Paul Guenther und seine Schule in Geithain. Gottfried Senf

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Название Paul Guenther und seine Schule in Geithain
Автор произведения Gottfried Senf
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783960086444



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Produktion in der gleichen Branche vergleichen. Und abermals „von der Pike auf“! Kein Wunder, dass später, als er Chef über mehrere Fabriken war, über ihn erzählt wurde: „Es macht ihm gar nichts aus, beim Rundgang durch die Produktionshalle das Jackett auszuziehen, die Ärmel hochzukrempeln und selbst an der Maschine nach dem Defekt zu suchen oder eine Feineinstellung vorzunehmen.“ (10) Er wird sein Fach verstanden, fleißig und zuverlässig gearbeitet haben und bald zum Vorarbeiter bzw. später zum Produktionsleiter befördert worden sein.

      Nach sechs Jahren harter Arbeit und Sparen fühlte sich Paul Guenther wohl so weit gesichert, dass die Gründung einer eigenen Familie nicht weiter hinausgeschoben werden musste. Er heiratete 1896 Olga Mechel, eine gebürtige Berlinerin und mit Bruder Richard ebenfalls um 1890 in die USA eingewandert. Beziehungen der jungen Familie Guenther zu der Berliner Verwandtschaft haben mit Sicherheit bestanden. Als nicht zutreffend erwies sich die Annahme, die in Berlin existierende Güntherstraße stünde im Zusammenhang mit der Familie Paul Guenther. 1897 wurde die Tochter Margarethe geboren. Sie blieb das einzige Kind der Guenthers. Das später erbaute große Wohnhaus der Guenthers in Rockaway bei Dover nannte der Hausherr „Villa Margarethe“.

      Bild 11: Olga und Paul Guenther, 1898

       1.6 Aufstieg zum größten Strumpfproduzenten der USA-Ostküste

      Bild 12: Modeschlager „Onyx Pointex“

      Die weitere rasante Entwicklung des Guentherschen Unternehmens in den folgenden Jahren ist bemerkenswert. „Guenthers Full Fashioned Silk Hosiery“ wurde zu einem Begriff in der Branche! Und wieder spielte Thalheim im Erzgebirge eine Rolle. Zwei seiner Meister, die Brüder Max und Otto Hahn (s. S. 51), erfanden eine neue Methode des Fersenstrickens bei Seidenstrümpfen. Der „Onyx Pointex“, ein langer Zwickel von der Ferse zur Wade hinauf, wurde zu einem Modeschlager, weil er – nach Meinung von Werbefachleuten – das Damenbein schlanker erscheinen ließ! Die amerikanische Textiltechnik entwickelte sich ebenso rasch wie die deutsche bzw. die sächsische. Der Gegend um Chemnitz entsprach in Amerika der Staat New Jersey, in dem traditionell Textilindustrie zu Hause war. Der Handwirkstuhl wurde ab etwa 1860 weltweit mehr und mehr durch die Wirkmaschine, eine Erfindung Cottons, abgelöst. Die Produktivität nahm in der Wirk- und Strickindustrie enorm zu.

      Das neue Jahrhundert begann für Paul Guenther sehr verheißungsvoll. Seine Waren waren wegen ihrer Qualität beliebt und am Markt bekannt. Die Nachfrage stieg enorm. Investitionen waren angesagt. Und es wurde gebaut. An der Oakstreet und der Kingstreet in Dover wuchsen in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende Fabrikgebäude empor, der Umsatz und die Zahl der Beschäftigten stiegen rasant. Die Gebäude ähnelten in ihrem Äußeren sehr den Fabriken, wie wir sie aus der Gegend um Burgstädt, Hartmannsdorf und Limbach kennen.

