Der Natur bis ans Ende vertrauen!. Andrew Taylor Still

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Название Der Natur bis ans Ende vertrauen!
Автор произведения Andrew Taylor Still
Жанр Медицина
Серия
Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783941523371



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Zentren und das von unzähligen winzigen Gefäßen durchwebte und in Flüssigkeit getränkte Fasziensystem eine entscheidende Rolle. Den vom Läsionsbereich aus versorgten Körperregionen werden nicht mehr ausreichend Blut und Nervenwasser10 zugeführt bzw. die erforderliche Drainage durch das venöse und lymphatische System erfährt eine Beeinträchtigung. Zwangsläufig wird die betreffende Region dann aufgrund mangelnder Zufuhr von Nährstoffen und Informationen oder aufgrund ungenügender Drainage von Abfallstoffen anfällig für Krankheiten. Eine Korrektur der Fehlstellung, insbesondere an der Wirbelsäule, führt demnach zur Harmonisierung der Körperflüssigkeiten und damit zur Beseitigung von Krankheitserregern in der entsprechenden Körperregion. Die eigentliche Heilung geschieht also durch natürliche Vorgänge im Körper des Patienten und nicht durch Zufuhr unterstützender oder hemmender Substanzen. Das Verabreichen solcher Substanzen – seien sie nun allopathisch oder homöopathisch – zeigt, das war Stills feste Meinung, dass es dem Behandler an Vertrauen in die Vollkommenheit der Schöpfung mangelt. Da der Mensch in der Lage ist, sämtliche heilenden Substanzen selbst zu produzieren, muss man aus Stills Sicht Teile der ‚menschlichen Maschine‘ nur an ihren vorbestimmten Platz bringen und darauf vertrauen, dass die Natur in ihrer Vollkommenheit den Rest erledigt.

      Es sollte noch fast zwei Jahrzehnte dauern, bis Still mit seinem Konzept der Osteopathie nachhaltig Fuß fassen konnte. Kirksville, damals ein winziger Ort fernab der großen Städte, sollte nicht nur die Geburtsstätte der osteopathischen Philosophie, sondern auch der ersten osteopathischen Schule, der American School of Osteopathy11 (A.S.O), werden. 1892 begrüßte Still dort in einer kleinen, unscheinbaren Hütte seine ersten Studenten, darunter auch seine drei Söhne und seine Tochter.

      Die durch ihn und seine Studenten erzielten enormen Behandlungserfolge, die einen spektakulären Gegensatz zu den Misserfolgen der Allopathie darstellten, entfesselten eine geradezu explosionsartige Entwicklung der Osteopathie. Binnen weniger Jahre gab es Dutzende von Schulen und Tausende von Studenten. Still begann nun, sich auf eine Art Supervision zu beschränken, um den vorprogrammierten Missbrauch der Osteopathie durch Nachahmer und Betrüger nicht eskalieren zu lassen. Da er aber kein geborener Diplomat und gewohnt war, seine Meinung klar zu äußern, kam es zu zahlreichen – auch gerichtlichen – Auseinandersetzungen, nicht nur mit anderen Schulen und Behandlern, sondern auch innerhalb der A.S.O.

      Vergeblich bemühte er sich, die Osteopathie in ihrer ursprünglichen Version zu erhalten. Zu groß waren bei vielen seiner Studenten die monetären Verlockungen und die zu befriedigenden Eitelkeiten, zu stark der Wunsch nach schnellem Glück. Kräftezehrende Streitigkeiten mit äußeren Gegner wie der mächtigen American Medical Association und der zunehmend schwierigere interne Kampf um die Bewahrung der ‚reinen‘ Osteopathie vor allopathischen Erweiterungen bestimmten die Folgejahre.

      Nach dem Tod seiner Frau zog sich Still immer mehr zurück und widmete sich wieder verstärkt dem Studium der Natur und der Erweiterung des osteopathischen Konzeptes. 1914, im Alter von 85 Jahren, erlitt er einen ersten Schlaganfall, von dem er sich nie mehr völlig erholen sollte. 1917 erlag er einem zweiten Schlaganfall. Er wurde in Kirksville, der Geburtsstätte ‚seiner‘ osteopathischen Philosophie, begraben.

      OSTEOPATHIE – EINE HERAUSFORDERUNG!

      Wenn Sie dieses Buch unvoreingenommen lesen, wird es Ihnen vor allem eines zeigen: Im Sinne ihres Entdeckers praktizierte Osteopathie ist weit mehr als nur eine manuelle Behandlungsform. Obwohl immer wieder der Versuch unternommen wird, sie zu definieren, ist dies eigentlich nicht möglich. Neben rein quantitativ wissenschaftlichen Dimensionen repräsentiert und umfasst sie auch philosophische und spirituelle Elemente, die eher auf Gefühlsebene als im kognitiven Kontext ihre Entsprechung finden. Ähnlich wie die Quantenphysik oder neuerdings die String-Theorie birgt auch die Osteopathie wichtige Aspekte, die sich jedem rein verstandesmäßigen Zugriff scheinbar magisch entziehen. Aber eben dieses nicht-konkretisierbare, nicht-festlegbare Element schafft erst jenen Freiraum, in denen die Wahrnehmung de Individualität und Gesamtpersönlichkeit eines einzelnen Patienten möglich wird. Selbstverständlich birgt dieser Aspekt aber auch enorme Gefahren des Missbrauchs und der willkürlichen Interpretationen mit sich, die gerade in einer Zeit, wo eine oft zweifelhafte Esoterik zahlreiche Blüten treibt, besonders verlockend erscheinen.

