Der Natur bis ans Ende vertrauen!. Andrew Taylor Still

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Название Der Natur bis ans Ende vertrauen!
Автор произведения Andrew Taylor Still
Жанр Медицина
Серия
Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783941523371



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Still in den 1850ern mit allem, was seinen Weg kreuzte. Und nur das, was sich als erfolgreich, praktikabel und wirksam erwies, verfolgte er weiter. Theorien, die der Praxis nicht standhielten, warf er – ohne Rücksicht auf deren Reputation – über Bord. Als kritischer Empiriker reinsten Wassers musste er zwangsläufig in Konflikt mit der damals etablierten ‚heroischen Medizin‘ geraten, die überwiegend aus Aderlässen, dem Verabreichen von hochgiftigen Brechmitteln bzw. Alkohol und später Morphium sowie aus unsterilen Inokulationen (Impfungen) und oftmals fragwürdigen chirurgischen Eingriffen bestand.

      Ihm Zuge seiner Begeisterung für Maschinen und deren Nutzen bei der anstrengenden Feld- und Hausarbeit begann Still, verschiedenste Geräte zu entwerfen – von der Schneebrille über den automatischen Heuaufsammler bis hin zum preisgekrönten Butterrührer. Auch hier zeigt sich wieder, dass er nicht nur ein genauer Analytiker, sondern auch ein patenter Praktiker war, der eine Theorie erst dann anerkannte, wenn sie sich in der Umsetzung eindeutig bewährt hatte.

      Inzwischen hatte er eine rudimentäre medizinische Ausbildung in Kansas City absolviert, die er aber aufgrund ihrer miserablen Qualität nie der Erwähnung wert fand. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sein Diplom abzuholen – auch ein Hinweis darauf, dass er Status und Titeln grundsätzlich keine Bedeutung beimaß. Auf die Frage eines Journalisten, wie er denn betitelt werden wolle, antwortete Still – damals schon ein betagter und berühmter Mann – trocken: „D.O., M.D., oder was immer Sie wollen.“ 5

      Neben seinem beruflichen Werdegang als eigensinniger Landarzt entwickelte sich auch sein Privatleben. In den 1850ern heiratete er Mary Margaret Vaughan, die aber, ausgezehrt von den rauen Lebensbedingungen im amerikanischen Grenzland, nach einer Fehlgeburt bereits sehr jung verstarb und Still mit drei Kindern zurückließ. Da er neben der Versorgung seiner Familie die Farm führen musste und als Landarzt praktizierte, heiratete Still bereits kurze Zeit nach dem Tod seiner ersten Frau Mary Elvira Turner (1834–1910), die ihm zur treuesten Gefährtin seines Lebens wurde. Auch am Entstehen der Osteopathie hat sie einen unschätzbaren Anteil, was ihrem Mann sehr wohl bewusst war:

      „Ich hätte diese frühen Tage der Angriffe und Enttäuschungen niemals ohne ihren standhaften Optimismus und ihre treue Ermutigung überlebt.“ 6

      Zeitlebens war Still ein glühender Verfechter der Freiheit des Menschen, unabhängig von Rasse, Religion oder Geschlecht. Sein aktives politisches Engagement und seine offene und provokante Art führten ihn schließlich unweigerlich ins Zentrum des amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865), wo er als Feldarzt bei den sogenannten ‚Yankees‘, den Gegnern der Sklaverei, weitere wertvolle medizinische Erfahrungen sammelte. Insbesondere das Auseinanderdriften der in den Universitäten verkündeten Allmacht der Medizin und deren klägliches Scheitern in der rauen Wirklichkeit des Krieges verstärkten noch seine Skepsis gegenüber der Allopathie.

      Nach seiner Rückkehr aus dem Bürgerkrieg im Frühjahr 1864 musste er zusammen mit seiner Frau hilflos mit ansehen, wie drei seiner kleinen Kinder während einer Meningitis-Epidemie innerhalb kürzester Zeit dahingerafft wurden. Dieser Schicksalsschlag war bestimmend für Stills weiteren Weg. Er brach nun nicht nur mit der Schulmedizin, sondern auch mit seiner Kirche und schwor sich, eine ‚bessere Medizin‘ (im Sinne einer Verbesserung der bestehenden Medizin) zu finden – eine, die sich im Alltag zum ausschließlichen Wohle der Patienten bewährt.

      Ausgerüstet lediglich mit einem geschulterten Sack, der gefüllt war mit einem vollständigen Satz menschlicher Knochen, das Herz schwer vom Verlust seiner Kinder und besessen vom Glauben an die Notwendigkeit einer neuen Medizin begab er sich auf eine jahrelange brotlose Wanderung. In diesen Wanderjahren kannte er keine Tabus. Phrenologie, Mesmerismus, Physiologie, Magnetismus, Physik, Anatomie, Knocheneinrenken, Astronomie, schamanistische Medizin, spiritistische Sitzungen: Alles wurde von ihm aufgesaugt und auf seine Tauglichkeit hin erprobt. Was sich bestätigte und dem Patienten nützte, behielt er. Alles andere wurde ausgesiebt. Bei dieser Suche halfen ihm sein ungebrochener Glaube an die Vollkommenheit der Schöpfung, seine enormen intuitiven Fähigkeiten, ein gesunder, praxisorientierter Menschenverstand, eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe und die ehrliche Auswertung seiner Erfahrungen.