      Die Ursachen seines großen Erfolges sind vielgestaltig. Da ist die Persönlichkeit selbst: zielstrebig, ausdauernd, sehr gut entwickelte Kombinations- und Koordinationsfähigkeiten, gründlich und fleißig. Das Verbinden der Erfahrungen aus Deutschland mit denen in Amerika wurde entscheidend. Natürlich war auch die Zeit reif für sein Produkt, die Seidenstrümpfe. Er verstand es, gut ausgebildete Facharbeiter aus der Chemnitzer Gegend zu gewinnen. Die beeindruckende Auswanderungs-„Dynamik“ im Dorf Thalheim wird auf Seite 50 gesondert dargestellt. Die Textilmaschinen aus dem Vogtland (VOMAG Plauen) und der Chemnitzer Region galten damals als Weltspitze und wurden von Guenther importiert. Ein Monteur aus Plauen wurde viel später sein Schwiegersohn. Das Firmenrezept – die besten Seidenstrümpfe aus den besten Rohstoffen mit den besten Maschinen und den besten Arbeitern herzustellen – ging mehr als auf! Qualität und modischer Geschmack bildeten stets eine Einheit.

      Die historischen Aufnahmen sowie die Fotos Herrn Sommers aus dem Jahre 1991 vermitteln recht gut, welche Bedeutung Guenther und seine Fabriken für die kleine Stadt Dover hatten.

      Bild 13: Kreuzung King-/Elmstreet in Dover/N.J., 1912

      Bild 14: Kreuzung King-/Elmstreet in Dover, 1996

      Bild 15: Guenther’s Hosiery Factory, Dover/N.J., um 1905

      Bild 16: Büroeingang in der Oak-Street, 1991

      Parallel zu dem Bau neuer Fabriken nach 1900 erfolgte der Erwerb von Konkurrenzfirmen in der Umgebung von Dover. Das Ursprungs- und Hauptwerk war die Onnyx Hosiery Incorporation. 1912 erwarb er die Wharton Textile Co. in Dover, 1914 kam die Passaic Co. (Seidenstrumpfproduktion) mit 300 Beschäftigten dazu und 1923 kaufte Guenther die Emery & Beeres Co. Inc. in New York. Die Gesamtzahl der Beschäftigten betrug zuletzt über 1.000. 1927 verkaufte er seine Fabriken an den Gotham Konzern in New York. Er beteiligte sich an der Pyramid Hosiery Co. seines ehemaligen Mitarbeiters und Freundes Henry Fischer. Nach 1945 war die Fabrik an der King Street im Besitz der weltbekannten Firma Mc Gregor Sportswear. Sie dient heute in erster Linie als Lagerhaus. Andere ehemalige Guenther-Fabrikgebäude wurden ebenfalls zu Lager- oder Bürogebäuden. Eine Reihe weiterer Häuser wurden im Laufe der Jahrzehnte abgerissen. Die Textilindustrie in Dover und Umgebung verschwand allmählich – ein ähnlicher Prozess, wie er sich später in der Chemnitzer Gegend vollzog. Gutes Management, solide fachlich-technische und betriebswirtschaftliche Arbeit erlaubten Guenther die Herstellung von Waren zu Preisen, die kein anderer unterbieten konnte. (10, 22) So zählte er nach Beginn des 20. Jahrhunderts bald zu den einflussreichsten Wirtschaftsmanagern im amerikanischen Osten. Für die Stadt Dover stellten die Guentherschen Fabriken einen Wirtschaftsfaktor ersten Ranges dar. Aber auch und gerade sein soziales Engagement trug wesentlich dazu bei, dass er in der Stadt und auch weit über deren Region hinaus große Achtung und Verehrung genoss. (10)

       1.7 Guenthers soziale Leistungen

      Die Ein- und Zweifamilienhäuser in „Germantown“ von Dover, welche von 1900 bis etwa 1920 auf Veranlassung des Fabrikbesitzers Guenther für Arbeiter und Angestellte seiner Betriebe errichtet wurden, stehen fast alle noch und prägen das Stadtbild mit. Sie waren nach modernen Gesichtspunkten,