Was sich bewährt hat. Inge Friedl

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Название Was sich bewährt hat
Автор произведения Inge Friedl
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783990403761



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Arbeitsmoral“. In einem Hafen treffen ein Tourist und ein Fischer aufeinander. Der Fischer liegt entspannt in seinem Boot und döst. Der Tourist fotografiert diese idyllische Szene. Klick, klick und noch einmal klick. Der Fischer wacht auf und die beiden kommen ins Gespräch. Der Tourist fragt ihn, ob er nicht an diesem Tag noch ein zweites Mal auf Fischfang gehen wolle, da das Wetter doch günstig sei. Der Fischer schüttelt den Kopf. Nein, er werde nicht ausfahren. Er habe heute bereits so viel gefangen, dass er auch für den nächsten und übernächsten Tag genug habe.

      „Aber“, sagt der Tourist, „stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen. Stellen Sie sich das mal vor.“ Wenn der Fischer das täglich tun würde, so der Fremde, könnte er sich in einem Jahr einen Motor für sein Boot, in zwei Jahren ein zweites Boot, irgendwann einen oder sogar zwei Kutter leisten. Dann könnte er sich ein kleines Kühlhaus bauen, eine Räucherei, später vielleicht eine Fabrik. Er könnte mit einem Hubschrauber die Fischschwärme suchen und per Funk den Kuttern Anweisung geben. Er könnte ein Fischrestaurant eröffnen und Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren. Und dann, ja, dann könnte er beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen und auf das herrliche Meer blicken. „Aber das tue ich doch schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich gestört.“

      Der Fischer ist der Prototyp des Satificer, der selbst entscheidet, wann es genug ist und wann er zufrieden sein kann. Eigentlich ist jemand wie er eine Provokation in einer Welt, in der alles immer größer, schneller und besser sein muss.

      Diese Erzählung von Heinrich Böll ist zwar sehr schön, aber dennoch erfunden. Wahr hingegen ist folgende Begebenheit: Der Besitzer eines kleinen Kaufmannsladens3, der alles führte, was das Dorf so brauchte, der aber gerade nur so viel abwarf, dass die Familie bescheiden davon leben konnte, fasste seine Lebensphilosophie in einem Satz zusammen: „Solange wir unser Auskommen haben, gibt es nichts zu jammern.“

      Der Fischer und der Kaufmann, beide sind zufrieden, wenn auch auf unterschiedliche Art. Sie haben beide eine Art Stopp-Schild gegen die Unzufriedenheit aufgestellt, auf dem steht: „Ich habe alles, was ich brauche!“ Auch der Kaufmann hat eine Entscheidung getroffen.

      Er und seine Familie haben die eigenen Ziele den Umständen angepasst. Sie waren bescheiden in ihren Lebensträumen und waren zufrieden, wenn sie genug verdienten, um einigermaßen gut leben zu können.

      DAS WICHTIGSTE, WAS MAN ÜBER ZUFRIEDENHEIT WISSEN MUSS, ist, dass sie immer das Ergebnis eines Vergleichs ist. Dazu eine weitere Geschichte. Eine 1935 geborene Frau, Juliane, die Tochter eines Kleinbauern, meinte, dass ihre Familie nach heutigen Maßstäben eigentlich arm gewesen ist. Bis zum Alter von etwa 12 Jahren wäre ihr so ein Gedanke nie gekommen, weil ihr der Vergleich gefehlt hätte. In ihrer Kindheit hatte sie nie den Eindruck gehabt, dass sie zu kurz kommt, denn alle im Dorf hatten gleich viel oder gleich wenig – je nachdem, wie man es betrachtete.

      Die Familie hatte sieben Kinder und besonders während des Krieges eine schwere Zeit. Der Vater war Soldat und die Mutter musste die ganze Last der Arbeit alleine tragen. Man hatte drei, vier Kühe, ein paar Hühner und zwei Schweine. Ein Schwein wurde jährlich verkauft, das andere musste den Fleisch- und Fettbedarf der Familie für ein Jahr decken. Geld war nur vorhanden, wenn das Schwein oder eines der Kälber verkauft wurde – das heißt, Geld war absolute Mangelware. Für die Kinder bedeutete dies: keine (gekauften) Spielsachen und neue Kleidung oder Schuhe nur für die ältesten Geschwister. Die Kleineren mussten „nachtragen“, was den Großen nicht mehr passte.

      Juliane erinnert sich noch gut an den Moment, als ihr das erste Mal klar wurde, dass ihre Familie arm war, und dass ihr fehlte, was andere besaßen. Zu diesem Zeitpunkt ging sie bereits in die Hauptschule. An einem heißen Tag wollte sie in einem kleinen Stausee baden. Da der Weg dorthin steinig und voll Schotter war, zog sie ihr einziges Paar Schuhe an. Dies war im Sommer ungewöhnlich, denn die meisten Kinder gingen in der warmen Jahreszeit barfuß, um die kostbaren Schuhe zu schonen. Juliane aber hatte an diesem Tag keine Lust dazu. Sie ließ sich auch nicht von ihrer Mutter überreden, die sie wiederholt aufforderte, doch die Schuhe zu sparen und bloßfüßig zu gehen.