      Osteopathie in Stills Sinn sollte nie nur als reine Medizinphilosophie oder ergänzende Methode betrachtet werden, sondern weit darüber hinaus als eigenständige, gelebte und praktizierte Weltanschauung. Dies erfordert aber seitens des Behandlers nicht nur eine hohe Bereitschaft zur Selbstkritik, sondern auch den Mut zu einer intimen und damit unausgesprochenen Spiritualität, eine zutiefst humanistische Grundüberzeugung und den Verzicht auf reißerische, den Personenkult fördernde Außendarstellungen. Wer den Pfad der Osteopathie beschreitet, darf nur ein einziges Ziel haben: die Genesung der Patienten. Jedes durch Eitelkeit, Neid, Ängste, innere Unausgeglichenheit usw. verursachte Abweichen be- oder verhindert das freie Gehen auf diesem Pfad.

      Ein zentrales Anliegen in der Osteopathie ist auch das Entstehenlassen und Erfahren einer in die Tiefe gehenden menschlichen Beziehung zwischen Patient und Behandler, die in unserer schnelllebigen Zeit wie die Quelle einer neuen Art von Medizin erscheint. Und genau hier sieht sich die moderne Osteopathie mit einem ihrer großen Probleme konfrontiert: Ihr Anspruch, eine anerkannte Wissenschaft im ganzheitlichen Sinn zu sein, widerspricht einer naturwissenschaftlich orientierten Welt, die ihren Fokus immer noch viel stärker auf quantitative als auf qualitative Aspekte richtet. Wenn die Mentalität ‚Auswertung vor Einsicht‘ bzw. ‚Standardisierung vor Individualisierung‘ weiterhin um sich greift und sich die osteopathische Wissenschaft nicht einer neuen wissenschaftlichen Sprache bedient, wie sie bereits in der psychosomatischen Medizin zu finden ist, wird die Osteopathie in Europa mittelfristig wohl ähnlich ‚entschärft‘ werden, wie dies im Gründungsland USA bereits seit mehreren Generationen der Fall ist: Sie wird zur symptomorientierten Fragmentmedizin mutieren, in der die Hand – das wichtigste medizinische Instrument des Menschen – so gut wie nicht mehr zum Einsatz kommt.

      Die vorhin erwähnte, tiefgehende Beziehung zwischen Patient und Behandler hat aber noch eine weitere bedeutende, für das menschliche Ego aber zumeist unbequeme Konsequenz: Sie verlangt die Überwindung eines gerade im deutschsprachigen Raum schon fast unbewusst gelebten Hierarchie-Denkens. Für den Behandler bedeutet, er muss sein therapeutische s Selbstverständnis als ‚Heiler‘ bzw. ‚Gesundmacher‘ überwinden und sich in allen Ebenen auf Augenhöhe mit dem Patienten – sei es nun ein Säugling oder ein Greis – begeben.

      Zusammenfassend kann man feststellen, dass Still denen, die klassische Osteopathie in seinem Sinne praktizieren wollen, enorm viel abverlangt:

      • Exzellente Kenntnisse in den medizinischen Grundfächern, vor allem in Anatomie und Physiologie.

      • Grundsätzlich vorhandene, durch langjährige Schulung trainierte und immer weiter zu vervollkommnende manuelle Fähigkeiten.

      • Grundmotivation Wissensdurst.

      • Hohe Bereitschaft zur Selbstkritik sowie zur Überwindung von hierarchischem Denken, Opportunismus, Konformismus, Eitelkeit, Anerkennungssucht und Statusdenken – die Selbstenthronung als ‚Heiler‘ und ‚Gesundmacher‘.

      • Akzeptieren des Spirituellen als eine vollkommene, dem Menschen übergeordnete, allpräsente Instanz, die nur bei bescheidener Zurücknahme der eigenen Person therapeutisch wirksam wird.

      Und allem voran:

      • Das bedingungslose Vertrauen in die Natur!

      STILLS SPRACHE

      Zweifelsfrei sind Stills Sprachgebrauch und Schreibstil äußerst gewöhnungsbedürftig. Berücksichtigt man aber neben den politischen und gesellschaftlichen Umständen, die zu seiner Zeit im sogenannten Wilden Westen Amerikas herrschten, auch seine außergewöhnliche Persönlichkeit, fällt es leichter, die eigentliche Bedeutung seiner Aussagen nicht im unmittelbaren Wortsinn, sondern zwischen den Zeilen zu suchen. Ein Beispiel:

      „Gottes Intelligenz ist unermesslich, und es gibt viele Hinweise darauf, dass Wissen zu dem Blutteilchen transportiert