Mutterboden. Lotte Bromberg

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Название Mutterboden
Автор произведения Lotte Bromberg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783945611081



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Tag nach der Schule fuhr Tilla in die Psychiatrie und hoffte auf Besserung. Nach einem Jahr, in dem sich am Zustand der Gräfin nichts geändert hatte, ging Tilla zu einem Anwalt und fragte, wie sie ihren vermißten Vater für tot erklären könnte. Sie bekam Halbwaisenrente, machte Abitur und begann ein Biologiestudium. Im Sommer nach dem Vordiplom sah sie ihrer Mutter zum letzten Mal dabei zu, wie sie im Aufenthaltsraum sinnlose Gedichtzeilen auf Papierfetzen kritzelte. Am folgenden Morgen zwängte sich Gräfin von Bredow aus einer Dachluke und sprang der aufgehenden Sonne entgegen in den Tod.

      Mathilde Albertine Jolante von Bredow, genannt Tilla, verlor ihre Eltern, ihre Geschwister und ihre Heimat, als sie vierzehn war. Und sie schwor sich, zu überleben.

      Jakob sah dem Professor zu, wie er versuchte, sich mit dem Programm seines PCs auf eine Sprache zu einigen. Seine Stirn war konzentriert gefaltet, der Mund stand leicht offen.

      Tillas früherer Kollege Professor Dr. Schmerkert war in Weiß gekleidet, als wäre er einer von Hannas Krankenhauskollegen. Ein Labormensch, sogar mit weißen Schuhen. Ohne Laborratten allerdings. Kein Getier weit und breit, keine Pflanzen. Jakob erinnerte sich an das gemütliche Bürostübchen des Biologen Werner im Botanischen Museum. Seine Sorgenpüppchen und die Webdecke aus Guatemala auf seinem Stuhl. Bei Professor Schmerkert würde Jakob nie auf die Idee kommen, seine Schuhe abzustreifen. Wie hatte die wilde ostpreußische Tilla hierher gepaßt? Weißer Kunststoff überall, sirrende Festplattenventilatoren, aseptisches Licht aus Neonröhren und Kabelgebirge unter den Tischen.

      »Ich habʼs gleich«, sagte Schmerkert. Seine Nase krauste sich, er kniff die Augen zusammen. »Die Testreihe will nicht so wie wir.« Er hackte mit den Fingern auf der Tastatur herum. Jakob betrachtete sein ergrauendes Haar. Der Mauerfall und Tillas Verschwinden waren über zwanzig Jahre her.

      Der Professor seufzte. »Das wird heute nichts mehr.« Er wies auf den PC. »Sie wollten etwas über Tilla wissen? Das ist keine Umgebung für sie, lassen Sie uns aufʼs Dach gehen.«

      Sie stiegen eine Wendeltreppe hoch auf das Institutsdach. Schotter knirschte unter ihren Schuhen. Es gab eine Bank, dahinter versuchten einige Gräser und Pflanzen am extremen Standort zu überleben. Man sah immerhin den Himmel. »Hat Tilla hier gearbeitet?«, fragte Jakob.

      »Schon, aber das sah damals alles ganz anders aus. Die Westberliner FU war eine verschnarchte linke Einrichtung. Wir Biologen haben der Dritten Welt unter die Arme gegriffen und alles zu retten versucht.«

      Werner, dachte Jakob. »Und dann fiel die Mauer«, sagte er.

      »Die Veränderungen begannen schon vorher durch die aufkommende Gentechnik. Die unsere Gräfin übrigens ablehnte. Sie hatte so eine romantische Ader in der Biologie.«

      »Das heißt?«

      »Sie hat gern ganz altmodisch Dinge gekreuzt.« Er lachte. »Nicht nur im Beruf. Haben Sie Ihre Töchter gesehen?«

      »Ich kenne nur eine.«

      »War damals Institutsgespräch, wenn Sie auf Empfängen mit ihrer Schar auftauchte. Regenbogenfamilie würde man heute sagen. Aber alles ihre.«

      »Und bei der Arbeit?«

      »Hat sie gemendelt. Träumte von irgendwelchen Urrassen, die man nur ausbuddeln müßte. Etwas arg rückwärtsgewandt. Der Flachs war so ein Ding. Hatte wohl mit Ostpreußen zu tun. War ihre Traumpflanze, unerschöpfliche Anwendungsmöglichkeiten. Haben später die Ökos aufgegriffen, vor dem Hanf. Diese knitternden Leinenhemden, das ist Flachs. Aber das war nach Tillas Verschwinden. Hat sie nicht mehr miterlebt.«

      »Schade.«

      »Ja, zumal sie darüber geforscht hat, wie man Flachs produktiv anbauen kann. Ist ziemlich empfindlich, das Zeug.«

