Letzte Schicht. Dominique Manotti

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Название Letzte Schicht
Автор произведения Dominique Manotti
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783867549721



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Angestellte, Franzosen, die so gut wie keiner kennt. Arbeiten wahrscheinlich in der Finanzabteilung. Dann kommt ein Peugeot 605 mit einem Koreaner am Steuer. Viele in der Fabrik mögen die Koreaner nicht. Ist halt so, muss man nicht verstehen. Und der hier hat noch dazu den miesen Ruf, die Putzfrauen aus der Fabrik unbezahlt in seinem Apartment arbeiten zu lassen. Irgendwer schreit: »Das Auto durchsuchen!« Und schon kann das Spiel weitergehen. Der Vorschlag wird sofort angenommen und in die Tat umgesetzt. Während eine Gruppe Arbeiter der Limousine den Weg versperrt, geht Nourredine zur Wagentür und wirft einen Blick auf die Rückbank. Leer.

      »Öffnen Sie bitte den Kofferraum, Monsieur.«

      Der Koreaner, ein verschrecktes Gesicht hinter einer dünnen Stahlbrille, fährt schnell die Scheiben hoch, verriegelt die Türen und signalisiert, er verstünde nicht. Seine Haut färbt sich grün, er zwinkert heftig, öffnet und schließt den Mund im Takt seiner tonlosen, abgehackten Atemzüge. Ein Fisch im Aquarium, lächerlich.

      Was ist dann geschehen? War es Panik? Der feste Wille, sich den Weg notfalls mit Gewalt zu bahnen? Das Auto macht einen Satz nach vorn und bringt drei Arbeiter zu Fall, die Menge schreit auf, etwa zwanzig Männer greifen nach der Karosserie und rütteln an dem Wagen, der auf und ab federt, beinahe abhebt. Einer der umgefahrenen Arbeiter steht wieder auf und übernimmt vor der Motorhaube das Kommando. Linke Seite hoch, rechte Seite hoch, immer im Wechsel, und eins, und zwei, das Auto schwankt, und drei, ein letzter Stoß kippt es auf die linke Seite, wo es mit dem Geräusch von knirschendem Blech aufschlägt. Der Koreaner ist platt an die linke Wagentür gepresst, verbirgt sein Gesicht hinter den Händen und rührt sich nicht mehr.

      »Was hat der denn dabei, dass er so viel Angst hat? Drogen? Waffen?«

      Der Kofferraum ist verschlossen und lässt sich nicht öffnen. Den Schlüssel aus dem Wageninneren holen? Nourredine ist dagegen, zu kompliziert, außerdem besteht die Gefahr, dass es zu einer Schlägerei kommt.

      Karim tritt mit einem selbstgefälligen Lächeln neben ihn und knufft ihn in die Rippen. »Was zahlst du mir, wenn ich ihn für dich öffne?« Wütendes Schnauben. »Ist ja gut, war ’n Scherz. Aber das Recht dazu haben wir, oder? Das ist heute unsere Party.«

      Aus der Innentasche seiner Lederjacke holt er einen sehr feinen Schraubenzieher, steckt ihn ins Schloss, dreht ihn behutsam zwischen den Fingern, horcht, ob sich etwas tut, findet die Raste, Drehen, Drücken, der Kofferraum öffnet sich quietschend, und darin, einfach hineingeworfen, ein Computer und drei Kisten voller Akten. Die schaffen Unterlagen weg. Die Menge verstummt. Jetzt ist das Spiel vorbei.

      Nourredine fühlt sich wie im Rausch, er, der noch nie einen Tropfen Alkohol getrunken hat. Die Gestalten um ihn herum schwanken. Ein Schritt, und du kippst um. Seit heute Morgen nichts gegessen. Ständig unter Strom, und dann wieder diese Abstürze. Ihm ist zum Kotzen. Quignard, sein offener, direkter Händedruck, Ihr Direktor, kein schlechter Kerl, riesiges Missverständnis … Meine Fresse, klar. Und du blöder Hund musst auf diesen Kitsch natürlich jedes Mal reinfallen. Er schüttelt sich kräftig, das Unwohlsein vergeht, die Wut bleibt. Jemand macht für ihn die Räuberleiter, er klettert auf die Flanke des Wagens. All die Gesichter, die sich ihm zuwenden, ihm, Nourredine, dem angelernten Araber, und unter seinen Füßen, in seiner Kiste verkrochen, der koreanische Manager. Stolz wallt in ihm auf. Der Wagen schwankt. Breites Grinsen.

      »Der da unten soll sich lieber ruhig verhalten. Okay, die Sache ist ganz einfach. Die Koreaner schaffen heimlich Unterlagen hier raus, um die Fabrik hinter unserem Rücken leichter schließen zu können. Lassen wir das zu?«

      Hundertfünfzig Leute schreien: »Nein!«

      »Ich schlage vor, wir besetzen die Büros und setzen die Führungskräfte fest …«, die Arbeiter halten den Atem an, »… bis unsere Forderung erfüllt ist: Zahlung der Prämien. Es gibt nämlich eine Lösung. Die Lager sind voll. Sie verkaufen die Lagerbestände unter unserer Aufsicht, und von dem Geld zahlen sie zuerst unsere Prämien.«

      Lebhafte Diskussionen in der kleinen Schar. Die Lagerbestände verkaufen, gute Idee, mal was Konkretes, da ist noch mehr drin als bloß unsere Prämien. Vielleicht, aber gleich festsetzen … Wir müssen uns absichern … Sie lassen uns keine Wahl. Eine Provokation nach der anderen. Man könnte meinen, sie legen es darauf an … Das ist ja das Beunruhigende.

