Mit dem Mut einer Frau. Jane Pejsa

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Название Mit dem Mut einer Frau
Автор произведения Jane Pejsa
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783865064493



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Straße ein, die in das Zentrum des Dorfes führt, und fährt am zugefrorenen Teich vorbei bis zur Kirche. In der Kälte stehen die drei Gutsverwalter des Kreises, zwei für Kieckow, einer für Klein Krössin, die gewählten Sprecher jedes Dorfes und der Dorflehrer, alle sonntäglich gekleidet. Jürgen stellt jeden der Männer in der Reihenfolge ihres Ranges vor. Ihm ist klar, dass sie die noch sehr junge Frau begutachten, die ihrer Meinung nach die nächste Herrin des Gutes Kieckow sein wird.

      Nach der Verabschiedung der Delegation steigen Ruth und Jürgen allein die vier Steinstufen hinab, die in die Gruft unter der Kirche führen. Ein schwaches Licht erhellt notdürftig den Raum. Ruth erkennt am anderen Ende des nied­rigen Gewölbes einen Altar und davor einen Sarg. Zunächst ist sie schockiert, denn Jürgen hat sie auf diesen Anblick nicht vorbereitet, er erklärt ihr aber schnell, hier lägen die sterblichen Überreste seiner Mutter. Seit ihrem Tod war fast ein Jahr vergangen. Ruth kann sich nicht erinnern, dass in Großenborau oder Schwentnig, ihrer schlesischen Heimat, die Toten so lang nicht beerdigt wurden, es sei denn, es herrschte tiefster Winter! Sollten die Gebräuche im Norden etwa anders sein? In Wahrheit unterscheiden sich die Sitten Pommerns nicht so sehr von denen Schlesiens. Nur hat der Vater bislang nicht die Kraft besessen, die endgültige Beerdigung seiner Frau anzuordnen. Für ein Weilchen sitzen Ruth und Jürgen auf der Bank vor dem Altar. Sie legen ihre Hände gemeinsam auf den Sarg der Mutter, während Jürgen einen Psalm rezitiert. Eigenartigerweise einen Psalm des Dankes.

      Jürgen führt Ruth die wenigen Stufen hinauf aus der Gruft. Ein paar Schritte weiter und sie gelangen in die bescheidene Kirche, die Vater und Mutter Kleist erbaut haben. Kieckow besitzt keinen eigenen Pastor, denn das kleine Gotteshaus ist eine Nebenkirche, so ist es der Pfarrer von Groß Tychow, der bereits vor dem Altar wartet. Jürgen zeigt auf den Steinboden der Kirche und erzählt von dem denkwürdigsten Gottesdienst, der hier in dieser kleinen Kirche stattgefunden hat. Im Jahr 1878 wurde auf Kaiser Wilhelm I. ein Mordanschlag verübt. Als diese Schreckensnachricht Kie­ckow erreicht hatte, rief Vater Kleist alle Dorfbewohner in der Dorfkirche zusammen, wo sie sich hinknien sollten, während er, auch auf Knien, ein Mea culpa im Namen der gesamten Gemeinde sprach. Er bezichtigte das ganze Volk, sich selbst eingeschlossen, der schweren Sünde der Unterlassung, da sie alle dem Kaiser ihre uneingeschränkte Ergebenheit versagt hätten. Er schloss mit einer Bitte, über die noch heute im Dorf geredet wird: »Himmlischer Vater! Wir liegen vor dir, tief in den Staub gebeugt. Schlag auf Schlag trifft uns deine Hand.«2 Dieses Ereignis zeigt, Gott und König standen im Land der Kleists auf einer Stufe.

      Zusammen mit dem Pastor betrachten Ruth und Jürgen das große aus Holz geschnitzte Kreuz über dem Altar. Es ist eine exakte Kopie des berühmten Achtermann-Kruzifixes, das für die Gruft des Schlosses Charlottenburg in Berlin geschaffen wurde. In ihrer tiefen Religiosität ist Ruth stark berührt von diesem künstlerisch wertvollen Symbol. Unzählige Male in ihrem späteren Leben wird es ihr Trost spenden und es wird die große Katastrophe überstehen.

      Spätnachts, als Ruth sich nach der langen Fahrt zurück nach Köslin zur Ruhe gelegt hat, denkt sie noch einmal über die Ereignisse des Tages nach. Alles in allem war Kieckow für sie eine Enttäuschung und in keinster Weise mit den großen Gütern Schlesiens vergleichbar. »Jürgen«, entfährt es ihr, »wo sind eigentlich die pommerschen Schlösser?« Im Halbschlaf antwortet Jürgen: »Unsere Vorfahren wohnten in Lehmkaten. Pommern war von je her ein armes Land und zwang zu einer bescheidenen Lebensführung.«

      1886, April. Es ist bereits Frühling, dennoch ist in Pommern der Schnee noch kaum von den Feldern gewichen. Zum zweiten Mal in ihrem Leben reist Ruth nach Kieckow, diesmal für eine ganze Woche, um mit Jürgens Familie Ostern zu verbringen.

      Jürgens Vater ist in Begleitung von Elisabeth und Hans Anton aus Berlin nach Kieckow zurückgekehrt. Ungeachtet der politischen Probleme in der Hauptstadt hat er sich vorgenommen, während der Karwoche auf seinem Landsitz zu sein. Der Zustand des Hauses zeugt leider von der langen Abwesenheit der Familie, daher waren die Dorfbewohner tagelang damit beschäftigt, das Innere des Hauses und den Hof in Ordnung zu bringen. Dieses Jahr geben sie sich besondere Mühe, denn schließlich kommt Jürgen, der Erbe Kieckows, mit seiner Frau zum Osterfest nach Hause.

