1989 oder Wie ich die Revolution verpasste. Hanskarl Hoerning

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Название 1989 oder Wie ich die Revolution verpasste
Автор произведения Hanskarl Hoerning
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957444066



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setzte sich Richtung Hansestadt Lübeck in Bewegung. Am Grenzübergang Schwanheide gab es den an solchen „Übergängen“ üblichen etwa einstündigen Aufenthalt zwecks Kontrolle jedes einzelnen Fahrgastes, seines Gepäcks und seiner Dokumente. Personen, die den „Organen“ in irgendeiner Weise verdächtig erschienen, mussten den Zug zeitweilig verlassen und sich in der Zollbaracke einer Leibesvisitation unterziehen. Spürhunde krochen unter die Waggons, aber nicht, um nach Rauschgift zu schnuppern (sowas war in der DDR so gut wie ein Fremdwort), sondern nach blinden Passagieren, die illegal „in den Westen machen“ wollten. Meine Person erschien unverdächtig. Mein Koffer offenbar auch. Auf einer Autofahrt über die Grenze nach Marienbad, und von dort wieder zurück nach Bad Elster, wo ich mich einmal zur Kur befunden hatte, nahm ein Zöllner mein Auto auseinander, weil er mehr als eine mitgebrachte Dose Ölsardinen bei dem Wochenendausflügler vermutete. Konservierte Ölsardinen waren (wie auch Dorschleber) Mangelware im Staate DDR.

      Auf der langen Fahrt nach Lübeck hatte ich genügend Gelegenheit, über meinen ersten legalen Grenzübertritt nach dem Bau der Berliner Mauer nachzudenken. Der vollzog sich Ende April 1980, nachdem meine Mutter verstorben war. Sie hatte während der Nazizeit den Kontakt zu ihrer Jugendfreundin Trudchen und deren kleinem Sohn Ronny aufrecht erhalten, obwohl Trudchen mit einem im Internierungslager seines Hamburger Arbeitgebers eingesperrten Juden verheiratet war. Dass er nicht ins KZ abgeschoben wurde, hatte er jenem Arbeitgeber zu verdanken, offenbar einem Mann vom Schlage des Oskar Schindler.

      Als die Freundin mit Mann und Kind nach dem Kriege in die USA umsiedelte, folgte ihr (nachdem Trudchen alles Organisatorische vorbereitet hatte) meine Schwester Klara, eine gelernte Herrenfriseuse. Nach „Republikflucht“, einjähriger Tätigkeit in dem zur Region Würzburg gehörenden Ort Eußenheim und ohne ein Wort Englisch zu beherrschen, durfte sie in die Staaten ausreisen. Trudchen kümmerte sich um Klara, die bei der Familie wohnen durfte. Die Sprache erlernte sie per Fernsehen und Abendschule. In Chicago bewarb sie sich als Stewardess, wurde angenommen und bewährte sich nach entsprechender Lehrzeit auf verschiedenen Inlandfluglinien. Als Klara heimlich geheiratet hatte und schwanger wurde, kündigte sie, ehe man ihr gekündigt hätte; denn die Vorschriften ließen bei Dienstleistungen über den Wolken so etwas nicht zu – so streng waren dort die Bräuche.

      Sie kehrte nach Deutschland zurück, fortan beim Bodenpersonal des Flugwesens tätig. Dabei machte sie die Bekanntschaft mit Sven Sobantge, der wie sie in der Verkehrsabteilung beschäftigt, aber eigentlich Schauspieler gewesen war. Jedes Jahr zur Leipziger Messe besuchte Klara mich und meine Familie, und da sie nicht gern allein die Reise antrat, brachte sie immer eine Begleitperson mit. Eines Tages auch Sven Sobantge. Das war relativ einfach, denn zu den Messen konnte quasi jeder ohne Antragstellung und Einladung aus dem Westen einreisen. Hauptsache, er erwarb einen Messeausweis (den gab es in jedem Reisebüro), ließ sich registrieren und legte sein „Eintrittsgeld“ in harter Währung den staatlich Beamteten auf den Tisch. Später reiste Sven auch ohne Klara ein und brachte Frau und Sohn gleich mit.

      Inzwischen hatte Klara unsere Mutter nach deren Eintritt ins Rentenalter „nach drüben“ kommen lassen. Ein Jahr lebten sie mit Klaras Töchterchen in England, danach in Bayern. Im Alter von Fünfundsiebzig ließ „Oma“ die beiden nach einer Infusion und eintretender Gehirnblutung allein, und ich erhielt die Erlaubnis, den Bestattungsfeierlichkeiten beizuwohnen. Allerdings erst, nachdem es die Behörde abgelehnt hatte und ein Genosse Kulturfunktionär (später letzter Kulturminister der DDR!) sich für mich eingesetzt und über eine interne Telefonleitung interveniert hatte. Obwohl ich nur ein unsicherer Kandidat und Mitglied einer der dienernden Blockparteien war. Aber ich genoss Vertrauen als kabarettelndes Mitglied der „Pfeffermühle“.

      Ich wurde am Lübecker Hauptbahnhof von meinem Cousin Horst abgeholt. Horst war nach Abitur an der Nikolaischule, kurzem Dienst bei der Wehrmacht und amerikanischer Kriegsgefangenschaft schon in jungen Jahren von seiner Heimatstadt Leipzig nach Westberlin übergesiedelt, hatte an der Freien Universität studiert, geheiratet und sich mit Familie in Husum niedergelassen. Er übte den Beruf eines Lehrers aus, der zum Oberstudienrat aufstieg. Den Kontakt zur Verwandtschaft in der Messestadt hatte er nie verloren und besonders in den achtziger Jahren durch fast regelmäßige Besuche zu den Messen verstärkt.

