Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz

Читать онлайн.
Название Leben auf brüchigem Eis
Автор произведения Eveline Luutz
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960082040



Скачать книгу

      Ich möchte mit meiner Schilderung keine Missverständnisse aufkommen lassen: Großmutter blickte nicht grimmig drein. Sie schaute ihre Mitmenschen jedoch auch nicht freundlich an, sie schenkte ihnen kein aufmunterndes Lächeln. Manchmal mutmaßte ich, Großmutter nehme die Menschen in ihrem Umfeld gar nicht wahr, sondern sie schaue gleichgültig über sie hinweg. Großmutters Augen ermutigten nicht, sie taxierten nur. Ihre kühle Art hielt andere – gewollt oder ungewollt – auf Abstand. Meine Großmutter schien sich weder für ihre Mitmenschen noch für deren Geschichten und Schicksale zu interessieren.

      Oder irre ich mich? Hörte sie in ihrem Beruf von so vielen Katastrophen und Sorgen anderer, dass sie außerhalb ihrer Arbeit unbehelligt von fremdem Leid und fremden Freuden leben wollte?

      Viele Jahrzehnte lang wirkte Großmutter in Geestade als Ärztin. Ihre Praxis befand sich in einem neu errichteten Gebäudekomplex gegenüber der Kirche. Im Erdgeschoss residierten die Kinder, befanden sich der Kindergarten und die Krippe. Im ersten Stock gab es neben der Arztpraxis eine Zahnarztpraxis und die Gemeindeschwesternstation.

      Ich selbst erlebte meine Großmutter nicht mehr als praktizierende Ärztin mit Stethoskop und weißem Kittel. Just in jenem Jahr, in welchem ich geboren wurde, ging Großmutter in Rente.

      Bis zu ihrem Tode indes grüßten die Leute im Dorf sie ehrfürchtig mit der Formel: „Guten Tag, Frau Doktor“, ganz so, als genüge ein „Guten Tag, Frau Ludewig“ nicht.

      Selbst in der Grußformel manifestierte sich eine unüberbrückbare Distanz.

      Krambzow, der Ort, in welchem meine Mutter und ich wohnen, ist ebenfalls ein Dorf. Wie in Geestade kennt jeder jeden und alle grüßen sich bei zufälligen und eiligen Begegnungen auf der Straße. Wenn unsere Nachbarin, meine Nennoma Helga, meine Mutter mit „Frau Ludewig“ anreden würde, würde mich das zutiefst befremden. Erst recht käme niemand auf die Idee, meiner Mutter ein „Guten Tag, Frau Doktor“ zuzurufen. Dabei ist meine Mutter eine richtige Doktorin, allerdings keine Ärztin, sondern Pädagogin. Die wenigsten Krambzower jedoch wissen überhaupt, dass Mama einen Doktortitel trägt. Er ist unwichtig für sie, denn Mama gehört zu ihnen, zum Dorf und alle Welt kennt und grüßt sie nur als Arabella oder Bella.

      Meine Großmutter hingegen schien mir nicht wirklich zu dem Dorf, in welchem sie seit Jahrzehnten lebte, zu gehören. Wie ein Fremdkörper nahm sie sich aus. Sie kannte niemanden wirklich und ihre Mitbewohner kannten sie nicht. Großmutter hatte sich abgekapselt. Sie ließ niemanden an sich heran und besaß im Dorf weder gute Bekannte noch eine Freundin. Meine Großmutter wurde von ihren Mitmenschen respektiert und gefürchtet, aber nicht geliebt.

      Wenn ich mit meiner Mutter durch Geestade, ihren Geburtsort, schlendere, in welchem Mama seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr wohnt, wird sie von den Alteingesessenen vertrauter gegrüßt als meine Großmutter, die nahezu ihr ganzes Leben in diesem Dorf verbrachte. Alte Frauen und Männer umarmen meine Mutter bei zufälligen Begegnungen auf der Straße zuweilen aus einer spontanen Regung heraus, einfach so, weil sie ihr noch immer zugetan sind. Und meine Mutter lässt sich umarmen und in Gespräche ziehen.

      „Guten Tag, Arabella, auch mal wieder im Lande“, hallt es meiner Mutter in Geestade fortwährend entgegen.

      „Ja, Herr Lewerenz“, lächelt meine Mutter freundlich zurück. „Das ist Eva, meine Tochter“, stellt sie mich jedermann sichtbar stolz vor.

      „Eine hübsche Tochter hast du, da kannst du stolz drauf sein.“

      „Bin ich auch, Herr Lewerenz. Wie geht es Ihrer Frau? …“, so verlaufen die alltäglichen Gespräche, die meiner Mutter von den Einheimischen angetragen werden.

      Solche Gespräche, für welche die englische Sprache das Wort Small-Talk kennt, schmale und kurze Dialoge, in denen keine bewegenden Probleme erörtert werden, in denen es mehr um die Geste der Freundlichkeit als um Weltbewegendes geht, sind mit meiner Großmutter undenkbar. Es war nicht etwa so, dass Großmutter derartige Vertraulichkeiten unterband. Sie fanden einfach nicht statt. Die Leute trugen ihr diese nicht an. Mag sein, sie fürchteten sich insgeheim vor einer Abweisung seitens meiner Großmutter.