      Wie viel freundlicher ist Kieckow doch im Frühjahr. Zwar gibt es außer den früh blühenden Krokussen noch kaum Blumen, die Wiesen und Bäume sind jedoch in einen zartgrünen Hauch getaucht, der neue Hoffnung ausdrückt. In Ruth erwacht eine erste Zuneigung zu ihrer künftigen Heimat.

      Hans Hugo von Kleist hat zu seiner Rolle als Hausherr zurückgefunden und die zweimal täglich stattfindenden Gebete in Kieckow wieder eingeführt. Morgens und abends versammeln sich alle Bediensteten und Familienmitglieder in der weiß getünchten Eingangshalle des Gutshauses. Der einzige Unterschied zu früher besteht darin, dass Jürgens Mutter nicht mehr dabei sein kann und dass es keine kleinen Kinder gibt, die auf dem Boden sitzend mit ihren zarten Stimmen in den Abschlusschoral einstimmen. Im Gutshaus von Kieckow hat es immer Kinder gegeben und Hans Hugo von Kleist hofft, dass bald wieder welche im Haus sein werden.

      Entlang der Wände stehen einfache Holzbänke, die für alle ausreichend Sitzplatz bieten. Der Vater bleibt als Einziger stehen und liest einen Text aus der Bibel, den er im Anschluss erläutert. Die Einfachheit und Klarheit dieser Aussagen und das Singen des Chorals »Morgenglanz der Ewigkeit«, der zur Familienhymne der Familie Kleist erkoren wurde, bewegen Ruth sehr.

      Jürgen erinnert sich an ein Ereignis in seiner Kindheit, an dem dieses Kirchenlied ebenfalls gesungen wurde. Es war ein herbstlicher Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, als er sich auf dem Weg ins Internat befand. Er saß neben seinem Vater in einer der Kutschen aus Kieckow und zitterte nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst, denn es war noch dunkel, als sie sich auf den Weg machten.

      Als sie Klein Krössin erreichten und in die Postkutschenstraße einbogen, verfärbte sich der Himmel rot von der aufgehenden Sonne. In dem Moment ertönte des Vaters Stimme mit dem Jürgen so bekannten Kirchenlied. Der Kutscher stimmte mit ein (es gab damals in Kieckow niemanden, der dieses großartige Lied nicht kannte), nach einer Weile erhob auch der Junge zaghaft seine Stimme. Wie durch ein Wunder verschwand seine Angst vor der noch unbekannten Schule. Ruth ist mit dieser Geschichte nun ebenso vertraut wie Jürgen selbst, denn sie ist Teil des Kleistschen Erbes, das jetzt auch das ihre ist.

      Als die Eltern Kleist in Kieckow lebten, wurden die morgendlichen und abendlichen Gebetsstunden durch die große, am Dach des Hauses außen angebrachte Eisenglocke eingeläutet. Damals nahmen alle Dorfbewohner an den Andachten teil, was Ruth tief berührt. Wenn sie und Jürgen einmal Kieckow übernehmen, wird diese Glocke wieder alle Dorfbewohner zum Gebet des Haushalts rufen. Ruth ist zu der Überzeugung gelangt, Gott ist in Kieckow allgegenwärtig. Trotz ihrer Jugend entsteht bei ihr das Gefühl, es werde einmal an ihr sein, diesen Zustand aufrechtzuerhalten.

      Ruths erstes Osterfest in Kieckow wird jedoch von einigen Unsicherheiten überschattet. Sie treten hauptsächlich in Gesprächen zwischen Jürgen und seinem Vater zutage, wirken sich jedoch auch auf Ruths Verhältnis zu Hans Anton und Elisabeth aus.

      Gibt es keine gegenteiligen Abmachungen, so wird in Preußen der gesamte Landbesitz an den ältesten Sohn vererbt. Laut Gesetz dürfen Güter nicht geteilt werden, was historisch gesehen der Machterhaltung im Königreich gedient hat. Innerhalb der Familien ist dadurch jedoch häufig Zwietracht entstanden.

      Hans Anton, der älteste Sohn, leidet seit seiner Kindheit an einer Lähmung, weshalb ihm die militärische Laufbahn verwehrt blieb. Sein Studium konnte er aber beenden und er begann eine Karriere in der preußischen Verwaltung. Jürgen, Kleists zweitältester Sohn, wünschte sich nichts sehnlicher, als die militärische Laufbahn einzuschlagen – ein Junker3 im ursprünglichen Sinne des Wortes zu werden. Vater Kleist aber war anderer Meinung und wählte für seinen dritten Sohn die militärische Laufbahn, denn dessen Erfolgsaussichten für ein Studium waren gering. Dieser Sohn namens Friedrich Wilhelm, Patenkind des verstorbenen Königs, dessen Namen er auch trug, erkrankte im Verlauf seines Militärdienstes und starb. Nun gibt es noch Elisabeth, die den Namen der verstorbenen Königin, ihrer Patin, trägt. Sie begleitet und versorgt ihren Vater, seitdem er zum Witwer wurde. Traditionsgemäß ist sie die Herrin von Kieckow.