Название | Der arme Trillionär |
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Автор произведения | Georg Ransmayr |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990404263 |
Das kommt Schober zugute, als sich 1919 die Stimmung in der Polizei politisch aufheizt. Die im November 1918 ausgerufene Republik „Deutsch-Österreich“ durchlebt eine revolutionäre Nachkriegskrise, in der viele Berufsgruppen sozialpolitische Reformen verlangen. Im Sicherheitsapparat kommt die Meinung auf, dass Beamte nicht länger unpolitische Ordnungshüter sein sollen, sondern durchaus das Recht hätten, sich parteipolitisch zu betätigen. Frei nach der Devise, dass mit dem unsäglichen Kadavergehorsam gegenüber sakrosankten Autoritäten Schluss sein muss. Und zwar auch in der Exekutive.
Einer, der quasi „basisdemokratische“ Mitsprache im Sicherheitsapparat verlangt, ist der Polizist und spätere Politiker Hans Schabes. Der damalige Revierinspektor will die Kollegenschaft sozialdemokratisch organisieren und den Polizeibetrieb umkrempeln. Schabes und Genossen wollen auch mitreden, wenn es um Postenbesetzungen geht. Sie verlangen, dass missliebige Vorgesetzte durch ein Misstrauensvotum in einschlägigen Dienstversammlungen abgesetzt werden können. Für Schober ist der Gedanke unerträglich, dass die Schlagkraft der Polizei gelähmt und er als quasi „apolitischer“ Präsident von „politisierten“ Polizisten zu einer Marionette degradiert werden könnte. Aus dem Konflikt wird ein Fall für Sigmund Bosel, der sich damals und auch später als Vermittler zwischen Schober und Schabes einklinkt. Franz Brandl, der Schober-Vertrauensmann im Polizeipräsidium, hat Bosels Mission später etwas kryptisch wie folgt beschrieben: „In privaten Unterhaltungen hat er Schabes und etlichen seiner Gefolgsleute die Giftzähne gezogen.“45
Obwohl ihm die Polizeigranden dankbar die Stange halten, wird es für Sigmund Bosel Anfang 1919 ungemütlich. Dass er zum Wohl der Polizei mit seiner Einkaufsmacht den Markt durcheinandergewirbelt hat, während Teile der Bevölkerung hungern, nehmen manche Bosel ziemlich übel. Die linksradikale Zeitung Der Abend nennt ihn einen „sattsam bekannten Schleichhändler“ und „Preistreiber“. Verärgert schreibt der junge Geschäftsmann im Februar 1919 Schober einen Brief, in dem er verlangt, dass er durch eine öffentliche Stellungnahme der Polizeidirektion rehabilitiert wird.46
Im März 1919 wird es Bosel schließlich zu bunt. Er bietet dem Verwaltungsratsausschuss seinen Rücktritt an. Die versammelten Behörden-Vertreter wollen den kommerziellen Leiter jedoch nicht gehen lassen. Bosel wird wegen seiner „uneigennützigen und geradezu aufopferungswilligen Tätigkeit“ gelobt und gegen Angriffe von außen verteidigt.47 Doch die Kritik will nicht verstummen. Linke Gruppierungen aus dem Beamtenapparat haben sich auf Bosel eingeschossen. Kapitalismuskritik vermischt sich mit linkem Antisemitismus. Der in Wien geborene Geschäftsmann wird in einer als „Denkschrift“ titulierten Beschwerde als „verbrecherischer Kapitalist und Ausbeuter“ diffamiert, der als Kriegsflüchtling (!) nach Wien gekommen sei und den die Behörden schon längst des Landes verweisen hätten sollen. Bosel wird zwar zugestanden, dass er „aufgeweckt, intelligent und anerkennenswert geschäftstüchtig“ sei. Er habe jedoch mit „ausländischen jüdischen Zwischenhändlern“ und anderem „Lumpengesindel“ die „Unerfahrenheit der gemütlichen Wiener“ betrügerisch ausgenützt.
