Mit dem Mut einer Frau. Jane Pejsa

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Название Mit dem Mut einer Frau
Автор произведения Jane Pejsa
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783865064493



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für Visitenkarten dient. Es stapeln sich dort bereits die Kärtchen, die immer zweifach abgegeben werden, eine für den Grafen, eine für die Gräfin. Obenauf liegen zwei identische Karten mit dem Aufdruck »Jürgen von Kleist-Retzow1, Kammergerichtsreferendar«.

      An einem schönen Sommerabend einige Wochen später darf Ruth ihren Vater zu einem Konzert der Militärkapelle begleiten, welches im Freien außerhalb von Oppeln stattfindet. Ruth selbst lernt und spielt eifrigst Klavier, und so möchte ihr Vater ihr mit diesem Konzert eine besondere Freu­de bereiten. Nun sitzt sie neben ihm in der Loge des Regierungspräsidenten, während er die Passanten grüßt. Plötzlich wendet er sich ihr zu und deutet auf einen jungen Mann in der Ferne. »Dieser junge Mann ist Kleists Sohn«, sagt er und widmet seine Aufmerksamkeit gleich wieder denjenigen, die ihn begrüßen wollen.

      Ruth jedoch kann ihren Blick von dem großen, schlanken, gut aussehenden Mann mit den dunklen Augen, dem dunklen Schnurrbart und dem bemerkenswert ernsthaften Gesichtsausdruck nicht abwenden. Sie werden einander nicht vorgestellt, auch kommt der junge Mann nicht vorbei, um dem Grafen die Ehre zu erweisen. Trotzdem weiß Ruth genauso sicher, wie sie Ruth heißt, dass dieser Mann, Kleists Sohn, sie ebenso intensiv beobachtet wie sie ihn.

      Im Herbst müssen Ruth und Anni zum ersten Mal in ihrem Leben von zu Hause fort auf die Schule, die jedoch nicht weit entfernt ist – ein Diakonissenhaus in einem Nachbarort, wo die beiden auf die Konfirmation vorbereitet werden. Die Fantasien der Kindheit müssen bald Bibelsprüchen und Zitaten aus dem Katechismus weichen, die sie für die Prüfung zur Konfirmation auswendig zu lernen haben.

      Dezember. Es ist wieder so weit in Oppeln: Heiliger Abend! Ruth und Anni sind von der Schule nach Hause zurückgekehrt, auch Rob hat Heimaturlaub. Nach dem Abendessen gehen Ruth, Anni und Rob zu Fuß in die Kirche. Es schneit leicht. Kaum haben die drei das Haus verlassen, als Rob von einem jungen Mann begrüßt wird, der offensichtlich an der Ecke gewartet hatte. Rob stellt diesen Mann seinen Schwestern als »mein Freund, Herr von Kleist, der beste Reserve­offizier unseres Regiments« vor. Ruth ist sprachlos vor Erstaunen, während Rob fortfährt: »Sie sind also auch auf dem Weg in die Kirche!« Und Kleist antwortet fast entschuldigend: »Es ist unter uns jungen Leuten nicht üblich, die Kirche zu besuchen, aber ich halte es mit den Gebräuchen, in denen ich aufgewachsen bin.« Ruth gehen die ersten in ihrer Gegenwart gesprochenen Worte des jungen Kleist sehr zu Herzen. Sie hört nichts mehr von dem, was im weiteren Verlauf erzählt wird, obwohl die beiden jungen Männer miteinander plaudern, bis man die Kirche erreicht hat.

      Am Tag nach Weihnachten sind Vater und Mutter, Rob, Ruth und Anni außerhalb Oppelns auf Schloss Turawa zum Abendessen eingeladen. Diese Weihnachtseinladung ist Ruths erste richtige »Erwachsenen-Party«. Wieder ist »er« unter den Gäs­ten und nun beginnt Ruth langsam zu verstehen – die ne­benbei fallen gelassenen Bemerkungen beim Abendessen der Familie, die Visitenkarten auf dem Tablett, die Blicke, die sich beim Militärkonzert trafen, und das »zufällige« Treffen auf dem Weg zur Kirche. So geschehen diese Dinge in Preußen; Ruth ist noch nicht 16 Jahre alt, aber sie hat die Gabe zu beobachten und sie begreift.

      1883. Wieder zurück auf der Schule sind alle Gedanken an den Juristen in Vaters Büro völlig verdrängt. Ruth lernt fleißig Luthers Katechismus und versucht, eine Unmenge von Bibelversen sowie deren Bedeutung auswendig zu lernen. Sie möchte sich gründlich auf die Prüfung des Pastors vorbereiten, da sie sich die religiöse Bedeutung der Konfirmation sehr zu Herzen genommen hat. Bewusst geworden aus ihrem Familienleben und seiner Tradition ist ihr auch die weitere Bedeutung dieses Ereignisses – nämlich der Übertritt von der Kindheit in das Erwachsenenleben. Dieser Gedanke birgt sowohl Angst als auch Freude in sich und je näher der Mai heranrückt, desto schwieriger wird es für Ruth, ihre jugendlich-romantischen Fantasien im Zaum zu halten. Ihre Kindheitsvorstellung vom Märchenprinzen ist ganz auf Jürgen von Kleist übergegangen.

