Was sich bewährt hat. Inge Friedl

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Название Was sich bewährt hat
Автор произведения Inge Friedl
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783990403761



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      Da lohnt ein Blick zurück. Früher scheint etwas möglich gewesen zu sein, was wir heute ersehnen: ein Leben in Zufriedenheit und Gemeinschaft, ohne unnötige Hektik, dafür in angemessenem Tempo. Ein Leben, in dem man nicht alles gleichzeitig tun muss, sondern schön eines nach dem anderen, und in dem Multitasking ein Fremdwort ist, dafür Begriffe wie Feierabend, Bescheidenheit und Zufriedenheit existieren.

      Das ist für die meisten eine unbekannte Welt. In Zeiten von Burnout, Depression und Stress ist es jedoch sinnvoll, etwas genauer hinzuschauen: Würde uns ein neuer Lebensstil mit altem Wissen helfen, dem Hamsterrad von Überforderung und Zeitdruck zu entkommen?

      So wie Byung-Chul Han uns heute als „Müdigkeitsgesellschaft“ bezeichnet, könnte man ganz allgemein die Gesellschaft unserer Vorfahren als „Zufriedenheitsgesellschaft“ charakterisieren. Ganz gewiss waren früher nicht alle zufrieden, genauso wenig wie heute alle müde zu sein scheinen. Dennoch sind viele von uns ausgebrannt und erschöpft, obwohl es kaum je ein solches Freizeitangebot gab. Früher scheinen die Menschen gelassener und zufriedener gewesen zu sein, obwohl sie weniger Freizeit, weniger Selbstverwirklichung und in einigen Dingen gar keine Auswahlmöglichkeit hatten.

      Es steht außer Diskussion, dass manche der alten Lebensweisen bestimmt nicht zur Nachahmung geeignet sind. Ich picke mir sozusagen die Rosinen aus dem Kuchen und erinnere an jene Dinge des alten Lebens, die absolut erstrebenswert sind.

      Es geht in diesem Buch nicht um Ratschläge, sondern um den Erfahrungsschatz unserer Vorfahren. Es geht um einen Umgang mit Zeit, der uns wohl tut, um den Wert des Innehaltens und die Kraft der Sonntagsruhe, um echtes Miteinander und auch um die Frage, wie viele Dinge man zum Leben wirklich braucht.

      Dieses Buch ist eine Entdeckungsreise zu Entschleunigung und ein wenig mehr Gelassenheit. Es hätte nicht geschrieben werden können, wenn ich nicht derart viele Expertengespräche geführt hätte. Bei diesen Experten, meinen Gesprächspartnern, möchte ich mich bedanken, bei den mehr als einhundert Frauen und Männern aus Salzburg, Oberösterreich, Steiermark, Kärnten und dem Burgenland, die ihre Lebenserfahrung und ihre Weisheit mit mir geteilt haben.

       Inge Friedl

      Vom miteinander Reden und miteinander Leben

      AM 3. APRIL 1973 wurden die allerersten Worte über ein Handy gesprochen. Der Elektroingenieur Martin Cooper sprach in einer Seitenstraße von Manhattan, ungläubig bestaunt von den Passanten, folgende Worte: „Joel, ich rufe dich von einem mobilen Telefon an. Von einem echten tragbaren Batterietelefon!“ Cooper gilt als der Erfinder des Mobiltelefons und sein erster Anruf galt seinem Konkurrenten Joel Engel in der (gegnerischen) Forschungsabteilung von Bell Laboratories. Das damalige Handy wog übrigens mehr als ein Kilogramm und hatte eine Betriebszeit von nur zwanzig Minuten.

      Heute, 42 Jahre später, besitzen 90 Prozent aller Deutschen über 14 Jahren ein Handy und in Österreich wird es nicht viel anders sein. Keiner wundert sich mehr über einen Passanten, der seinem Mobiltelefon begeistert berichtet, wo er sich gerade befindet. Und wir sind es gewohnt, wegzuhören, wenn wir in der Straßenbahn Zeuge eines Telefonats werden, in dem Dinge besprochen werden, die wir gar nicht wissen wollen.

      Wir betreten ein Lokal, steigen in die U-Bahn, warten auf den Bus und um uns herum sind alle in ihr Handy vertieft, das mittlerweile ein kleiner Computer geworden ist. Die einen starren auf ihr Display und lesen die Zeitung, die anderen schreiben eine Nachricht auf WhatsApp oder kontrollieren ihren Facebook-Account, eine sieht ein lustiges You Tube-Video an, eine andere hat die Kopfhörer im Ohr und hört Musik. Kaum einer redet miteinander, man schaut einander nicht einmal mehr an.

