Kālī Kaula. Jan Fries

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Название Kālī Kaula
Автор произведения Jan Fries
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783944180649



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saß der Herr der Asketen, nicht ahnend des Schicksals, das Karman für ihn bestimmte. Was für ein Ziel! Das war genau die Art von Spaß, die Kāma suchte. Schnell erhob er seinen Bogen aus Blumen. Er zielte mit den fünf Pfeilen der Sinne. Er murmelte einen Mantra und schoss.

      In diesem Moment erwachte Śiva. Sein drittes Auge der Absoluten Wirklichkeit öffnete sich, das Auge, das Ignoranz, Verwirrung und Verblendung zerstört. Das Feuer der Wahrheit ließ Bogen und Pfeile in Flammen aufgehen. Sein Blick traf Kāma, und Kāma sagte ‘Autsch!’ und löste sich auf. Wie ein feiner Ascheregen rieselte der Gott des Verlangens und der Lust auf den Boden und war nicht mehr.

      Dann sah Śiva Satī, und als ihre Augen sich begegneten, kehrte die Erinnerung zurück. Sie erkannten sich, und in diesem zeitlosen Moment hielt die Welt den Atem an. Dann erschienen die anderen Götter. Götter sind normalerweise neugierig, und wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, sind sie gern dabei, und wenn auch nur, um zu lachen. Der Anblick von Śivas und Pārvatīs Wiederkennen – ja, das war eine gute Neuigkeit! Aber was war das? Was war das für ein jämmerlicher Aschenhaufen auf dem Boden? Die Götter erkannten es, und Tränen begannen aus ihren Augen zu fließen. Hier war die Asche des Verlangens, der Lust und der Liebe. Vergangen war der Gott, dessen niemals endender Charme das Universum in Bewegung gehalten hatte. Rati (Wollust), seine Frau, kam zuerst wieder zu Sinnen. ‘Du hast ihn umgebracht!’ schrie sie Śiva an.

      ‘Entschuldigung, ich habe nicht gesehen, wer er war’, erwiderte der Gott der Asketen. ‘Das war nur ein Unfall …’

      ‘Na gut, dann lass ihn wieder auferstehen’, erwiderte Rati, und die anderen Götter stimmten zu, da sie sich vor einer öden, langweiligen Welt ohne Verlangen und Lust grausten. Śiva zuckte die Schultern. Er richtete seinen Blick auf den Aschenhaufen und ließ die Illusion der Begierde in die Welt zurückkehren. Und Kāma erhob sich, wiedergeboren aus der Asche der Enttäuschung und dem Blick des Allsehenden. Aus Śivas Ojas (Vitalität) wurde Kāma wiedergeboren, vibrierend vor Leben und froh, die Welt erneut zu umarmen. Und Kāma lachte. Von allen Göttern wusste er am besten, was jetzt kommen würde. Śiva sah Pārvatī an, und Pārvatī sah Śiva an, ihre Augen trafen sich, und Verlangen erwuchs zwischen ihnen. Als die Götter gingen, umarmten sich die beiden immer noch. Sie hatten die Ewigkeit, um sich zu vereinigen.

       Anmerkung für Neugierige:

      Diese Geschichte gehört zum Kern des tantrischen Mythos. Sie taucht in zahlreichen Versionen auf. In dieser vereinfachten Version habe ich Elemente aus verschiedenen Quellen vermischt, hauptsächlich aus dem DBh (7,29-31). Bevor Du in diesem Buch weiterliest, lies die Geschichte noch einmal. Dann erzähle die Geschichte ein paar Mal Dir selbst, und später allen, die freiwillig zuhören. Dies ist eine wunderschöne Tranceübung. Bei jeder Wiederholung wird die Geschichte lebendiger werden. Gib der Geschichte Leben, mach Dir große, bunte Bilder, füge Details hinzu und lege starke Gefühle hinein. Gute Geschichten brauchen ehrliche, intensive Gefühle, klares Denken und (wenn möglich) einfache Sätze. Wenn Du die Geschichte lebendig werden lässt, wirst Du feststellen, dass sie einen Zauber bewirkt. Dies ist die Geschichte einer Initiation, und Du kannst sie zu Deiner machen.