      Horst war eng befreundet mit dem 1994 verstorbenen Schriftsteller und Journalisten Bernt Engelmann und dessen Lebensgefährtin. Er schenkte mir auf Anhieb Engelmanns „Schwarzbuch Helmut Kohl“. Ebenso schwärmte Horst für den Autor, Publizisten und Kabarettisten Erich Mühsam. Dessen Lied vom „Revoluzzer“ hatte ich 1966 in einem Programm vorgetragen, das aus Kabarett-Texten der zwanziger Jahre bestand; zu einer Zeit also, in der Horst noch gar nicht mit Mühsam vertraut war. Horst beteuerte, der Erich-Mühsam-Gesellschaft beizutreten, die für den 6. April 1989 geplant war.

      Gleich am zweiten Tage machte Horst mit mir eine Stadtführung. Außer dem Wahrzeichen der Stadt, dem Holstentor, zeigte er mir unter anderem das Buddenbrookhaus in der Mengstraße, das in verschiedenen Baustilen erbaute und zu verschiedenen Zeiten erweiterte Rathaus, und das nach dem Hersteller des Marzipans benannte Café Niederegger. Zum Mittagessen lud er mich in das durch den typischen Backstein-Treppengiebel unverkennbare Haus der Schiffergesellschaft ein. Es gab eine köstliche Kartoffelsuppe.

      Dem dritten Tage blieb ein Besuch Hamburgs vorbehalten. Wer noch nie in Hamburg gewesen ist, was will der sehen? Das, was weltweit in aller Munde ist, also – außer der im Volksmund „Michel“ genannten, unübersehbaren St.-Michaelis-Kirche – die Reeperbahn und den Fischmarkt in St. Pauli. Für den Fischmarkt war es zu spät, da hätte man sonntags kommen müssen, wenn der Woche für Woche stattfindet, und nicht erst am Dienstag, wenn sich ein Lübecker mit seinem Gast auf die Socken macht. Für die Reeperbahn wiederum war es zu früh. Die erwacht zwar täglich zum Leben, aber da geht das rotbelichtete Remmidemmi ja erst nach Einbruch der Dunkelheit los, wenn sich der Lübecker mit Gast schon längst wieder auf den Heimweg begeben hatte. So musste sich der Gast mit einem Apfelstrudel und einem Becher Kaffee bei McDonalds zufriedengeben. Das hätte er natürlich auch in Lübeck haben können. Auf der Rückfahrt gab es noch einen Kurzbesuch bei Rainer, einem Pharmavertreter, ständigen Leipziger Messegast sowie Freund und Kollege des Helmut D. aus Wien, von dem noch die Rede sein wird. Rainer lud mich ein paar Tage später bei einer Lübeck-Visite im Steakhouse zum Essen ein. Dass wir „Pfeffermüller“ in den Folgejahren mit konstanter Regelmäßigkeit Gastspiele mit dem jeweils aktuellsten Programm in Hamburg haben würden, und zwar in Deutschlands größtem privat geführten Theater mit 744 Sitzplätzen, nämlich dem Ernst-Deutsch-Theater, und das jeweils gleich zweimal an einem Tag, war noch nicht abzusehen und wird erst im März 1992 spruchreif werden.

      Am vierten Tage fuhr Horst mit seinem Verwandten zweiten Grades nach Travemünde. Auf Anhieb wurde ich an das mir durch sechzehn Jahre Zelturlaub im nahe gelegenen Graal-Müritz bestens bekannte Warnemünde erinnert. Erstens war es ja – ähnlich wie Travemünde der Hansestadt Hamburg – der Hansestadt Rostock seewärts vorgelagert. Zweitens ragte auch hier ein riesiger Betonklotz hervor, dessen Anblick Ähnlichkeit mit dem in Warnemünde hervorragenden Hotel Neptun aufwies. Allerdings hatte das Travemünder Maritim-Hochhaus auf einer Höhe von 119 Metern auf zehn Etagen Hotelzimmer und auf den darüber gelegenen 22 Etagen private Wohnungen. Ganz oben befand sich noch ein Restaurant. Dagegen war das Neptun mit seinen 68 Metern Höhe und 18 Etagen freilich ein Zwerg, aber dennoch weithin sichtbar. Und ganz oben, also in der 19. Etage, gab es gleichfalls ein Restaurant, die „Sky-Bar“, nach obenhin offen mit Blick auf den Sternenhimmel. Natürlich nur an regenlosen und klaren Nächten. In einem Nachtprogramm, das die sogenannte Konzert- und Gastspieldirektion den Gästen in der Sky-Bar bot, war ich sogar schon mit meinem Kabarett-Kollegen Hans-Jürgen aufgetreten. Während das Neptun 1971 in Betrieb ging, kann man das Maritim bösartig als aufgemotzten Abklatsch bezeichnen, denn es wurde erst drei Jahre später, 1974, fertig.

      Am fünften Tage stieß auch Cousine Anita zu uns beiden Herren. Sie war mit ihrer Mutter in Memmingen ansässig, und vor ihrer Flucht aus der DDR eine hoch angesehene Leipziger Kindergärtnerin. Ihr Tätigkeitsfeld erstreckte sich auf die erste Etage eines Eckhauses zwischen Torgauer- und Eisenbahnstraße in Sellerhausen, hinter dem sich in grauer Vorzeit die Ausflugsgaststätte „Rheingold“ befunden hatte. Unten drin war eine Geschäftsstelle der „Volkspolizei“ stationiert, und somit Anitas Kinderchen bestens behütet. Damals hätte man die Einrichtung