      Trotz seiner nur rudimentären Schulbildung gelang es Still, immer tiefer in die Welt der bedeutenden Wissenschaften und Geistesströmungen seiner Zeit vorzudringen. Vor allem die Evolutionstheorie, die im 19. Jahrhundert das Weltbild revolutionierte, wirkte elektrisierend auf ihn. Plötzlich erwachte die Welt aus einer statischen Daseinsform und präsentierte sich als dynamisches und organisches Wesen, ständigem Wechsel und Veränderungen unterlegen und niemals in vollkommener Ruhe. Hier findet auch ein Grundprinzip der Osteopathie seinen Ursprung: Funktion und Struktur sind in untrennbarer Wechselwirkung miteinander verflochten. Einiges in Stills Biographie deutet darauf hin, dass Herbert Spencers (1820–1903) Hauptwerk Die ersten Prinzipien der Philosophie7 in diesem Zusammenhang als philosophischer Grundstein für die Wissenschaft der Osteopathie diente.

      Ungeachtet der wachsenden Widerstände – Freunde und Kirche hielten ihn für besessen und verloren, Ärzte griffen ihn scharf als Quacksalber an – blieb Still, unterstützt nur noch von seiner Frau und seinen Kindern, auf seinem Weg. Schließlich aber wurde er, dieser nicht von Geldgier oder Prestigesucht, sondern von höherer Motivation geleitete, seltsame Wanderer, vom Schicksal belohnt:

      Als er 1874 mit einem befreundeten Arzt durch die Straßen von Kirksville spazierte, einem kleinen Ort in Missouri, wo man ihm freundlicher gesonnen war, ging direkt vor ihm eine ärmlich gekleidete Frau mit ihrem Kind, das lediglich ein langes Leinenhemd trug und eine feine Blutspur hinterließ. Still, der eine infektiöse Darmerkrankung vermutete und, wie es seiner entschlossenen Art entsprach, das Kind mit Einwilligung der verblüfften Mutter unverzüglich untersuchte, stellte fest, dass sich dessen Bauch ganz kalt, sein Rücken hingegen sehr heiß anfühlte – woraus er auf einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Bereichen schloss. Er behandelte den Rücken des Kindes mit einigen manuellen Griffen und erzielte damit, wie sich bereits am darauffolgenden Tag bei einem Besuch zeigte, eine wesentliche Besserung im Gesundheitszustand des kleinen Patienten.8

      Das Grundprinzip der Osteopathie war geboren: Über die Knochen (gr. osteon) kam es zu einer Beeinflussung der inneren Leiden (gr. pathos). Osteopathie, der Name, den Still dieser neuen Art von Medizin erst 1892 gab, ist also ein sehr bewusst gewählter Begriff.

      Da die moderne Osteopathie inzwischen ihren Einflussbereich über den Ansatz an den Knochen hinaus erheblich erweitert hat, kann man heute sagen: Die Beeinflussung eines Systems bewirkt eine Änderung in einem anderen System innerhalb des menschlichen Organismus.

      In den Folgejahren entwickelte Still das so geborene medizinphilosophische Konzept weiter. Obwohl auch spirituelle Aspekte mit einflossen, hielt er sich damit in der Außendarstellung bemerkenswert zurück. Wohl auch aus der Überzeugung, dass Spiritualität ein intimer und ganz persönlicher Bestandteil des Menschen ist, den es nicht zur Schau zu tragen gilt und der niemals durch Worte vermittelt, sondern lediglich beispielhaft vorgelebt werden kann. Zudem wurden nach seinem Tod offensichtlich sämtliche Niederschriften und Notizen, in denen es um spirituelle Themen ging, von Stills Hinterbliebenen aussortiert, unter Verschluss gehalten und schließlich nach einem gemeinsam Beschluss in den 1960ern vernichtet.

      So viel ist aber eindeutig: Für Still gab es einen triune man9, bestehend aus mind, matter und motion. Ein irdischer und der himmlische Körper vereinigen sich und dabei entsteht das Leben als dritte Kraft, welche sich durch Bewegung ausdrückt. Die Idee zu dieser ‚Erfindung‘ Mensch entspringt dabei einer göttlichen Instanz – einer Instanz jedoch, jenseits aller Religionen und deren Institutionen. Stills Tempel war die Natur und Gott spiegelte sich dort in der Vollkommenheit seiner Geschöpfe. Diese deistische Überzeugung in Bezug auf die ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen, bildete einen weiteren Kristallisationspunkt bei der Entstehung der Osteopathie. Sie begründet das Vertrauen der Osteopathen in ihre Patienten und ist auch der Grund, warum Osteopathen sich nicht als Heiler, sondern vielmehr als Begleiter betrachten, die sozusagen als Feinmechaniker für optimale Rahmenbedingungen im Körper verantwortlich sind.

      Stills Anschauung zufolge führen Fehlstellungen im Skelettsystem – von ihm