       Kapitel 2

       Vor dem Tantra

      Lass mich Dich zu einer Reise durch die Zeit einladen. Es ist auch eine Reise durch die vereinfachte Fiktion, die die Leute Geschichte nennen, und eine Reise durch die Möglichkeiten des Glaubens und religiösen Verhaltens. Zugegeben, manche Leser werden jetzt fragen, warum wir nicht sofort mit Kālī loslegen. Das wäre machbar. Das Ergebnis wäre ein wesentlich kürzeres Buch, welches voll von Gelegenheiten für Missverständnisse wäre. Denn dummerweise kann man die Götter einer Kultur nicht verstehen, ohne vorher eben diese Kultur intensiv kennen zu lernen. Und genau hier beginnt der Tanz von Lakṣmī. Wo Kālī Befreiung bringt, offenbart Lakṣmī die Freude, Fülle und Schönheit der ganzen Welt. Die beiden gehören eng zusammen; und eine ist ohne die andere nicht zu verstehen. Und deshalb beginnen wir, indem wir Tantra ganz allgemein kontextualisieren. Die Wurzeln von Tantra reichen sehr tief. Daher beginnen wir mit dem Anfang der indischen Geschichte. Wenige Länder bieten ein solch reichhaltiges Feld der religiösen Entwicklung wie das alte Indien. Nun magst Du mit dem Thema gut vertraut sein, die Veden gelesen haben, die wesentlichen Upaniṣaden kennen und ein gutes Grundlagenwissen der Literatur des frühen Hinduismus haben. Wenn das nicht der Fall ist, wird etwas Hintergrund hilfreich sein. Das folgende Kapitel bietet eine stark vereinfachte Darstellung der religiösen Entwicklung im alten Indien bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u.Z., als die ersten bekannten Werke der tantrischen Literatur verfasst wurden. Tantra tauchte nicht aus einem Vakuum auf. Es fiel nicht fertig vom Himmel. Jeder Erneuerer, egal wie innovativ und originell, baut auf dem auf, was frühere Erneuerer erschufen. Erneuerung kann kreative Neuerfindung bedeuten. Sie kann Anpassung, Neuinterpretation und Kombination mit neuen Zutaten bedeuten, und meist beinhaltet sie eine Menge Synkretismus und bedarf des Muts zur Originalität. Es gab hunderte von tantrischen ‚Schulen‘ (wenn ich diesen irreführenden Ausdruck verwenden darf) im Laufe der Geschichte, von denen die meisten heute ausgestorben sind, und jede von ihnen nahm ihren Anfang, als ein paar unzufriedene Leute beschlossen, die Sache zu verbessern. Selbst diejenigen, die eine Tradition ablehnen, reagieren auf sie. Die Geschichte von Magie und Religion ist nicht nur eine Geschichte von Traditionen, sondern auch von kreativer neuer Erfindung und Erkenntnis. In den nächsten Seiten lernst Du die Materialien kennen, aus denen Tantra gewoben wurde. Du wirst auch die Philosophien finden, die die Tantriker aus dem einen oder anderen Grund ablehnten, und Einsicht in die menschliche Suche nach Kontakt und Einheit mit dem Göttlichen bekommen. Für alle anspruchsvollen Leser möchte ich hinzufügen, dass die nächsten Seiten nur eine kurze, simple Zusammenfassung bieten. Ich musste eine Menge faszinierendes Material auslassen und das Komplexe vereinfachen: Kurz gesagt, gibt es hier viele Halbfakten und Fehldarstellungen. Um diese offensichtlichen Mängel zu beheben, bitte ich Dich, Deine eigenen Recherchen anzustellen. Verallgemeinerungen sind Lügen, und wenn man mehrere tausend Jahre höchst komplexer Aktivitäten auf ein paar Seiten kondensieren muss, werden das Einzigartige, das Ungewöhnliche und Ausnahmen von den Regeln leicht übersehen. Es gibt Ausnahmen, erinnere Dich daran – indische Religionen sind voll davon. Aus Platzgründen kann ich auch nicht für jedes kleine Detail Quellen angeben. Im Allgemeinen halte ich mich an Glasenapp (1958), Gonda (1960) und Franz (1991). Wenn nicht anders angegeben, sind Zitate aus dem Ṛg Veda (ṚV) nach Griffiths Übersetzung angeführt und Zitate aus dem Atharva Veda nach Whitneys Wiedergabe. Die Upaniṣaden sind nach Radhakrishnans Übersetzung zitiert.

      Bild 3

      Mesolithische Felskunst.

      Oben rechts und links: Zwei Darstellungen aus Pachmarhi, Madhya Pradesh. Das linke Bild ist ein tierisch-menschlicher Tänzer, vielleicht ein gestaltwandelnder Zauberer, die Figur auf der rechten Seite trägt eine erstaunliche Vorrichtung aus Schädeln und ein Lendentuch aus Tierfell; vielleicht ein früher Ahne der Schädel tragenden Gottheiten.

      Unten: Ritual oder Tanz mit Gestaltwandlern, Bhimbetka, Madhya Pradesh.

      Nach Mode und Chandra.

       Das Industal

      Als die Ruinen der großen Städte der Industalkultur (auch Harappa-Kultur genannt) entdeckt wurden, führten sie zu einer kreativen Neuinterpretation der Geschichte. Die lange vorherrschende Annahme, dass die indoeuropäischen Eroberer (Ārya) die erste Hochkultur in Indien geschaffen hätten, musste aufgegeben werden. Im Industal und auch in bemerkenswerten Entfernungen von diesem wurde große Städte ausgegraben, von denen jede aus sonnengetrockneten oder gebrannten Ziegeln gebaut war und aus systematisch angelegten langen, geraden Straßen und Gebäuden bestand. Diese Städte schienen zu perfekt, um das Ergebnis einer lokalen Entwicklung zu sein. Sie waren nicht organisch gewachsen, sondern ausgesprochen planvoll angelegt. Folglich wurde ihr Ursprung anderswo