      Eine Szene wie die folgende spielt sich vermutlich täglich unzählige Male ab: Abendessen in einer Raststation an der Autobahn, irgendwo in Österreich. Am Nebentisch sitzt eine Familie mit zwei Kindern, einem Mädchen und einem Buben. Alle vier sind mit ihren iPhones beschäftigt, essen nebenbei und wechseln die ganze Zeit kein einziges Wort miteinander. Irgendwann, nach 15, 20 Minuten fällt endlich doch noch ein Satz. Der Vater fragt den etwa 8-jährigen Sohn: „Musst du auf die Toilette? 1“

      Wenn wir jetzt vom „Miteinander“ der alten Zeiten reden, ist es, als blickten wir in ein fremdes Zeitalter zurück. Es ist nicht nur die „Zeit, bevor das Handy kam“, es ist auch die „Zeit, bevor das Fernsehen kam“. Das Leben damals war in vielen Dingen so grundlegend anders als unser Leben heute, dass es uns unendlich weit weg erscheint – dabei liegen nur wenige Jahrzehnte dazwischen.

      Das, was die Menschen damals erlebten, war schlicht und einfach „Gemeinschaft“. Damit ist nicht gemeint, dass alle fantastisch miteinander auskamen und sich fortwährend gegenseitig ihr Herz ausschütteten. Nein, die Gemeinschaft war das Ergebnis der Verhältnisse der damaligen Zeit. Viel mehr Menschen als heute lebten miteinander unter einem Dach. Man redete miteinander, man erzählte sich vieles, man fragte nach und hörte zu. Und all das nicht am Telefon, auch nicht übers Internet, sondern in echten Gesprächen mit real anwesenden Menschen.

      ES WAR IM MÜHLVIERTEL in den frühen 1940er-Jahren, als eine Volksschullehrerin in ihrer Klasse eine kleine, visionäre Rede hielt. Sie sagte ungefähr Folgendes: „Ich selbst werde es nicht mehr erleben, aber ihr werdet es noch erleben! Ihr alle kennt ja ein Radio. Ein paar von euch haben sogar eines in der Stube stehn. Ich sag euch: Eines Tages werdet ihr ein Radio mit Bildern haben. Ich weiß auch nicht genau, wie das funktionieren kann, aber es wird so etwas wie ein Radio sein und daneben werdet ihr ein Bild sehen.“ Die Schüler hatten damals keine Ahnung, wovon die Frau Lehrerin sprach. Keiner konnte sich nur entfernt vorstellen, was sie meinte.

      Als diese Menschen dann das erste Mal in ihrem Leben Fernsehbilder sahen, machte das ungeheuren Eindruck. Jeder von ihnen weiß noch ganz genau, wann und wo er die erste Fernsehsendung gesehen hatte. Man erinnert sich an diesen Moment als etwas Großes, Umwälzendes, Unglaubliches.

      Folgende Episode ist typisch für diese Zeit: Ein Familie aus Wien besaß in einem kleinen Dorf im Burgenland ein Ferienhaus. Außerdem gehörte ihnen das einzige Fernsehgerät weit und breit. Fernsehen war neu, eine Sensation, und es übte eine ungeheure Anziehungskraft aus. Wie in anderen Orten war auch in diesem Dorf Fernsehen anfangs ein gesellschaftliches Ereignis. Man verabredete sich, um eine bestimmte Sendung gemeinsam anzuschauen. Hier im Burgenland war es die „Löwingerbühne“ mit ihren volkstümlichen Stücken, die den halben Ort im Wohnzimmer der Familie versammelte. Jeder verfügbare Sessel wurde in den kleinen Raum getragen, und dicht gedrängt verfolgte man gemeinsam die Sendung.

      Dasselbe um 1960 in einem kleinen Ort bei Hermagor in Kärnten: Auch hier besaß nur eine einzige Familie ein Fernsehgerät. Diesmal war es der „Kasperl“, der einmal wöchentlich, am Mittwoch, alle Kinder des Ortes anlockte. Allerdings durfte nur schauen, wer die „Eintrittsgebühr“ bezahlte: einen Schilling pro Kind.

      In der Anfangszeit war Fernsehen noch ein Gemeinschaftserlebnis. Das änderte sich aber schnell. Unversehens saß jeder bei sich zu Hause abends allein vor seinem Fernsehgerät. Innerhalb weniger Jahre veränderte sich das Leben nicht nur am Land dadurch so nachhaltig, dass man von einer „Zeit davor“ und einer „Zeit danach“ sprechen kann.

      In der „Zeit davor“ saß man nach der Arbeit gesellig beieinander, unterhielt sich, sang auch manchmal, spielte Karten und erzählte sich Geschichten. Besonders der Winter mit seiner arbeitsfreien Zeit war besonders gesellig. Niemand saß allein in der dunklen Stube, häufig kamen die Nachbarn dazu und man besuchte sich gegenseitig.

      In der „Zeit danach“ scheint dies alles wie ausgelöscht zu sein. Die Nachbarn nehmen auch am Land kaum mehr Anteil am Leben des anderen (zumindest im Vergleich zu früher) und besuchen sich infolgedessen nur mehr selten. In den Häusern ist es stiller geworden, auch weil viel weniger Menschen als früher darin leben. Die Gemeinschaft, die die alten Zeiten so sehr prägte, scheint unwiederbringlich vorbei zu sein.

      BEIM REDEN KOMMEN DIE LEUT Z’SAMM, sagte man früher und meinte damit, dass allein durchs Reden Gemeinschaft entsteht. Die Gespräche