      November. Es ist der Beginn der Ballsaison in Oppeln – eine sorgfältig vorbereitete Serie von Festen, auf denen die höheren Töchter in die Gesellschaft eingeführt werden. Zu Hause wird der Name »von Kleist« nicht mehr erwähnt. Ruth ist der Meinung, er habe die Stadt verlassen, da Vater einmal bemerkte, er werde für einen Landrat in Brandenburg arbeiten. Ruth schwört, Kleist aus ihrem Herzen zu verbannen, da ihr die Sehnsucht nach ihm offenbar nur Leid zufügt. Heute steht Ruth geduldig vor dem Spiegel, während ihr die Schneiderin das Kleid anpasst. Das lange Haar hat sie hochgesteckt in der Hoffnung, ihre Mutter würde ihr gestatten, es so auf ihrem ersten Ball dieses Winters zu tragen. Ein neues Privileg des Erwachsenseins besteht darin, sich gelegentlich im Spiegel bewundern zu dürfen, was während der Kindheit auf Großenborau streng verboten war. Sie betrachtet die Erwachsenenfrisur und prüft ihre Figur im neuen Kleid. Sie überlegt, wie weit ihr Rock schwingen wird, wenn sie sich mit den unbekannten jungen Männern, die man im Ballsaal Oppelns trifft, im schnellen Walzertakt drehen wird. Diese Vorstellung reicht aus, um sie wenigstens ein bisschen neugierig auf den kommenden Winter zu machen. Die realistische Ader in Ruth sagt ihr, »das Leben muss weitergehen«. Der erste Ball der Saison findet beim wichtigsten Berater ihres Vaters, selbst Vater zweier heiratsfähiger Töchter und zweier Söhne, statt. Beide Söhne sind soeben zu Offizieren ernannt worden und befinden sich gerade auf Heimaturlaub. Ihre Anwesenheit ist ein willkommener Grund, ein Fest zu geben. Zu den Gästen gehören Töchter und Söhne des schlesischen Amtsadels mit ihren Eltern. Am Abend des Festes erstrahlt die Residenz im Kerzenlicht. Nun treffen auch die Kaleschen und Kutschen mit den festlich gekleideten Damen und Herren vor dem Eingang des eleganten Stadthauses ein.

      Die Aufregung beginnt bereits vor dem Essen beim Punsch in der Bibliothek. Dort bitten die jungen Männer die jungen Damen um einen Tanz, den diese auf der Tanzkarte, bunten, gefalteten und mit Satinbändern um das Handgelenk gebundenen Papieren, eintragen. Ruths Tänze sind bis auf zwei vergeben. Zunächst beglückwünscht sie sich zu ihrer Leis­tung, doch dann rügt sie sich wegen ihrer Eitelkeit. Warum finden in ihrem Inneren immer diese Kämpfe statt, während die anderen so fröhlich und unbeschwert wirken?

      Das Essen ist sehr formell und verläuft genau nach Programm – zunächst ein Gebet des Gastgebers, dann der erste Gang, ein Toast im Stehen auf den Kaiser und König sowie seinen Vertreter, den Regierungspräsidenten, Graf Robert von Zedlitz und Trützschler, und schließlich ein Toast auf all die reizenden anwesenden Damen. Nach dem Essen begeben sich die Gäste in den Ballsaal. Ruth geht am Arm des jungen Leutnants von Dörnberg. Plötzlich trifft es sie wie ein Blitz – sie hat ihn unter den Gästen entdeckt. Den ganzen Abend lang wechseln ihre Emotionen zwischen Glück und Verzweiflung. Jürgen von Kleist hat zwar das Abendessen versäumt, aber immerhin hat er den weiten Weg aus Berlin nicht gescheut, um zu diesem Ball zu kommen (in ihrem Herzen nennt Ruth ihn bereits Jürgen). Er fragt Ruth, ob auf ihrer Tanzkarte noch ein Platz frei wäre; die Antwort ist natürlich »Ja«. Er trägt sich für den Cotillion ein und geht dann weiter. Ruth ist sich bewusst, dass unter all den heiratsfähigen Junggesellen er der begehrteste ist, sowohl für die Mütter als auch für die Töchter. Welch eine Qual für Ruth!

      Ruths Eltern Graf Robert von Zedlitz und Trützschler

       und Gräfin Agnes geb. von Rohr

      Die ganze Ballsaison hindurch besuchen Lisa und Ruth, die beiden Komtessen von Zedlitz, alle Bälle der großen Häuser Oppelns und auf den noch prächtigeren Herrensitzen der nahe gelegenen Güter. Unter den anwesenden Gästen ist Jürgen stets anzutreffen. Er wohnt inzwischen in Oppeln, wo er wieder bei Ruths Vater arbeitet. Allein diese Tatsache weckt erneut Hoffnung bei Ruth. Jürgen lässt sich immer schon frühzeitig den Cotillion reservieren, aber trotz seiner liebenswürdigen und galanten Art zeigt er kein weiteres In­teresse, ja, er scheint sogar allen seinen Tanzpartnerinnen die gleiche Liebenswürdigkeit und Höflichkeit teilwerden zu las­sen. Ruth tanzt zwar mit vielen jungen Männern und ihre Tänze sind immer reserviert, ihre Gedanken und Gefühle jedoch gehören nur Jürgen von Kleist.

      1884, April. Ruths vorerst letzte Begegnung mit Jürgen, bevor alle in die Sommerferien fahren, erfolgt anlässlich einer sonntäglichen Landpartie in einer Reihe offener Kutschen. Die Herren