Reiten wir!. Tommy Krappweis

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Название Reiten wir!
Автор произведения Tommy Krappweis
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944180885



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tot oder verrückt, auch wenn es dir so erscheinen mag.«

      Das war jetzt das dritte Mal, dass ich diese Stimme gehört hatte. Und irgendwo tief in mir drin entschloss ich mich dazu, dass ich nicht verrückt und schon gar nicht tot war. Es musste eine Erklärung geben, die vernünftig war und alle Fakten einschloss. Aber um eine Erklärung zu erhalten, musste ich mich umschauen können. Jetzt gab es um mich herum Licht, wenn auch nur den Schein einer Kerze in einer Laterne. Außerdem befand sich jemand in meiner Nähe, der sich mit mir unterhielt. Ob ich im Moment alleine in der Lage wäre, mich irgendwohin zu bewegen, oder ob meine zerschlagenen Beine und aufgeschürften Knie nicht sowieso der Hilfe bedürften, wollte ich nicht diskutieren. Als Allererstes brauchte ich Klarheit. Um den letzten Zweifel in den hintersten Winkeln meines Bewusstseins auszuschließen, dass ich vielleicht doch wahnsinnig geworden war, musste ich diesen kleinen Finger ergreifen, den die Realität mir entgegenstreckte, und mich an ihm entlang in die Wirklichkeit begeben.

      Ich drückte mich wieder auf meinen rechten Unterarm auf. Doch dieses Mal tat ich es, um in eine sitzende Stellung zu gelangen. Das Wirbeln in meinem Schädel war wieder da, doch nicht so stark wie beim ersten Mal. Also gab es doch so etwas wie eine Heilung und damit eine Hoffnung für mich.

      Endlich saß ich leidlich stabil aufrecht. Dann war es an einem neuen Versuch, meine Augen zu öffnen. Wieder dauerte es eine Weile, bis sich die Ränder der Gegenstände zusammenzogen und netterweise die Farben annahmen, die ich ihnen auch zuzuordnen bereit war. Es war komisch, in eine Flamme zu schauen, die erst grün, dann blau war. Oder eine Laterne zu betrachten, die anfangs wie ein Regenbogen schillerte, um dann doch zu einer Oberfläche mit einem polierten Metallton zu werden, der sich nach einigen Veränderungen auch darauf einzupendeln schien, ein Metallton zu bleiben.

      Vorsichtig drehte ich den Kopf nach links und rechts. Ich räusperte mich. »Hallö?«

      Ein Räuspern antwortete mir. Hinter der Laterne bewegte sich etwas. Gebannt hielt ich den Blick darauf gerichtet, obwohl ich nicht wusste, ob ich vor dem, was ich gleich erblicken würde, Angst haben müsste. Ein großer Mann trat in den Lichtkreis der Laterne. Er trug Stulpenstiefel bis unter die Knie. Die Stulpen sahen abgenutzt aus, so als sei der Mann einen sehr langen Weg mit ihnen gegangen. Darüber trug er eine dunkle Hose und ein helles Hemd mit einer eigenartigen, farbigen Bordüre als Abschluss am Hals. Diese Mode war mir unbekannt, aber es stand ihm ausnehmend. Um den Leib trug er einen breiten Gürtel mit einer Schließe, die so aussah, als würde sie eine Schlange darstellen, die sich selbst in den Schwanz biss. Das Material konnte ich nicht erkennen – Stahl, Silber gar? Mein Blick wanderte höher. Das Gesicht war das eines mittelalten Mannes. Die Haare waren von grauen Strähnen durchzogen und bildeten nun das, was meine Mutter früher »Pfeffer und Salz« genannt hatte, wenn sie Männer beschreiben musste, welche noch Haare hatten, aber diese dann in jener beschriebenen Farbkombination des heranschreitenden Alters. Der Schnitt der Frisur war herkömmlich. Die Haare fielen gerade noch über die Ohren. Die Nase des Mannes war gerade, fast schon klassisch. Sie bestimmte das Gesicht, gab ihm einen aristokratischen Anstrich. Ich ließ meinen Blick weiter wandern und war erschrocken von der Intensität des Blicks aus diesen Augen. Die Farbe war schwer zu beschreiben; wenn ich nicht sicher gewusst hätte, dass es keine Menschen mit grauen Augen gibt, so hätte ich jetzt zu zweifeln begonnen, denn die Augen dieses Mannes waren im Licht der Laterne eindeutig grau. Ich schob es auf das ungünstige Licht, damit ich nicht länger darüber nachgrübeln musste.

      Immerhin konnte ich mir jetzt beruhigend einreden, dass ich entweder nicht verrückt war oder in einer Verrücktheit gefangen war, deren Detailreichtum sicher mit der echten Welt konkurrieren konnte. Wobei mir dann nicht klar war, aus welchen tiefen Pfuhlen der Erinnerung oder Imagination dieser Mann aufgestiegen sein sollte. Ich schaute erneut in das Gesicht. Ein Lächeln schien die Lippen zu umspielen.

      »Guden Dag!«, versuchte ich es mit Höflichkeit.