      Und so geschah es dann – beim Baden wurden ihr die Schuhe gestohlen. Juliane traute sich nicht, ihren Eltern davon zu erzählen und ging am nächsten Tag barfuß in die Schule. Erst dort realisierte sie, dass sie die einzige Schülerin ohne Schuhe war. In der Volksschule waren fast alle Kinder bloßfüßig gewesen, aber jetzt war sie die einzige an der ganzen Schule. Die Hauptschule besuchten damals fast nur die Kinder der besser gestellten Eltern und alle besaßen selbstverständlich mehrere Paar Schuhe. Juliane schämte sich für ihre Armut. Sie wurde zwar nicht von den Mitschülern gehänselt, aber es war ihr äußerst peinlich.

      Ein paar Tage ging das so, bis die Eltern bemerkten, was los war. Sie mussten wohl oder übel ihrem Kind neue Schuhe kaufen – eine unvorhergesehene, große Geldausgabe. Bis zu diesem Zeitpunkt war es Juliane völlig egal gewesen, dass sie nur ein einziges Paar Schuhe besaß. Ihrer Ansicht nach war das absolut ausreichend. Doch nun wurden ihr die Augen geöffnet, indem sie sich mit anderen vergleichen konnte, die mehr besaßen als sie.

      Von Søren Kierkegaard stammt der Ausspruch „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“. Genau das macht uns heute Stress. Der Nachbar hat ein größeres Auto, die Kollegin ein höheres Einkommen und die Freundin bucht den teureren Urlaub. Das wollen wir auch. Der zuvor erwähnte Dorfkaufmann aber sagte sinngemäß: „Wenn du genug hast, dann sei zufrieden.“ Das klingt nach Bescheidenheit und das kommt heute gar nicht gut an. Sich-Bescheiden, das klingt nach Sich-zufrieden-Geben, wo man doch noch immer mehr haben könnte.

      Die Kaufmannsfamilie, von der oben die Rede ist, war zufrieden, weil die Kluft zwischen ihrer realen Situation und dem, was sie sich erträumten und wünschten nicht besonders groß war. Sie haben „Frieden“ mit ihren Sehnsüchten geschlossen und so ihre Seelenruhe gefunden. Nicht umsonst steckt das Wort „Friede“ im Begriff Zufriedenheit.

      ICH KENNE ZAHLREICHE EXPERTEN FÜR ZUFRIEDENHEIT. Sie sind weder Psychologen noch Soziologen noch haben sie studiert. Es sind weise und lebenserfahrene Menschen, die alle von einer Zeit berichten können, in der scheinbar „andere Gesetze“ herrschten. Es handelt sich dabei um die Zeit – bei uns am Land – bis etwa in die 1960er-Jahre.

      Immer wieder fragte ich meine Gesprächspartner, was denn „die gute alte Zeit“ wirklich ausgemacht hat, was sie heute vermissen würden. Und immer wieder tauchten vor allem zwei Begriffe als Antwort auf: Zufriedenheit und Gemeinschaft. Stellvertretend für viele steht die Aussage einer älteren Bäuerin: „Obwohl man kein Geld gehabt hat, hat man trotzdem alles gehabt, was man gebraucht hat.“

      Kein Geld – das ist fast wörtlich zu nehmen. Die Menschen waren Selbstversorger und lebten äußerst sparsam. Das galt für alle, für Arme und für Reiche. Reich war, wer Landbesitz, ein großes Bauerngut und viel Vieh hatte. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass viel Bargeld vorhanden war und noch weniger, dass man es ausgab.

      Der große Gleichmacher am Land war früher der Mangel an Bargeld. Alle besaßen gleich wenig davon. Lediglich der Bauer selbst, der Besitzer, konnte größere Ausgaben tätigen, alle anderen lebten (fast) ohne Geld.

      Eine Innviertler Bauerntochter erzählte, dass sie in ihrer Jugend über weniger Geld verfügte als eine Magd, die zumindest ein kleines, aber regelmäßiges Einkommen erhielt. Wenn sie hingegen Geld benötigte, musste sie ihre Mutter um ein paar Groschen bitten. Jede Bäuerin hatte einen kleinen Zuverdienst durch den Verkauf von Hühnereiern. Das war übrigens das einzige Bargeld, über das die Bäuerinnen frei verfügen konnten. Die Mutter zweigte vom „Hühnergeld“ ein wenig ab und gab es der Tochter, die damit vielleicht beim Kaufmann ein Stück Stoff oder eine Kleinigkeit am Kirtag kaufte.

      Wo wenig Geld vorhanden war, wurde wenig Geld ausgegeben. Ein sparsamer Lebensstil war nicht nur Pflicht, sondern die einzige Möglichkeit, sein Auskommen zu finden. Es ist paradox, dass gerade diese Zeit von meinen Gesprächspartnern als die zufriedenste bezeichnet wird.

      Sparsamkeit – nicht zu verwechseln mit