Название | 1989 oder Wie ich die Revolution verpasste |
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Автор произведения | Hanskarl Hoerning |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957444066 |
Ich denke noch heute mit Schrecken: Mensch, was wäre passiert, wenn auch nur ein einziger Schuss gefallen wäre, vielleicht nicht mal absichtlich, vielleicht aus Versehen – nicht auszudenken. Das Wort „Wunder“ scheint hier echt am Platze. Und korrekter wäre wohl „friedlich gebliebene“ oder „friedlich ausgegangene“ Revolution.
Mir scheint auch der Begriff „Wende“ (obwohl allgemein gängig) etwas unzutreffend zu sein. Ich sehe Wende als Zeitpunkt der Entstehung von etwas Neuem. Aber wir hatten es doch vorwiegend mit Umkehr zu Altem zu tun! Wer hätte gedacht, dass die Berliner Mauer, die laut Honecker noch in hundert Jahren stehen würde, stückchenweise abgetragen werden konnte, und dass damit Berlin nicht länger in Sektoren, noch zweigeteilt blieb, sondern wieder ein Ganzes wurde – wie es früher gewesen war? Ja, dass es Jahre später sogar wieder (gesamt)deutsche Hauptstadt werden sollte? Wer hätte gedacht, dass sich aus zwei deutschen Staaten wieder einer bildete – wie früher? Wer hätte gedacht, dass der laut DDR-Ideologen offiziell im Untergang begriffene Kapitalismus mit einer sozial sein sollenden Marktwirtschaft Auferstehung feierte? Und dass die sozialistische Planwirtschaft infolgedessen in der Versenkung und die volkseigenen Betriebe unter Dirigat der sogenannten „Treuhand“ verschwanden? Wie sagte doch in einem Programm des Kabaretts „Leipziger Pfeffermühle“ 1975 der vom „Westbesuch“ zurückkehrende Opa scheinheilig?
„Ich hab’n sterbenden Kapitalismus gesehen. Ein schöner Tod!“
Wer hätte gedacht, dass die mächtige Sowjetunion nach 70 Jahren zusammenbrach und auseinanderfiel? Und danach peu á peu der ganze Ostblock? Dass etliche annektierte Staaten von der SU abfielen und (wieder) ihre Eigenständigkeit erlangten – wie früher? Dass Leningrad, 1914 bis 24 Petrograd, wieder zu St. Petersburg wurde? Wer hätte gedacht, dass Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz, in Leipzig der Karl-Marx-Platz wieder Augustusplatz und die Ernst-Thälmann-Straße wieder Eisenbahnstraße heißen würden – wie früher? All diese Tatsachen erinnern doch wohl eher an die Herstellung eines Zustandes, der überwunden und längst der Vergangenheit anzugehören schien. Wäre da der Begriff „Kehrtwende“ nicht viel angebrachter? Nun gut, es wurde nicht alles ganz so, wie es vor 40 oder 70 Jahren gewesen war. Es blieb aber auch nicht so, wie es bis kurz vorm Mauerfall gewesen ist. Nach westlichem Vorbild würde sich das Altenheim alsbald in eine Seniorenresidenz verwandeln, das Flugzeug in einen Flieger, das Krankenhaus in ein Klinikum, der Lehrling in einen Azubi, Kinder in Kids, Straßenbahnen in Trams, und Strafzettel unterm Scheibenwischer eines Autos würden jetzt „Knöllchen“ heißen. Niedlich, nicht wahr? Nach jedem Einkauf würde man an der Kasse mit „Schönen Tag noch!“ in den Scheißalltag verabschiedet. Und jede Institution, die was zum Verkauf anzubieten hat, frohlockt schamlos mit: „Wir freuen uns auf Sie!“ Die als Freundlichkeit drapierten Floskeln grassierten allerorten. Auf Neudeutsch: es menschelte.
Noch etwas anderes. Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es im Programm der „Pfeffermühle“ einen Sketch, in dem es um die Vorbereitung eines Balles der freiwilligen Feuerwehr ging. Der Ausdruck „Sketch“ ist wohl schlecht gewählt, man sollte eher „Klamotte“ sagen, oder nach heutigem Verständnis „Comedy“. Da kam beispielsweise auf der Tagung des Festkomitees zur Vorbereitung eines Feuerwehrballes der Anruf eines Nebenstraßenbewohners. Der meldete, ein Brand sei in seinem Haus ausgebrochen. Worauf der Vorsitzende ihm riet, den Brand bis zur Hauptstraße vor brennen zu lassen, da käme man besser ran, und dort sei außerdem die Berufsfeuerwehr zuständig. „Lassen wir den Brüdern auch mal ’n hübsches Knäckerchen zukommen!“ Hahahaha. Politische Satire anno 1960?