      »Hört zu, Leute, wir müssen jetzt schnell sein, und effektiv. Wir gehen alle zusammen hin, wir sperren sie ein, über Nacht wird reichen, morgen früh sind sie fertig mit den Nerven. Ihr seht ja den Koreaner in seiner Karre hier.« Leichter Tritt mit dem Absatz gegen das Wagendach, ein blecherner Klang ertönt. Jeder sieht noch einmal das angsterfüllte Gesicht, das schaukelnde Auto, gemeinsam sind wir stark. »Sie haben Angst vor uns. Das nutzen wir. Wenn wir uns heute nicht Respekt verschaffen, machen sie die Fabrik morgen dicht, und uns bleibt gar nichts. Wir setzen sie fest, jetzt gleich. Wer ist dafür?«

      Sehr kurzes Zögern. Étienne und die erste Schicht aus der Verpackung heben die Hand. Alle heben die Hand. Aïsha kann es kaum glauben, aber auch sie stimmt für Festsetzen. Während vier Männer den Computer und die Aktenkisten aus dem Kofferraum holen (nichts, was der Firma gehört, darf die Firma ohne unsere Zustimmung verlassen), findet sich die Abordnung erneut zusammen und tritt an die Spitze des sich formierenden Zuges. Relativ geordnet setzt sich der kleine Trupp in Bewegung. Das auf der Seite liegende Auto wird mit offenem Kofferraum einfach vor dem Tor liegen gelassen, der Koreaner hat sich immer noch nicht gerührt.

      Kreidebleich umklammert Park sein Telefon. »Sie kommen, sie besetzen die Büros … Das gibt eine Katastrophe.«

      »Was haben Sie denn jetzt wieder für einen Mist gebaut? Und was für eine Katastrophe, erklären Sie mir das.«

      »Als ich hier anfing, habe ich ein System mit fingierten Rechnungen erstellt, um den koreanischen Führungskräften eine Auslandszulage zahlen zu können …«

      Ein Brüllen am anderen Ende. Quignard springt auf, wirft seinen Stuhl um, lässt seine Faust auf die Schreibtischplatte krachen, die Cognacgläser hüpfen, eine Vase mit Chrysanthemen kippt um, setzt die wartenden Akten unter Wasser. Maréchal nimmt die Gläser, bringt sie in Sicherheit, stellt die Vase wieder hin.

      »Löschen Sie alles, verdammte Scheiße, worauf warten Sie denn noch?«

      Ihm sagen, dass man versucht hat, den Computer rauszuschaffen, und dass er jetzt in den Händen der Streikenden ist? Lieber krepieren. »Der Buchhalter, der sich darum kümmert, ist heute nicht da, und sonst weiß keiner, wo das abgelegt ist, wir können ja nicht die gesamte Buchhaltung löschen …«

      Park fiept wie ein verängstigtes Kaninchen, die Verbindung ist unterbrochen.

      Der Weg zum Gebäude der Geschäftsleitung, einem Spiegelglaskubus mit einer zweistufigen Freitreppe vor dem Haupteingang, eine Art bessere Lagerhalle, nicht sehr eindrucksvoll, ist kurz, ein paar Dutzend Meter vielleicht, aber doch lang genug, damit jeder noch einmal darüber nachdenken kann, was er da eigentlich tut.

      Freiheitsberaubung. Wir werden hineingehen, wo wir nicht hineingehören, ihr Terrain besetzen, unsere Chefs höchstpersönlich einsperren, ihnen auf die Pelle rücken, sie mit uns einschließen, von Gleich zu Gleich mit ihnen reden. Wenigstens eine Zeitlang. Wir rühren an die soziale Ordnung. Wenigstens eine Zeitlang. Es zählt also jeder Schritt, wir werden uns später an jeden Schritt erinnern. Und wir halten zusammen, dicht zusammengedrängt, schweigend.

      Die Frauen folgen am Ende des Zuges, hängen ein wenig zurück, zu viele Männer in zu dichten Reihen, sie sind besorgt, zögerlich. Einige machen sich unauffällig davon, durch die Fabrik und über das Brachland.

      Amrouche lässt sich widerstrebend mitziehen. Jetzt stecken wir mittendrin, die Explosion, die Wut, seit Jahren verfolgt mich das, die anderen sind so viel stärker, sie haben immer gewonnen, sie werden immer gewinnen. Schafe zur Schlachtbank. Er schließt zu Hafed auf. »Wir müssen das Ganze stoppen, das gibt eine Katastrophe.«

      »Ich begreife nicht, warum diese Managerärsche nicht alle längst nach Hause gefahren sind. Worauf spekulieren sie? Wir können jedenfalls nichts ändern.«

      Getragen von seinen Leuten geht Nourredine bis zur automatischen Schiebetür: