Название | 1989 oder Wie ich die Revolution verpasste |
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Автор произведения | Hanskarl Hoerning |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957444066 |
Wenn in den Beziehungen beider deutscher Staaten zueinander Normalität geherrscht hätte, wäre ich am sechsten Tage noch in Lübeck verblieben und am siebenten nach Hannover gefahren, was etwa die Hälfte der Strecke nach Leipzig gewesen wäre. Denn in Hannover sollte ich zusammen mit einem Teil unseres Ensembles, der „Pfeffermühle“, in Dietrich Kittners „Theater am Küchengarten“ (TAK) mit dem letzten aktuellen und weitgehend tabulosen Programm vor der Wende auftreten. Der Titel erinnerte an den von Friedrich II. stammenden Slogan von der „Verdammten Pflicht und Schuldigkeit“, die jedoch hier zur „Schludrigkeit“ wurde. Die andere Hälfte des Ensembles spielte indessen zu Hause ein Parallelprogramm; im folgenden soll diesbezüglich nur die Rede von dem Ensembleteil sein, bei dem ich beschäftigt war.
Einen Reisepass hatte ich ja. Aber es war ein privater Reisepass, und der hätte mir nach den Gastspielen auf der Rückreise im Tourneebus nichts genutzt. Da brauchte ich für die Grenzkontrolle – wie meine Kollegen schon bei der Einreise – einen Dienstreisepass. Und der wurde in Leipzig erst kurz vor Antritt der Reise vom begleitenden SED-Funktionär ausgegeben. So begab es sich, dass ich mich am sechsten Tage mit Privatpass auf die Heimreise nach Leipzig machte und Hannover links liegen ließ, um am siebenten Tage wieder von Leipzig aufzubrechen (diesmal mit Dienstpass!) und in Hannover Station zu machen. Ein kaum zu überbietendes Beispiel von Bürokratismus im Sozialismus. Wobei man bei aller Bürokratie mit Antragstellungen, Laufereien et cetera froh sein musste, überhaupt einen Anlass zu finden, um (west)reisen zu dürfen.
Was mir von diesem Hannover-Aufenthalt in Erinnerung blieb, ist die Tatsache, dass ich bei einem Bummel durch das dem TAK nahegelegene Viertel überrascht war, wie viele Häuserwände hier mit undefinierbaren Klecksereien besprüht waren, eine Unsitte, die sich unter dem Namen „Graffiti“ erst in den neunziger Jahren im Osten auszubreiten beginnt.
Unvergessen blieb auch, dass Familie Kittner sehr besorgt um das leibliche Wohl der Müllerinnen und Müller, aber gleichzeitig auf Sparsamkeit bedacht war. Frau Kittner (Christel) bekochte sie mit Hausmannskost. War auch nötig, denn mit 46,50 DM Tagegeld konnten die Kabarettisten keine großen Sprünge tun. In die Steingutteller, auf deren Boden in der Mitte neckischer Dekors ein Häuschen im Walde zu sehen war, wurde reichlich Kartoffelsuppe gefüllt, die richtig gut schmeckte und satt machte. Jeder kriegte sogar noch einen Nachschlag. Ich schaffte ihn kaum und stöhnte, als sich der Teller zu leeren begann: „Bin ich froh, das Häuschen wieder zu sehen!“
Ansonsten blieb erinnerlich, dass einige der meist links ausgerichteten Besucher Bauklötzer staunten, was in der DDR auf Brettlbühnen wie der unseren freimütig alles gesagt werden durfte und so gar nicht dem Ideal entsprach, das ihnen vom Honeckerstaat vorschwebte. Und ferner, dass ein Pharmakologe, ständiger Besucher der Messen in Leipzig und Kabarettfreak, der im Hannoverschen lebte und der unser Gastspiel bei Kittner besucht hatte, mich und meinen Kollegen Günter zu einer Fahrt nach Hameln in seinem Mercedes einlud. Unbeeindruckt von der Rattenfängerstadt war Günter darauf aus, seiner Frau einen Römertopf und eine Pfefferspraydose mitzubringen, weil so was daheim schwer oder gar nicht zu bekommen war. Er bekam es und brachte es unbeschadet auf der Rückreise durch den Zoll. Übrigens verstirbt der „Einzelkämpfer und Partisan“, wie Günter Wallraff Kittner einmal nannte, am 15. Februar 2013 in Dedenitz/Steiermark, wo er die letzten Jahre verbracht hatte.
Ergänzend bleibt zu sagen, dass die allerersten „West“-Gastspiele nach dem Mauerbau bereits 1983 stattfinden durften, und zwar auf Initiative von Werner Schneyder und seine Fürsprache bei Altbundeskanzler Bruno Kreisky in Salzburg, Linz und Wien, und durch Oskar Lafontaines günstigen Einfluss auf Landsmann Erich Honecker in Saarbrücken.
In der letzten Januarwoche ließ ich mich wieder mal per Bahn mit anderen Mitgliedern des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Kunst im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) nach (Ost-)Berlin fahren, um dort an einer Tagung teilzunehmen. Mir war die „Ehre“ zuteil geworden, als Vertreter der Leipziger Kabaretts in diesen Zentralvorstand nominiert worden zu sein. Vor Beginn der Tagung setzten sich erst mal die SED-Genossen hinter verschlossenen Türen zusammen, um Dinge zu besprechen und zu beschließen, die die parteilosen Kollegen oder Mitglieder der Blockparteien nicht zu wissen brauchten. Sie legten „die Linie“ fest. Diesmal aber wagte es ein junger Gewandhausmusiker in einer der folgenden Referate, alltägliche Mängel, Verfall und Umweltbelastung an den Pranger zu stellen. Prompt fingen einige linientreue Genossen Gewerkschafter an, lauthals zu murren über derart unsachliche Bemängelungen. Übers Murren kamen sie jedoch nicht hinaus.
Nachdem dieser „Diskussionsbeitrag“ und das vorangegangene Hauptreferat abgehakt werden konnten, nahm ich noch was zum Frühstück ein. Weiteres Blablabla ersparte ich mir, da ich ja (angeblich) abends in einer Vorstellung mitwirken musste, schlich mich klammheimlich davon, kaufte noch rasch im „Delikat“-laden in der Leipziger Straße das ein, was es in Leipzig nicht zu kaufen gab, wie zum Beispiel in dieser Jahreszeit Grüne Gurken, und fuhr dann mit dem nächstmöglichen Zug wieder heim.
Für die Jüngeren unter uns, die nicht die Gnade der frühe(re)n (DDR-)Geburt hatten: Das Pendant zu den Delikatläden waren die Exquisitläden, in denen es überteuerte, aber edle Klamotten wie Schuhe, Hemden, Kleider, Mäntel et cetera zu kaufen gab. Man wollte mit dieser Art Geschäften ein Zuviel an umlaufendem Geld bei den Wohlhabenden „abschöpfen“. Hinzu kamen noch die für Westgeld (also D-Mark) verkaufenden „Intershops“. Manchmal handelte es sich bei den Westprodukten auch nur um eine „Gestattungsproduktion“, das heißt, eine zwar im Osten produzierte, aber im Westauftrag hergestellte Ware. Zum Beispiel Parfum. Da aber nicht gerne gesehen wurde, dass in der Bevölkerung Westgeld in Umlauf war, führte der Staat sogenannte „Forumschecks“ im Verhältnis 1:1 ein. „Spielgeld“, wie man sagte, was jedoch lediglich neben der D-Mark in solchen „Shops“ angenommen wurde. Von mir hatte zum Beispiel der Südwestfunk Baden-Baden einen Text gesendet. Vom Entgelt musste ich dem Staat die Hälfte als Provision „spenden“. Von der anderen Hälfte bekam ich 20 Prozent in DDR-Mark und 30 Prozent in Forumschecks ausgehändigt. Die 30 Prozent aber nur, wenn ich es zuvor formlos beantragt hatte. Ergänzend müssen noch die „Genex“-Verkaufsstellen genannt werden, in denen man sogar Autos östlicher und westlicher Produktion gegen harte Währung erwerben konnte. Normale Sterbliche mussten auf die östlichen nach entsprechender Vorbestellung bis zu zehn und mehr Jahren warten. Westliche wurden nur gegen Vitamin B (B = Beziehung) verschachert. Im sozialistischen Alltag durfte sich die Bevölkerung mit Läden der Volkseigenen Handelsorganisation HO, mit dem Konsum und vereinzelten Privatgeschäften wie Bäcker, Fleischer und Gemüsefritzen zufrieden geben. An gemütlichen Kneipen gab es etliche private, meist nur „mit staatlicher Beteiligung“. Da es viel zu wenige gab, waren sie ständig ausgebucht, und um Sitzplätze zu bekommen, musste man oft stundenlang warten. Vorm Eingang stand dann immer eine Tafel, wo draufstand: „Sie werden platziert“. HO und Konsum betrieben auch Hotels und Warenhäuser.
Diesmal hätte ich mir das Anstehen nach Treibhausgurken im Delikat ersparen können, da am nächsten Tage Freunde aus dem Westen erwartet wurden, nämlich die Sobantges, die nicht nur Gurken, sondern auch kistenweise Bananen, Apfelsinen und andere Köstlichkeiten mitbrachten, die hierzulande zu den nur sporadisch auftauchenden Raritäten gehörten. Während des einwöchigen „West“-Besuches wurde unter anderem das Vorhaben von unserer jüngeren Tochter Annelies und dem Sohn der Freunde ausgiebig beraten. Dieser hatte sich bereit erklärt, die Tochter „rauszuheiraten“. War die Scheinehe vollzogen, die Tochter ausgereist und „drüben“ ansässig geworden, sollte im beidseitigen Einverständnis die Scheidung eingeleitet werden.
All das war natürlich streng geheim. In Vorbereitung der verruchten Tat existierte schon seit längerem ein intensiver Briefaustausch mit heißen Liebesschwüren zwischen Tochter und Freundessohn, der denjenigen Stasileuten in die Hände