Erzähl mir von Ladakh. Adi Traar

Читать онлайн.
Название Erzähl mir von Ladakh
Автор произведения Adi Traar
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783945961520



Скачать книгу

Pech mit mir. Infolge eines Auflaufs an Nachwuchsbettlern verstärkte sich meine räumliche Präsenz ungemein, ich erweiterte mich kontinuierlich, zuletzt um noch einen Nachwuchshändler, einen Klebestreifen-und-Aufkleber-Kleber-und-Anstreicher. Er war mir mit seinem Umhang aus gut sortierten Kleberollen zuvor schon aufgefallen, als er begierig sämtliche Fahrzeuge, die sich ihm in den Weg stellten (oder er sich ihnen), mit reflektierenden Klebestreifen und Plaketten im Dienste der Verkehrssicherheit zuklebte; dergestalt platzierte er seine kleistrigen Duftmarken. Der vordere Teil des Fahrradgabelschafts drängte sich förmlich auf für eine Anhaftung, ich für das dazugehörige Business. 200 Rupien für fünf Zentimeter Gewebeband in hässlichem Leuchtgrün und weitere 200 Rupien für drei Zentimeter in Schock-Rot. 400 Rupien also und ich hatte meine eigene Verkehrsampel dabei. Es macht einen Unterschied, sich bei vollem Preisbewusstsein bescheißen zu lassen. Und es macht durchaus Spaß.

      Die Hotelterrasse des Snow View hielt, was der Name versprach; auf den umliegenden steil aufragenden Bergen hatte die Juniwärme dem Schnee zugesetzt, sich durch ihn hindurch gefressen, und die Gletscher traten ihre Höhenfluchten an. Das verwirrte den alpengewohnten Betrachter, berücksichtigte er, mit welchen Höhenmarken er es hier zu tun hatte, immerhin bäumte es sich auf bis 5000 Meter Meereshöhe.

      Ich bestellte ein amerikanisches Frühstück. Im Stillen bat ich um Verzeihung. Aber so eines würde wohl am allerwenigsten jene heikle Esstechnik mit den Händen einfordern wie neulich, und ich müsste nicht wieder konsterniert zwischen rechts und links hin- und herdenken. Letztlich ging auch dieses Frühstück nicht ohne Konventionsbruch ab, ich ließ den Speck weg, dafür kam ein herrlich duftender und schmeckender Masali-Tee hinzu.

      In diesem Land drehte sich so manche Konvention um, lief in meinen Augen verkehrt, wobei sich bei näherem Hinsehen das Bild als ein Negativabzug erwies, das erst in der nochmaligen Umwandlung – positiv getrimmt – stimmig wurde. Auf den Speisetafeln vor den Restaurants las man mit spitzer Kreide gezirkelt:

      100 % vegetarian! In den Speisekarten war zuunterst eine bescheidene Rubrik »non vegetarian« zu entdecken, als schäme man sich dafür. Zu europäischen Speisekartenkonstellationen ist das genau entgegengesetzt, für einen 100 %-Vegetarian wie mich aber völlig richtig. Als ich in einem solchen Restaurant von außen auch noch Essbesteck aufblitzen sah, hatte es umgehend mein Vertrauen. War ja nicht wirklich viel verlangt. In einem indischen Restaurant in Graz hatte ich zuletzt ein fantastisches Malai-Kofta gegessen, jetzt entdeckte ich es zuoberst auf der Karte, bestellte es und war neugierig auf den Unterschied. Der Unterschied war elf Euro. Geschmacklich? Hier war’s uriger, fettäugiger, auch gut, trotzdem 1 : 0 für die Grazer im Match der Küchen. Rechnete man hingegen das Preis-Leistungs-Verhältnis hinzu, hätten die Grazer sicherheitshalber einen Elfmeter auf dem Kochfeld benötigt, um die Führung verteidigen zu können. Die Inder würden aber noch genügend Gelegenheiten haben für den Ausgleich.

      In der Mall Road, dem Flaniersteg Manalis, entsprach die nicht zu differenzierende Geruchsmischung aus scharf bis süßlich, aus anregend bis ekelerregend, welche im Schleichgang die Nasenhöhlen einnahm (die ekelerregenden Gerüche auch die Bauchhöhlen), durchaus dem Aufzug des bunten Personals an Stadtflaneuren. Im Rating ganz oben auf: die paarweise aufstolzierenden Flitterwöchner, als wären sie frisch dem Hochzeitszeremoniell entrissen (die Frauen in prachtvollen Saris, die Herren westlich elegant); Kurgäste aus dem Süden, die 32 Grad im Schatten als lebensqualitative Bereicherung ansahen; Straßenhändler, die mit allem Möglichem und Unmöglichem den Läden an beiden Seiten der Mall Road die Aussicht auf Geschäft und Gewinn verstellten (die Aussicht auf Aussicht sowieso); Hippies westlicher Provenienz, die, einander geflissentlich ignorierend, aneinander vorbeischwebten – jedem Einzelnen schaute der behäbige Nimbus des letzten Mohikaners einer kaputtgelebten Rasse aus den runzelig gekifften Augenzügen heraus –, und zuunterst, meist in Bodennähe, mit dem besudelten Visitenkärtchen »Ramsstatus« versehen, die Bettler, welche verunstaltete oder fehlende Körperteile hoffnungsfroh in die Schlacht um den begehrten Obolus warfen; und mittendrin ein mit lumpiger Berghose samt verstaubten Bergschuhen unschicklich und statusmissachtend ausgestatteter Alpin-Sahib, der ordentlich am krämerladenartigen Kastensystem der Inder rüttelte, indem er die Schubladen gehörig durcheinanderbrachte. Ich zog die Aufmerksamkeit auf mich, wurde zum Umworbenen vieler eifriger Blicke aus allen Begegnungsrichtungen. Ich konnte gar nicht genug bekommen, stromerte durch das Geschehen, ging dabei die Mall Road auf und ab. Nach ein paar Runden bemerkte ich, dass ich nicht der Einzige war, der das tat.