Einer der vier Feuerwehrleute des Komitees war ein Lispler (was komisch sein sollte). Er wurde „Blasius“ genannt. Den spielte ich. Dieser Name übertrug sich als Spitzname ins tägliche Leben. Die damals blutjunge Anfängerin Helga Hahnemann, genannt „die Henne“, machte auf Schritt und Tritt von „Blasius“ Gebrauch. Da ich vorhatte, im Vorliegenden von mir in der dritten Person zu berichten, hätte sich „Blasius“ angeboten. Das klang mir aber auf Dauer zu blöd. Ich habe die Urfassung verändert und bin zum Ich zurückgekehrt. Soll die 1991 verstorbene „Big Helga“ mit dem nach ihr benannten Publikums- und Medienpreis „Goldene Henne“ weiter leben. Für die Vergabe des „Silbernen Blasius“ würde es wohl kaum kommen. Die Stasi – um dieses leidige Thema nochmal anzuschneiden – hat mir weder „Blasius“ noch einen anderen Decknamen verpasst. Bei Einsicht in meine „Opferakte“ taucht nur mein Klarname auf, und eine „Täterakte“ gibt es nicht. Der unliebsame Titel „IM“ blieb mir nebst inoffizieller Mitarbeit erspart. Ich war wahrscheinlich für das System so unwesentlich, dass sich keiner die Mühe machte, mich für den Geheimdienst anzuwerben.
Die Staatssicherheit der DDR hatte ja auch ihre lächerlichen Seiten. Da gab es zum Beispiel einen Schauspieler und Rundfunksprecher, der bei der „Pfeffermühle“ Regie führte. Der soll laut FAZ vom 30.10.2000 „IM Romeo“ gewesen sein, und seine Ehefrau, eine seinerzeit bekannte und beliebte Funkmitarbeiterin, „IM Julia“. Beide sollten „über die Ansichten von Westbesuchern auf der Leipziger Messe“ berichten.
Ich fürchte, es stellt sich nachträglich heraus, dass ihr Führungsoffizier der Genosse Oberleutnant William Shakespeare gewesen ist. Und an der späteren Scheidung unseres Paares sei die Nachtigall schuld gewesen, und nicht die Lerche.
JANUAR: WIE ICH DIE GRENZE ÜBERSCHREITEN DURFTE
Kaum hatte ich mich ins neue Jahr hineingesoffen, ging die Aufregung schon los. Die 15,00 DM (West) als „Reisezahlungsmittel“ in der BRD sowie meinen Reisepass mit eingestempeltem Visum und der weißen „Zählkarte“ hatte ich gegen eine „Verwaltungsgebühr“ von 5,00 M (Ost) noch im alten Jahr bei der Volkspolizei-Behörde abgeholt. Die an der Grenze abzugebende und inzwischen ausgefüllte Zählkarte sollte den DDR-Statistikern als Beweis dafür dienen, welche Massen von Bürgern der souveräne Staat unter Führung der sogenannten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in seiner unermesslichen Großzügigkeit täglich die Grenzen passieren ließ. Beim Grenzwechsel von Ostberlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), nach Westberlin wurden statt weißer gelbe Zählkarten verteilt.
Ich bestieg im Leipziger Hauptbahnhof einen der „Interzonenzüge“, wie die Deutsche Reichsbahn (DR) sie nannte. Vom gemeinen Volk war so ein Monstrum bis dahin als „Mumienexpress“ deklariert worden.
Das sollte aber die längste Zeit so gewesen sein. Schon jetzt schien es für einen DDR-Bürger wie mich völlig abstrus zu sein. Mit meinem gerade begonnenen achtundfünfzigsten Jahr fühlte ich mich alles andere als mumienhaft. Nicht einmal in meinem schon erwähnten Cousin, den ich zu besuchen gedachte, konnte ich eine Mumie erkennen. Der würde nämlich in wenigen Tagen seinen Fünfundsechzigsten feiern.
Ein Anlass, der nach den neuesten Bestimmungen in der Gesetzgebung der DDR seinen Bürgern gestattete, nach entsprechender Antragstellung Verwandte ersten (und jetzt auch zweiten Grades!) in der BRD zu besuchen. Also „in den Westen zu machen“, wie man im Osten sagte. Wenn auch nur „besuchsweise“, und nicht ausreiseweise. Also für immer. Und diese Gnade, auch ohne das „Mumienalter“ schon erreicht zu haben. Das war durchaus ein Fortschritt gegenüber früheren Zeiten. Schon bei Verwandten ersten Grades ist 65 kein Anlass