Der „Beweis“ für Bosels krumme Machenschaften: Von den 58 Eiern, die der Beschwerdeführer – ein Familienvater – seit dem Bestehen des Polizei-Lebensmittellagers bekommen hätte, wären 12 Stück schlecht gewesen. „Es geht doch nicht an, dass wir noch im tiefen Frieden das Opfer einer wohl gut organisierten, großkapitalistischen, gewissenlosen Volksräuberbande“ werden, poltert der Urheber der Anschuldigungen, bevor er sich zur Bemerkung versteigt, dass für die erwähnte Räuberbande „die Todesstrafe zweifellos zu früh aufgehoben worden sei“. Zum Schluss gipfelt die Beschwerde in der „untertänigen Bitte“ an den hochwohlgeborenen Polizeichef Schober, Bosel als Leiter des Lebensmittel-Lagerbetriebes seines Amtes zu entheben, widrigenfalls man nach einer Frist von acht Tagen durch einen offenen Brief an die Arbeiter-Zeitung die lokalen „Arbeiterräte“ und die Staatsanwaltschaft einschalten werde.48
Gut informiert waren die Bosel-Gegner in der Exekutive wahrlich nicht. Denn als sie im Oktober 1919 gegen Bosel mobil machen, ist der angefeindete Direktor gar nicht mehr für den Lebensmittel-Diskontladen der Polizei tätig gewesen. Bosel hatte seine Tätigkeit dort schon im Frühjahr 1919 an den Nagel gehängt. Schober zufolge sei Bosel eines Tages vorbeigekommen, um ihm zu erklären, dass er wieder Geld verdienen müsse. Nur ehrenamtlich für die Polizei tätig zu sein, ohne Privatgeschäfte machen zu dürfen, sei finanziell nicht länger drinnen. „Schweren Herzens“ habe er Bosel „die Entlassung aus dem Ehrenamt geben müssen“, so Schober über die monatelange Zusammenarbeit.49
Der mächtige Polizeichef wird sich in späteren Jahren bei Sigmund Bosel erkenntlich zeigen und für ihn den politischen Schutzengel spielen. Bosel revanchiert sich, indem er die Polizei weiterhin gönnerhaft unterstützt. So kommt Schober über das Kriegsende hinaus zu einer loyalen Hausmacht, die eine wichtige Machtbasis für seine Politikerkarriere wird. Der Polizeipräsident und der spätere Bankpräsident werden in der Öffentlichkeit immer betonen, dass ihr Verhältnis rein „amtlich“ und bloß geschäftlicher Natur gewesen sei. Alle, die Schobers Terminkalender kannten, haben aber gewusst, dass die beiden Männer eine persönliche Seilschaft begründet hatten. Denn an fast jedem ersten Dienstag im Monat hat Bosel nach seinem Abgang bei der Wiener Polizei bei Schober auf einen Plausch vorbeigeschaut. Und das war auch dann noch so, als Schober schon Bundeskanzler war.
Anmerkungen
Die Börse, 6. 12. 1923.
Die Börse, 11. 11. 1926; Julie Marks in der TV-Doku „Der Massenmörder und der Trillionär“ (ORF, 2013).
Hoffmann, Der Fall Sigmund Bosel, 9 ff.
Berliner Tageblatt, 11. 11. 1926; Franz, Siegmund Bosel, 5 f.
WStLA, Handelsregister, „Bosel & Rosenbaum“, Sign. 2.3.3.B76. 29. 231; Hoffmann, 10; Franz, 4.
Österreichische Industriegeschichte GmbH (Hrsg.): Österreichische Handelsgeschichte, 169.
Hoffmann, 8 f.; Max Bosel, der Erstgeborene, ist bereits 1908 im Alter von 21 Jahren gestorben.
Neues Wiener Tagblatt, 19. 1. 1927.
Sandgruber, Traumzeit für Millionäre, 55 ff.
Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, 204 ff.