      Dann und wann lugten faltige Berggesichter mit putzigen Schneehäubchen interessiert oberhalb der steil ansteigenden Waldhänge an beiden Seiten des Tales auf das bunte Treiben in den Straßen herab, ehe sie sich wieder in nobler Blässe hinter dem feinen Gespinst aus Wolken zurückzogen. Sie hatten hier keinesfalls die Hauptrolle zu spielen. Am unteren, dem Busbahnhof zugewandten Ende der Mall Road nahm der Menschenstrudel ab, ich entwand mich der Strömung und besuchte die Tempel im tibetischen Viertel.

      Eine ehrwürdig betagte Frau, die dieses Prädikat wohl schon seit etlichen Jahren vor sich hertrug, bewachte den Eingang der Gadhan Thekchhokling Gompa. Um den Gebetsbereich im Freien drehte ich ein paar Runden und betätigte dabei die kreiselartigen Gebetsmühlen, sodass sie das auch taten; dergestalt verlor ich mich abermals in einem Wirbel, wie ihn die Runden drehenden Menschenmassen auf der Mall Road erzeugt hatten. Hin und wieder sah man einen Mann mit Topi, eine traditionelle, ursprünglich nepalesische Mütze aus dem Kullu-Tal, die sich, obwohl sie so aussieht, nicht von Toupet herleitet. Erhobenen Hauptes wurde sie getragen und derartig bedeutsam, als trenne den Kopf überhaupt nichts vom Himmel. Dabei gerieten die Topis zum reinsten Topos. Imponierend irgendwie.

      Als ich frühmorgens endlich losradelte, überfiel mich unvermittelt ein Weinen. Die Sorgen, geknüpft an das Morgen, das Wie und Wo, fielen von mir ab, verschafften sich Erleichterung über Tränen. Freilich hatte ich noch großen Respekt vor dem ersten Pass, dem Rohtang La, den es 2 000 Höhenmeter oberhalb meiner grobstolligen Fahrradreifen zu passieren galt.

      Kurz darauf machte es Srrraatschh. Die Kette hüpfte, das Herz blieb stehen. Es funktionierten genau zwei Gänge von siebenundzwanzig (2 : 27). Aus der Halb-leer-halb-voll-Perspektive war das immerhin viel mehr als gar keiner. Fünf Minuten später, nach getätigter Feinjustierung: Jetzt funktionierte nur noch einer (1 : 27), auch das war besser als gar keiner, die Situation konnte also schlimmer sein. Zehn Minuten später: Nichts ging mehr! Anscheinend hatte das Fahrrad im Flugzeug etwas abbekommen, was ihm gar nicht bekommen war. Sozusagen auf Biegen und Brechen versuchte ich jetzt den vom Normalkurs abgerückten Kettenwerfer gerade zu klopfen, was mir teilweise passabel gelang, mit dem Ergebnis: 26 : 27. Damit gelang auch die Abgrenzung von etwas, das aussah wie ein vernichtendes Ballspielergebnis. Meiner Mühen gewahr gab ein kleiner, in roten Teppichfilz gehüllter, kahlköpfiger Mönchsschüler zu erkennen, dass er bereits auf Augenhöhe mit der Sinnfrage des Lebens war: Ob ich glücklich sei. Ja richtig, so war es anfänglich gedacht gewesen in all den Religionen, nicht nur im Buddhismus. Ich freute mich, dass er mir das in Erinnerung rief und bejahte müde lächelnd. Das Lächeln wurde mir selbst zum Motor, der mutierte glatt zum Außenradmotor, die ersten Steigungen gelangen mühelos.

      Dorfauswärts über mehrere Kilometer säumten Verkaufsstände die Straße; diese waren von Tibetern okkupiert – bisweilen nahmen sie also das Okkupieren auch selbst in die Hand und überließen es nicht allein den Chinesen. Riesige Schilder mit Zahlen prangten von den Budendächern, ihr Zweck blieb mir schleierhaft. Feilgeboten wurde ein merkwürdiges Konglomerat an Winterutensilien. Pelzmäntel – da konnten welche aus Bärenfell dabei gewesen sein – flatterten von den Bügeln, daneben eine Kollektion abgetragener (abgefahrener?) Schianzüge; und als trauriger Höhepunkt, quasi Dornenkrönung, anderswo vermutlich für tot erklärte, das Antlitz verschrumpelt, die Taillen verunstaltet, in puncto Besohlung, vielmehr Belag wüste Spekulationen hervorrufende … Schier! Sie hatten ihre ruhmreichen Zeiten (womöglich Siegespodeste) längst hinter sich, jetzt wurden sie präsentiert wie auf dem Schafott.

      Ab und an hielt ein Auto, gefüllt mit Indern, oder ein Motorrad, besetzt mit Indern, es wurde diskutiert, gestikuliert, gefeilscht und gefeixt – große Sache halt, ritualhaft zelebriert.

      Wenig