Название | Paul Guenther und seine Schule in Geithain |
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Автор произведения | Gottfried Senf |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960086444 |
Das alles war nun keinesfalls selbstverständlich, heute nicht und damals erst recht nicht! Der Unternehmer Paul Guenther in Amerika und seine Art, hartes Management mit sozialem Verantwortungsbewusstsein zu verbinden, ist vielleicht vergleichbar mit dem Wirken von Carl Zeiß und Ernst Abbe in Jena. Natürlich hat es weltweit seit Beginn unseres Jahrhunderts im Verhältnis von Kapital und Arbeit auf den Gebieten Mitbestimmung und Mitbeteiligung sowie bei der sozialen Absicherung der Arbeiter und Angestellten grundlegende Veränderungen gegeben.
Bild 17: Turnhalle für die Angestellten der Guentherschen Fabriken in Dover/N.J., historische Aufnahme
Andererseits bestehen auch heute noch z. B. zwischen Amerika und Deutschland gravierende Unterschiede. Das soziale Netz in Deutschland ist wesentlich enger geknüpft als dort.
Bild 18: Wohnhäuser für die Angestellten, German-District in Dover/N.J., Aufnahme 1996
Kranken- und Arbeitslosenversicherung unter Beteiligung des Arbeitnehmers sind seit Bismarcks Zeiten in Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Das gilt für Amerika heute noch nicht – s. Obamas Bemühungen um eine allgemeine Krankenversicherung in den USA – und für die Jahre nach 1900 war es dort völlig undenkbar. Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass die Gewerkschaften dort eine andere Entwicklung nahmen und dass es in den USA nie zu einer wirklich handlungsfähigen sozialdemokratischen Partei gekommen ist. Nach wie vor dominiert eine Haltung, jeder könne durch harte Arbeit reich werden und jeder sei seines Glückes Schmied. Die Denkart Paul Guenthers, der ja nun geradezu als Muster des Self-made-Man gelten konnte, ist mit großer Wahrscheinlichkeit ähnlich gewesen. Mit den „Unions“, wie die amerikanischen Gewerkschaften heißen, hatte Paul Guenther nur wenig im Sinn.
Bild 19: Ehemaliger Bürgermeister von Dover, Mr. Willard Hedden mit Gattin, 1991
Bei den Besuchen in Dover 1991 (Herr Sommer) und 1996 (Sommer/Senf) lebten verständlicherweise nur noch ganz wenige Menschen, die Paul Guenther persönlich gekannt hatten. Vom Häusermakler Sidney Schwarz war schon weiter oben die Rede. Der ehemalige Bürgermeister von Dover, Mr. Hedden, 92 Jahre alt, gehörte zu jenen Wenigen. Er überraschte mit der Übergabe des Originalrasierbechers Paul Guenthers (s. S. 176). Auch Mr. Anthony Nazzaro war trotz seines hohen Alters noch recht mobil. Er war als 23-Jähriger bei Guenther beschäftigt gewesen. Über die Begegnung 1991 schreibt Herr Sommer: „Dieser alte Herr hatte mit seinen mehr als 90 Jahren noch so viel Pfeffer, dass ich mir gut vorstellen kann, wie er dem alten Paul Guenther auf die Nerven gegangen ist. Für Guenther waren seine Arbeiter Kinder, für die er vorbildlich sorgte, von denen er aber auch unbedingten Gehorsam verlangte. Nazzaro war einer dieser Menschen, die von ‚Partnerschaft‘ träumten, von Verträgen zwischen freien und gleichberechtigten Menschen. Die Arbeiter der Guentherfabrik in einer ‚Union‘ zu organisieren, war für Nazzaro der erste Schritt zu einer Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit. Für Guenther hingegen war es eine persönliche Beleidigung, als sich seine Arbeiter den jungen Nazzaro zum Vertrauensmann kürten. Er soll in seinem Büro geweint haben.“ (19)
Bild 20: Brief von Anthony Nazzaro vom 28. April 1995
Es ist sehr interessant, wie Herr Nazzaro viele Jahrzehnte nach diesen Ereignissen über seinen damaligen Chef urteilt. Nazzaro hatte sich in den 1930er Jahren selbstständig gemacht und besaß selbst eine Textilfabrik. Achtung und hohe Anerkennung gegenüber seinem einstigen Interessengegner sprechen aus jeder Zeile seines Briefes (22) vom 28. April 1995.