      Auch ich fürchtete mich lange Zeit vor ihr, vor ihren strengen, unbeteiligten Blicken, der harten Stimme und dem verschlossenen, verhärmten Gesicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich mir jemals liebevoll zuwandte, dass sie mit mir spielte, mir ein Märchen vorlas oder eine Geschichte erzählte. In der Gegenwart von Großmutter fühlte ich mich stets seltsam gehemmt, befiel mich immer das Gefühl, sie zu stören. Sie interessierte sich nicht für mich, meine kleinen Kümmernisse und meine kühnen Gedanken.

      Erst später, die ersten Schuljahre lagen bereits hinter mir, fragte Großmutter mich bei unseren Besuchen manchmal mit ihrer harten Stimme nach meinen Schulnoten. Allein die Frage verursachte mir Unbehagen, obgleich meine Schulnoten nie Anlass zu einer Klage boten. Ich liebte die Schule und meine erste Lehrerin, Frau Gerlach, innig. Ich brannte darauf, alles zu wissen: Warum die Flugzeuge nicht vom Himmel fallen. Welche Sprache die Fische sprechen. Wo der Rio Orinoko fließt. Wie man ein Gedicht schreibt. Wie man im Lateinischen das Gerundium bildet. Mit jeder Frage konnte ich meine Mutter behelligen. Jede nahm Mama ernst. Meine Mutter ermutigte mich, mich weiter voranzufragen, mir fragend die Welt zu erschließen. Mit mir gemeinsam suchte Mama nach Lösungen, auch wenn sie diese bereits wusste. Dabei unterwies sie mich geduldig, wo und wie ich suchen musste, um selbst auf Antworten zu stoßen, sie mir zu entdecken. Sie zeigte mir die Handhabung von Mitteln und Wegen, um selbst Antworten auf meine endlosen Fragen zu finden. Sie erklärte Worte und Zusammenhänge, die ich noch nicht verstanden hatte. Mit zwölf Jahren bereits benutzte ich nicht nur Lexika und Sachbücher, die zuhauf in den Bücherschränken unseres Hauses standen, sondern jede Suchmaschine im Internet eigenständig und souverän. Es gab keinen Grund, Großmutters Frage nach meinen Schulleistungen zu fürchten und doch fürchtete ich sie. Bis heute weiß ich nicht, worauf ihre Fragen eigentlich abzielten, weiß ich nicht, ob sie sich tatsächlich für mich interessierte oder nur einen Gesprächsfaden knüpfen wollte. Befangen, wie ich mich Großmutter gegenüber fühlte, beantwortete ich ihre Fragen knapp und möglichst präzise. Großmutter beschied sich mit der Auskunft, die ich ihr gab, sie lobte oder tadelte nicht, sie fragte nicht nach, so als sei ihr Interesse im Fragen bereits erloschen. Aus ihrer Art zu fragen, las ich Gleichgültigkeit heraus und zog mich instinktiv zurück. Vielleicht war das ein Fehler, deutete Großmutter mein Verhalten als Ablehnung. Ich empfand einfach zuviel Respekt und Furcht vor dieser gestrengen, unnahbaren Frau.

      Großmutters Zeit und Aufmerksamkeit für mich zu beanspruchen, sie mit einem harmlosen Scherz zum Lachen zu verleiten, wagte ich einfach nicht. Mir schien stets, Großmutter bedrücke ein Leid, so bitter, dass es ihre Gesichtszüge verhärtete, und das sie ganz und gar verschlinge wie ein gewaltiger Krake. Regelmäßig verspürte ich in Großmutters Gegenwart Anflüge eines schlechten Gewissens, nur weil ich mich fröhlich und unbeschwert fühlte, weil ich vor Heiterkeit tänzelte und sang. Meine Freude schien mir unpassend angesichts des Ernstes und der Bitterkeit, die in ihren Zügen lagen. Ich wagte nicht einmal den Versuch, sie mit meiner Heiterkeit anzustecken, sie mit Nichtigkeiten oder einem Scherz aus ihrem Schmerz herauszureißen.

      Meine Cousins, allesamt älter als ich, gingen ganz anders mit Großmutter um. Sie begegneten ihr jeden Tag und kannten sie besser als ich. Sie zeigten weder Furcht noch Achtung vor ihr. Keiner von ihnen redete sie respektvoll mit „Großmutter“ an.

      „Oma, mach mal“, forderten sie im Ton eines Kommandeurs. Sie baten nicht und doch kam Großmutter ihren Forderungen widerspruchslos nach.

      Sogar Simon, mein jüngster Cousin, nur wenige Monate älter als ich selbst, ein miserabler Schüler und im Umgang mit Gleichaltrigen furchtbar gehemmt und angepasst, kommandierte sie auf diese Weise herum. Ich wagte es nicht, ebenso mit ihr umzuspringen. Wir blieben uns fremd bis zu jenem denkwürdigen Tag.

      Der März neigte sich seinem Ende zu. Wir schrieben den Donnerstag vor Ostern.

      In diesem Jahr lagen die Osterfeiertage ungewöhnlich früh. Noch kündete nichts vom Frühling. Die Vegetation zeigte sich noch winterlich. Die letzten kärglichen Schneereste waren seit ein paar Tagen geschmolzen, aber die Tagestemperaturen bewegten sich nur knapp über