Mit dem Mut einer Frau. Jane Pejsa

Читать онлайн.
Название Mit dem Mut einer Frau
Автор произведения Jane Pejsa
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783865064493



Скачать книгу

kühnsten Träumen. Sie wagt es nicht, die Öllampen anzuzünden, um den magischen Zauber nicht zu stören. Schließlich hört sie Schritte, die ihr verraten, dass Jürgen sich auf der Treppe befindet. Schnell zündet sie zwei Lampen an, deren Schatten auf Wänden und Vorhängen den Zauber ihrer Erwartungen noch erhöhen. Eine unsichtbare Hand öffnet die Tür und plötzlich betritt Jürgen den Raum, die Tür hinter sich schließend. Ohne ein Wort nimmt er Ruth in die Arme – zum allerersten Mal – und hält sie fest, fast ohne zu atmen.

      Jahre später, wenn Jürgens sterbliche Hülle unter der Erde von Kieckow begraben liegt, wird Ruth glauben, dieses von Gott arrangierte Treffen werde sich im Himmel wiederholen. Sie wird behaupten, Jesus mag zwar gesagt haben, man könne bei Gott im Himmel nicht heiraten, aber er habe nicht gesagt, diejenigen, die sich auf Erden unsterblich geliebt haben, könnten im Himmel nicht wieder vereint werden.

      Jürgens erste Worte an Ruth sind: »Darf ich nun du sagen?« Die Zustimmung dafür ist kaum noch notwendig, denn ihr lieber Herr von Kleist hält sie in den Armen und hört nicht auf, sie zu liebkosen. Und zum ersten Mal darf Ruth den Namen flüstern, der seit mehr als drei Jahren in ihrem Herzen wohnt – Jürgen.

      1886. Normalerweise würde die Hochzeit im Frühjahr stattfinden, damit für die traditionellen Besuche bei beiden Familien genügend Zeit bleibt. Betrachtet man die Stammbäume von Ruth und Jürgen, so findet man fast die Hälfte des gesamten preußischen Adels darin vereint. Um der Tradition gerecht zu werden, machte Mutter den Vorschlag, während der Wintermonate Ruths Garderobe und die zahlreichen Gegenstände ihrer Aussteuer zusammenzustellen und zu Beginn des Frühjahrs eine große Rundreise durch Preußen zu unternehmen, auf der Jürgen und Ruth gemeinsam all ihre Verwandten aufsuchen würden. Am Ende der Reise im Juni stünde dann die Hochzeit in Großenborau.

      Ruth ist mit diesem Plan ganz und gar nicht einverstanden: »Doch nicht nach diesen drei langen Jahren des Wartens! Nein, liebe Mutter, man darf von uns nicht verlangen, noch länger zu warten.« Ruths Intuition sagt ihr, jede weitere Verzögerung in ihrem gemeinsamen Leben mit Jürgen würde einen herben Zeitverlust bedeuten. Dies wird sich später als wahr erweisen. Jürgen teilt ihre Ungeduld; drei lange Jahre lang musste er schwer mit sich ringen, um ausreichend Abstand zu seiner auserkorenen Braut zu wahren, bis er ihr einen angemessenen Lebensunterhalt bieten könne. Müsste er so etwas noch einmal durchleben, könnte er nicht mehr so lange schweigen. Mit ihren überzeugenden Argumenten erringen die beiden das Einverständnis beider Eltern, die übliche Verlobungszeit zu umgehen und eine baldige Heirat zu planen.

      Das auserwählte Datum, der 4. Februar, ist gleichzeitig Ruths 19. Geburtstag. Die Hochzeitsfeier wird in Oppeln stattfinden, da Vaters Verpflichtungen ihn den ganzen Winter über dort festhalten. Wie sich herausstellen wird, ist dieses frühe Datum sowohl für den Vater als auch für Bruder Rob von Vorteil.

      Zunächst hat sich der Vater in Roberts militärische Laufbahn eingeschaltet. Wissend, dass sein Sohn in der Armee nicht glücklich ist, wird er die Sorge nicht los, dieser könne eines Tages doch nach Amerika auswandern. Um dies von vornherein zu verhindern, erwirkt er beim Auswärtigen Amt in Berlin Roberts Versetzung an die deutsche Botschaft in Rom. Dies bedeutet eine neue Richtung in der Laufbahn seines Sohnes, die er kurz nach dem 4. Februar einschlagen wird.

      Auch in Vaters öffentlicher Karriere bahnt sich eine neue, völlig unerwartete Wende an. Seit Oktober hat ihn Bismarck, der in einer politischen Krise steckt, bereits zweimal nach Berlin gerufen. Wie es scheint, ereignet sich in Berlin mindestens einmal im Jahr, vielleicht auch öfter, eine Regierungskrise. Der Kanzler selbst wird verdächtigt, diese Krisen herbeizuführen, da sie immer dann am Horizont auftauchen, wenn seine Koalition im Parlament auseinanderzubrechen droht. Die jüngste Krise hängt mit der preußischen Provinz Posen zusammen, die zu Polen gehörte, bevor die drei Großmächte – Preußen, Österreich und Russland – das Land aufgeteilt hatten. In Posen hat es schon immer Probleme unterschiedlichster Art gegeben, da die Polen nicht bereit sind, ihre nationale Identität aufzugeben. Preußen vom Schlage der Zedlitz und Kleist können nicht verstehen, warum sich die Polen gegen die scheinbaren Vorteile deutscher Sprache und Kultur wehren, die ihnen von Preußen beschert wurden. Und nun schürt Bismarck dieses Feuer. In Zeiten in­nenpolitischen Aufruhrs und seines Autoritätsverlusts als Kanzler kommt es ihm gelegen, einen alten deutschen Traum wiederzuerwecken – nämlich das fruchtbare polnische Agrar­land mit Deutschen zu besiedeln.

      Es wurde eine Ansiedlungskommission gegründet und die deutsche Regierung ermutigt deutsche Bauern aus dem Westen, in die polnischen Gebiete Preußens überzusiedeln. Die Regierung gibt sogar bekannt, sie würde den Kauf von Land aus polnischem Besitz durch Deutsche bezuschussen. Familien wie die der Zedlitz und Kleist betrachten diese Politik Bismarcks als Schutzmaßnahme zur Abwehr polnischer Einflüsse entlang der deutschen Ostgrenze. Bauern ohne Landbesitz im Westen sehen darin die Erfüllung ihrer Träu­me, während die polnischen Bauern und Landbesitzer diesen Schritt als Angriff auf ihr nationales Erbe und glatten Diebstahl polnischen Besitzes, an den dieses Erbe gebunden ist, empfinden. Die Verwirklichung dieser Politik wird sich als Durchbruch in der Vereinigung der Polen unter einem nationalen Banner ohne Trennung nach den alten gesellschaftlichen Klassen erweisen.

      Bismarck hat seinen alten Freund Robert von Zedlitz und Trützschler gebeten, erster Präsident dieser umstrittenen Ansiedlungskommission zu werden. Robert hat gegen diese Ernennung folgenden Einwand erhoben: Die Präsidentschaft sollte vom Oberpräsidenten der Provinz Posen übernommen werden, um die Aufgaben der Kommission auf menschlichere Art und Weise durchzuführen. Er, Robert, würde beide Posten annehmen, sollte der Kanzler mit ihm einer Meinung sein.

      Bismarck teilte seine Meinung und Ruths Vater kehrt mit zwei neuen Aufgaben aus Berlin zurück. Er wird seinen Pos­ten als Regierungspräsident in Schlesien aufgeben und mit seiner Familie unmittelbar nach der Hochzeit von Oppeln nach Norden in die polnische Stadt Posen umziehen.

      4. Februar. Obwohl Ruth heute heiratet, wird der Tag mit einem traditionellen Geburtstagsfrühstück beginnen, das Ruth als die letzte Feier vor dem Eintritt in das Eheleben im Gedächtnis bewahren wird. Die ganze Familie aus Großenborau ist anwesend, dazu kommen noch Jürgen, Jürgens Vater Hans Hugo, seine Schwester Elisabeth und sein Bruder Hans Anton.

      Während der Feier ergreift Hans Hugo von Kleist das Wort, um der Braut und dem Bräutigam eine Ansprache zu halten. Er betont, das Leben sei wechselhaft und könne Schicksalsschläge mit sich bringen, wenn nicht innerhalb der Ehe, dann sicherlich von außen. Auch ihr gemeinsames Leben werde nicht ohne Tränen sein, warnt er sie, aber das Wichtigste sei, auf Gott zu vertrauen.

      Mittags beginnt die Hochzeitsfeier. Vor der Residenz herrscht ein buntes Durcheinander von Pferden, Droschken, Kutschern und Stallburschen. Die meisten Kutschen werden wäh­rend der Hochzeitszeremonie und des Essens bei der Residenz abgestellt, sodass Ställe und Aufenthaltsräume für Dienstboten völlig überfüllt sind. Die Gäste, 70 an der Zahl, versammeln sich im Empfangssaal im Erdgeschoss. Dieser sogenannte rote Salon dient normalerweise dem Empfang offizieller Gäste des Vaters. So trafen sich zum Beispiel Otto von Bismarck und Graf Robert in diesem Salon bereits mehrmals und selbst Kaiser Wilhelm stattete hier dem Vater einen Besuch ab. Im Allgemeinen wird dieser Saal nur mit großer Ehrfurcht betreten.

      Die erlesene Ausstattung des Salons ist beeindruckend – elegante rote Wandverkleidungen, mit rotem Samt bezogene Sessel und raumhohe Türen mit doppelten Paneelen aus dunkler Eiche, die normalerweise geschlossen gehalten werden. Heute steht an jeder Tür ein Diener, um sie für jeden einzelnen Gast zu öffnen und wieder zu schließen. Drinnen warten Vater und Mutter, sie reichen Freunden und Verwandten die Hand, um sie willkommen zu heißen. Die Mutter trägt ein weißes Kleid im Empirestil, das zu Hause nach einer Abbildung der neuesten Berliner Mode genäht wur­de. Es kann kein Zweifel bestehen, sie ist die Gräfin. Graf Robert trägt seinen Galaanzug. Seine Brust ist geschmückt mit all den königlichen und kaiserlichen Orden, die ihm für seine Dienste verliehen wurden. Ganz offensichtlich ob­liegt ihm die Leitung des Tagesablaufs und mit seiner unglaublichen Fähigkeit, jedes noch so kleine Detail wahrzunehmen, gibt er gleichzeitig jedem Gast das Gefühl, nur diesem seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. So ist es auch der Graf, der feststellt,