1.8 Der Mensch Paul Guenther
Auch wenn wir heute über Paul Guenthers Leben und Schaffen um ein Vielfaches mehr wissen als noch vor wenigen Jahren, wird keine Beschreibung dieses Menschen je vollständig sein. Eine umfassende und treffende Charakteristik der Person wird erschwert, weil der Wirkungsort so weit entfernt und die Geschehnisse zeitlich so weit zurückliegen. Für die Enkelin Virginia Vanderbilt ist es zwar Familiengeschichte, aber eben zwei Generationen zurückliegend! Frau Vanderbilt war noch ein Kind, als ihr Großvater 1932 starb. Ihre Mutter, Frau Margarethe Guenther, nahm am 4. Juli 1923 an der Grundsteinlegung für die Paul-Guenther-Schule in Geithain teil. Sie starb am 16. April 1973.
Dass der smarte Unternehmer Paul Guenther in seinem Büro geweint habe, als die Arbeiter seines Betriebes den jungen Nazzaro zu ihrem Interessenvertreter wählten, schockiert auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen wird es jedoch verständlich. Guenther war Mitte der zwanziger Jahre schon über 60 Jahre alt. Spürte er vielleicht in diesem Augenblick, dass er etwas von seiner Macht an einen 23-jährigen Arbeiter abgeben musste? Die Jahrzehnte währende Selbstsicherheit, das Gefühl, durch eigene Anstrengungen viel geschafft und auch anderen Menschen damit geholfen zu haben, wich möglicherweise einer Stimmung in der Art „Undank ist der Welt Lohn“. Die betriebliche Mitbestimmung sowie Tarifverhandlungen zwischen gleichberechtigten Partnern erscheinen heute und hier (Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern eingedenk) schon fast selbstverständlich. Ganz anders damals!
Natürlich müssen wir den Menschen und Unternehmer Paul Guenther in seiner Zeit betrachten. Den Typ des Unternehmers, wie er heute etwa in Managerseminaren zur modernen Menschenführung dargestellt wird, gab es früher noch nicht. Autoritäres Auftreten – damals die Regel, heute eher verpönt, weil es bei den Mitarbeitern demotivierend wirkt. Nicht Partnerschaft, sondern vielmehr Patriarchat kennzeichnete das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Paul Guenther machte hier sicher keine Ausnahme. Die Forderungen an seine Arbeiter, immer und überall gewissenhaft und zuverlässig zu arbeiten, stellte er auch an sich selbst. Aber wer gute Arbeit leistete, sollte auch entsprechend verdienen. Und in den Guentherschen Fabriken wurde gut verdient. So zahlte beispielsweise um 1920 die Swiss Knitting Mill in Dover 13,50 Dollar, während in den Guentherschen Fabriken die Arbeiter 20 Dollar verdienten, jeweils pro 50-Stunden-Woche. (22) In regionalhistorischen Veröffentlichungen wird wiederholt betont, dass es bei Guenther nie Kurzarbeit und in all den Jahren nur einen Streik gegeben habe. Das ist umso bedeutsamer, da gerade in der Textilindustrie um die Jahrhundertwende in den USA extrem harte Arbeitskämpfe ausgetragen wurden. (10)
Paul Guenther war Mitglied zahlreicher Clubs und Gesellschaften:
- Direktoriumsmitglied von fünf bedeutenden Geldinstituten, darunter die National Union Bank in Dover
- Anerkanntes und geschätztes Mitglied der Presbyterian Church in Dover
- Präsident der Eagle Fire Insurance Co. in Newark
- Mitglied des Hamilton Club in Paterson
- Mitglied des Republican Club of New York
- Mitglied des Union League Club of New York
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