      »Erinnern Sie sich an ihre damaligen Projekte?«

      »Oh ja, sie hat sich für eine Samenbank in der DDR interessiert.« Er lachte. »Jetzt gucken Sie nicht so gekringelt, ich rede von Pflanzensamen. Die DDR hat in ihrer Abschottung einiges probiert. Zusammen mit den Bruderstaaten. Bau auf, bau auf, Sie wissen schon. Die Arbeiterklasse will was zum Futtern haben.«

      »Hat sie nach Mauerfall dort Kontakte geknüpft?«

      »Sie kannten Tilla nicht. Sie war sehr schnell und sehr überzeugend. Sie ist einfach hingefahren in die DDR, gleich nachdem sie von der Samenbank gehört hatte. Sachsen-Anhalt. Das Institut gibt es noch. Vielleicht hat die Stasi sie abgegriffen.«

      »Warum das denn?«

      »Na ja, die DDR war noch zu, als sie zum ersten Mal hin ist. Und natürlich ist sie nicht mit leeren Händen zum Westberliner Klassenfeind zurückgekehrt. Sie wissen ja, sie hatte einen Hang zu fremdem Samen.«

      »Sie hat die DDR beklaut?«

      »Diebstahl von Staatseigentum, wenn auch zu wissenschaftlichen, also hehren Zwecken. Aber fragen Sie mich nicht, was genau sie da geklaut hat. Ich interessiere mich nicht so für Botanik. Außerdem schrieb ich gerade meine Doktorarbeit.«

      »Wohl nicht bei Tilla?«

      Er schüttelte den Kopf. »Mein Fach ist die Gentechnik. Das war zwar damals ein sehr übersichtliches Feld, erforderte aber hohe Konzentration. Vom Mauerfall habe ich nicht viel mitbekommen.«

      »Können Sie mir die neue Adresse der Samenbank geben?«

      »Das ist die alte. Nur mit einem Haufen Westgeld aufgebrezelt. Sollte mich nicht wundern, Sie finden dort noch ein paar der alten Leute. Ist eine Gegend, in der sich nicht viel ändert. Nördliches Harzvorland. War ein ziemlicher Skandal damals in der DDR. Da rollten wohl auch Köpfe, weil einige der Gräfin zu treuherzig alle Türen geöffnet haben.«

      »Waren vielleicht froh, daß sich jemand aus dem Westen für ihre Forschung interessiert.«

      »Und Tilla war wirklich sehr gewinnend. Erst recht, wenn sie etwas wollte.«

      »Und was hat sie erforscht mit den geklauten Samen?«

      »Gar nichts, dafür hatte sie ihre Doktoranden. Alles Ökos. Ein Projekt zur Rückzüchtung alter Pflanzenarten. Ach ja, und da gab es eine Verbindung nach Niedersachsen. Tilla war öfter dort in der zweiten Hälfte der Achtziger. Auf einem Bauernhof. Bio, glaube ich, irgendwas mit Sternen oder Sonne kam im Namen vor. Das waren echte Seelenverwandte. Mehlige Äpfel, winzige Pflaumen, mehltauanfälliges Getreide, so was. Schrecklich.«

      »Sie sind wirklich kein Botaniker.«

      »Da lobe ich mir meine Gensequenzen. Sauber, kalkulierbar und kein Ungeziefer weit und breit.«

      »Die Adresse in Niedersachsen …«

      »Finde ich auch noch. Aber ob es die noch gibt, weiß ich nicht. Die in Sachsen-Anhalt sind mit der Zeit gegangen, aber die Ökos? Obwohl ich wegen Tillas Verschwinden eher auf die Stasi tippe. Sie ist vorsichtshalber nach dem Skandal nicht mehr über die Transitstrecke nach Westdeutschland gefahren, sondern nach Hannover geflogen. Aber man hört ja oft, die hätten die Leute entführt. Oder nach Mauerfall wollte sich irgendwer von denen rächen, die ihretwegen in Sachsen-Anhalt ihren Job verloren haben an der Samenfront. Wer weiß, das Harzvorland ist eine sehr spezielle Gegend.«

      Jakob patschte mit nassen Füßen von der Dusche direkt zur Wohnungstür, drückte auf den Haustürsummer und öffnete sie. Bis sein Besuch oben war, hatte er genug Zeit, das Duschwasser abzurubbeln. Nicht genug Zeit sich anzuziehen.

      »Du hast ja immer noch so einen Adoniskörper.« Oskar drückte Jakob an seine Brust, es quatschte auf seinem Hemd. »Verdammt, Du bist ja naß.« Oskar hielt seinen Freund eine Armlänge entfernt fest. »Aber der Keller hat Dir bisher noch nicht sichtbar geschadet.«

      Jakob grinste schief.

      »Und halt das Handtuch um Deine Hüften schön fest.«

      Jakob lachte. »Komm endlich rein, Du Schwätzer. Was macht die überirdische Kripoarbeit?«

      Oskar streifte die Schuhe ab und ging ins Wohnzimmer. »Dreht sich im Kreis, weil der beste Kripokommissar Berlins seine Tage in Gesellschaft von Schimmelsporen und Kellerasselpipi