummelte bei jedem Würfel- oder Kartenspiel wie ein Schuljunge, obwohl er früher der Direktor der Berufsschule gewesen war. Vor solch einem Lehrer, davon war ich zutiefst überzeugt, musste niemand Angst haben.

      Den Kinderschuhen inzwischen entwachsen, freute ich mich dennoch nach wie vor jedes Mal auf Zingst. Zingst, das bedeutete stets ein Wiedersehen mit diesen herzensguten Menschen, die mir allzeit viel näher standen als meine leibliche Großmutter.

      In jenem Jahr, da sich die Begebenheit, über die ich berichten will, zutrug, zählte ich zwanzig Jahre. Ich studierte in Greifswald im zweiten Semester Medizin und bewohnte ein Zimmer im Studentenwohnheim, Tür an Tür mit Enno, einem Geografiestudenten aus Esslingen. Manchmal, wenn das Heimweh mich packte, setzte ich mich kurzerhand ins Auto und fuhr abends die paar Kilometer von Greifswald bis nach Krambzow, nur um Mama zu sehen, ein bisschen Liebe und heimatliche Luft zu tanken, um dann am Folgetag gestärkt zu meinen Studien zurückzukehren.

      Solange ich mich erinnern kann, wohnten nur Mama und ich unter dem Dach unseres Hauses, das einst die Dorfschule beherbergt hatte. Als ich noch ein Säugling war, hatte mein Vater bei uns gelebt, aber noch vor meinem ersten Geburtstag war er nach Chile, in seine Heimat, zurückgekehrt. Mama hatte es in all den Jahren, die seither verflossen waren, nicht geschafft, sich ganz und gar auf einen neuen Mann einzulassen. Hin und wieder saß morgens, beim Frühstück, ein Mann mit uns am Tisch, mancher auch öfter, aber keiner war dauerhaft eingezogen. Das bedauerte ich um Mamas willen aufrichtig. Sie war trotzdem keine Glucke, die ihr Kind ängstlich bewachte oder es zum einzigen Lebensinhalt erhob. Mama sprühte vor Leben, sie war kein Kind von Traurigkeit. Sie lachte gern, sie knüpfte schnell Kontakte und sie betrieb immerfort irgendwelche Projekte. Dem richtigen Mann war sie dabei noch nicht begegnet. Manchmal, wenn ich sie darauf ansprach, antwortete sie: „Bleib ruhig, irgendwann werde ich meinen Prinzen treffen. Du weißt doch, Dornröschen musste hundert Jahre warten.“

      Ich wünschte ihr von Herzen jemanden, mit dem sie das Leben teilen konnte und doch machte ich mir um meine Mutter weder ernsthafte Sorgen noch verspürte ich Gewissensbisse, weil ich sie allein in Krambzow zurückließ. Ich wusste: Mama benötigt weder Aufsicht noch Beschäftigung. Mama versteht zu leben.

      An jenem Donnerstag vor Ostern fiel die Anatomievorlesung aus und ich beschloss, gleich nach dem Abschied von Enno mit meinem Auto, einem recht alten Suzuki, nach Zingst aufzubrechen. Ich malte mir aus, dass ich unsere Ferienwohnung bei Frau Krawuttke schon ein wenig anwärmen könnte, bevor Mama eintraf. Fröhlich summend fuhr ich um die Mittagszeit los. Auf den Landstraßen herrschte wider Erwarten noch wenig Verkehr und ich kam zügig voran. Viel früher als geplant passierte ich Geestade und einem spontanen Impuls folgend, hielt ich vor Großmutters Haus an.

      Ich hatte diesen Besuch nicht geplant. Der Entschluss, anzuhalten, war mir einfach so gekommen, ohne dass ich ein Warum hätte benennen können. Nie zuvor war ich ohne meine Mutter nach Geestade gereist. Mein Verhältnis zu Großmutter und zu Tante Griseldis