      Der Mann senkte den Kopf im Ansatz eines höflichen Nickens. Dann schien er sich zu besinnen. »Euch auch einen guten Tag, werter Herr.«

      Als »werter Herr« war ich noch nie betitelt worden. Mein Meister im Forst nannte mich selten seinen Gehilfen, wie es eigentlich mein Titel war; selbst vor anderen Menschen stellte er mich als Handlanger oder als nützliche, weitere Hände vor. Zu einem vollen Namen hatte ich es im Forst noch nicht gebracht. Gerufen wurde ich mit einer Kurzform meines Familiennamens, fast schon eine Beleidung, wenn man darüber nachdachte. Nur meine engsten Freunde benutzten die intime Form eines meiner Vornamen und riefen mich einfach Ede. Das war auf jeden Fall weniger entwürdigend als die wenigen Unterhaltungen im Wald – wobei man, um im Wald zu arbeiten, sicher nicht wortgewandt werden muss. Die meisten Bäume beginnen keine Unterhaltung.

      »Wöh bin isch?«, wandte ich mich an den Fremden.

      »Formal befindet ihr euch auf dem Boden eines Schachtes, durch den ihr gefallen seid, als ihr ein wenig zu hektisch zur Helle vordringen wolltet. Das nasse Herbstlaub, eine kurze Unaufmerksamkeit, das trügerische Spätabendlicht. All diese Faktoren haben eine Rolle gespielt, um diesen Unfall zu provozieren.«

      »Sic transit gloria mundi. Die Wahrheit der Wält sprischt durch oiren Mund.«

      Der Fremde lachte leise.

      Ich errötete, denn offensichtlich hatte ich das lateinische Zitat laut ausgesprochen, anstatt es nur bei mir zu denken. »Gefälld eusch mein Laddein nisch?«

      »Doch, doch«, antwortete der Fremde, wobei er sich danach länger räuspern musste und verstohlen versuchte, ein paar Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen.

      Ich schaute mich um. Wenn das hier der Boden eines Schachtes war, dann gab es im Untergrund der Moritzburg Räumlichkeiten, die eher einer römischen Kasematte denn einem banalen Schacht glichen.

      Der Fremde schien meine neugierigen Blicke richtig einzuordnen. »Wie gesagt, ihr befindet euch formal auf dem Boden eines Schachtes. Spirituell oder einfach metaphorisch würde ich sagen, dass ihr euch am Beginn eines Scheideweges befindet. Ich weiß, dass dies hier nicht danach aussieht. Aber das ist der Ort, wo ihr euch wirklich befindet. Ihr habt die seltene Gelegenheit, kurz innezuhalten und darüber nachzugrübeln, was die Zukunft bringen könnte – und bringen kann.«

      »Wie meind öhr das?«

      Der Fremde setzte sich vor die Laterne auf den Boden, sodass sein Gesicht auf derselben Höhe war wie mein Gesicht. »Lasst es mich einmal so sagen. Manche Menschen haben eine Fee, eine gute Frau, eine Holde, die ihnen bei der Geburt etwas mitgibt für ihr Leben. Und wenn diese Holde es gut mit einem meint, dann erhält man ein Geschenk, eine Gabe, oft verbunden mit einem Namen, den man trägt. Bei eurer Geburt … ist etwas schief gelaufen. Ihr hattet drei gute Frauen, die an eurer Wiege standen.«

      »Wie bidde?«

      Der Fremde überlegte einen Moment. »Nun, nehmt es einfach als Märchen, als eine Mär aus einer vergangenen Zeit. Als eine gute Geschichte, die ich euch erzähle, bis ihr euch gut genug fühlt, um mit mir gemeinsam aus diesem Graben zu klettern. Bis dahin … nehmt meine Geschichte für das, was sie ist: Eine Geschichte.«

      Ich musste kurz nachgrübeln. Wenn ich das meinem Vetter erzählen würde … Aber dazu musste ich wirklich erst aus diesem eigenartigen Ort hinausgelangen. Und das war – da hatte der Fremde recht – im Moment nicht zu erwarten, wenn ich in meine Glieder hineinfühlte. Mithilfe meiner beiden Hände setzte ich mich ein wenig bequemer auf und ruckelte ein wenig zur Seite, sodass ichmeinen Rücken an die Höhlenwand lehnen konnte. »Gud, isch wäre dann soweid.«

      »Also«, begann der Fremde, »durch einen Wink des Schicksals oder eine Gunst der Nornen habt ihr drei Frauen gehabt, die bei eurer Geburt unsichtbar und unhörbar an eurer Wiege Wünsche und Hoffnungen an euer Leben banden. Jeder eurer Vornamen ist mit einer jener Frauen verbunden. Und jede hat andere Dinge für euch vorhergesagt. Diese drei Wege, die eure Zukunft gehen könnte, gabeln sich heute hier an dieser Stelle. Daher müsst ihr eine Entscheidung treffen, welchem Weg ihr folgen wollt. Und ich bin der Führer, der euch die Wege zeigen kann. Aber ich darf euch nicht bei der Entscheidung helfen oder eine vor den anderen der drei Frauen bevorzugen. Sonst ziehe ich ein Schicksal auf mich, das schrecklicher ist als jenes in den Sagen des Altertums.«

      Ich