Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

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Название Auf der anderen Seite der Schwelle
Автор произведения Raimund August
Жанр Короткие любовные романы
Серия
Издательство Короткие любовные романы
Год выпуска 0
isbn 9783957448019



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sie dir übel. So hatten die nicht gewettet.“

      „Aber nee … das kann ich mir so nicht vorstellen“, warf Siegfried, der eine ganze Weile nur zugehört hatte ein. „Ich meine, dass du in die FDJ eintreten musstest, wenn du um eine Bezirksmeisterschaft boxen wolltest … oder auch in die Partei bei ’ner DDR-Meisterschaft? Nee“, betonte er, „das glaube ich so nicht!“

      „Du musst natürlich nichts glauben“, entgegnete der Ex-Boxer, „überhaupt nichts. Es wird dir nur ganz intern nahegelegt. Nicht von der Partei, sondern nur vom Trainer und später von den Sportfunktionären.“

      „Also doch nicht gezwungen, das sagst du ja selbst.“

      Martin schüttelte den Kopf. „Gezwungen“, sagte er, „wie stellst du dir das vor?

      Im Sport, das ist wie in der Kunst, da gibt es keine festgelegten Normen, die einer erfüllen muss …“

      „Doch“, widersprach Siegfried, „im Sport gibt’s Sekunden, Punkte, Tore, Siege …“

      „Ja, die nur Sportler selber setzen können, nicht der Staat.“

      „Übel nehmen sie dir’s schon“, mischte Sebastian sich ein, „nämlich wenn du’s könntest und nicht willst, also das Ansehen der DDR im Volk und möglichst in der Welt zu mehren.“

      Martin, der Ex-Boxer lachte. „Na ja“, sagte er, „aber eine Bezirksmeisterschsaft ist keine DDR-Meisterschaft. Dort geht’s dann international zu und hat mit der Mehrung des DDR-Ansehens durchaus zu tun.“

      „Es ist aber auch immer schon so“, sagte Sebastian, „dass Diktaturen den Sport hochjubeln. Das begann spätestens bei den Römern, dann bei Hitler, bei Stalin und jetzt bei Ulbricht. Es ist wohl besser“, fügte er nachdenklich hinzu, „man kommt in der Kunst oder im Sport gar nicht erst so weit, dass man auffällt und politisch erpreßbar wird. Das hättest du bedenken sollen“, wandte er sich an Martin, den Ex-Boxer.

      Der nickte zustimmend. „Nachher weiß man immer alles besser.“

      Das Gespräch zum Thema verebbte allmählich. Die Zelleninsassen versanken wieder in Schweigen, starrten vor sich hin oder saßen mit geschlossenen Augen auf ihren Hockern gegen einen Bettpfosten oder die Heizungsrippen gelehnt.

      Schließlich erwies es sich als nicht möglich den ganzen Tag redend zu verbringen. Auch wurden nach Wochen die Themen knapp. Sebastian hatte anfangs noch erstaunt bemerkt, dass Menschen oft nur relativ wenig zu erzählen wussten, auch ältere, die seiner Meinung nach doch einiges erlebt haben mussten, an das sie sich aber nicht selten nur sehr bruchstückhaft erinnern konnten. So manches von dem man annehmen durfte, dass es ihr Leben geprägt haben musste, hatte, wie Sebastian es immer wieder erfuhr, in ihrem Bild von der Welt nur wenige Spuren hinterlassen, so als hätte das Erlebte sie nie wirklich erreicht.

      Anfangs hatte er sich noch geweigert diese Feststellung als Tatsache zu verbuchen, in der Annahme, er sei vielleicht mit Überheblichkeit geschlagen. Doch bald war ihm klar geworden, dass er solche Einsichten dem Aufeinanderhocken in diesen beengten Zellen über viele Wochen zu verdanken hatte, weil es dort kein Ausweichen oder Abwenden gab und jeder durchsichtig werden musste.

      Auf eine solch entblößende Konstellation stößt man im normalen Leben natürlich nicht so leicht.

      Sebastian ging langsam zum Fenster, blickte hinaus in den verschneiten Hof und über die Mauer hinweg in die zugeschneiten Kleingärten mit den Lauben, in denen auch im Winter Leute hausten. Da und dort kräuselte sich aus Ofenrohren und Kaminen weißlicher Rauch in den tiefgrauen Himmel, dessen Licht den Tag, die Zelle und die Gemüter der Gefangenen kaum erhellte.

      Und so zog dann auch bald Sebastian mit seinem Hocker und Herders „Über den Ursprung der Sprache“, ein Buch, das er vom Bücherkalfaktor hatte ergattern können, ins karge Licht, das durchs Klappfenster in die Zelle fiel. Dort erst konnte man, wenn überhaupt, in einem Buch lesen, da die Zelle sich an solchen Tagen als schwarzes Loch erwies.

      Inzwischen gab es einen Bücherkalfaktor, der wegen Wirtschaftsvergehens, worunter alles mögliche verstanden werden konnte, zu 8 Jahren verurteilt worden war. Buchhändler im Zivilberuf, lang und dürr, Mitte, Ende Vierzig, von dem Sebastian erfahren hatte, dass die Gefangenenbibliothek über so gut wie alle deutschen und russischen Klassiker verfügte, auch einige französische und englische … Eine Gelegenheit, meinte Sebastian, sich ausführlich mit dieser Literatur zu beschäftigen und damit hatte er dann dort auf seinem Hocker unterm Klappfenster mit Herder begonnen, mit Herders Vorstellung von der „Entstehung der menschlichen Sprache“, die ja nicht einfach so da war.

      Und Sebastian überlegte dabei von Herder angeregt, wie die unendlich vielfältige ungezähmte Natur die Vorstellungswelt des ganz frühen Menschen geprägt haben mochte. Wie diese Vorstellungswelt dann eine zunehmend vergleichende wurde und wie es schließlich zur Benennung von Gegenständlichem kam, unabhängig von dessem unmittelbaren Vorhandensein. Ein Faustkeil, ganz gleich wie groß oder klein, wie kantig oder glatt der war, blieb immer ein Faustkeil, sagte er sich, ganz gleich auch wo und wann, also immer vergleichbar mit der abstrahierten Vorstellung eines Faustkeils.

      Der erste Schritt zur Benennung, zur Sprache. Für die unübersehbare Vielfalt der Natur fand man einfache Ordnungsrahmen. Irgendwann, machte Sebastian sich klar, erkannte der Mensch überall in der Natur den rechten Winkel und das war ganz sicher wesentlich, denn er erkannte ihn in noch so starker Verzerrung, fand das Quadrat, den Kubus … begann die verzerrt verschlüsselte Natur selbst übersichtlich zu formen, zu benennen und wirkte so auf sie zurück. Und so entstand allmählich auch schlecht und recht die von den Menschen für die Menschen gemachte Welt.

      Sebastian saß, das Buch auf den Knien, die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben … Weit war er schon weg, nicht nur von Herders Überlegungen, sondern auch weit weg aus dieser düsteren Zelle. Das waren längst keine tagespolitischen Vorstellungen mehr denen er nachhing. Es ging ihm um die Klärung eines Standpunkts den er brauchte, um seine eigene Lage zu begreifen.

      Die Welt, so sagte er sich, bewegte sich aus Gegensätzen … Das so genannte Gute musste nicht immer gut sein und das Böse nicht stets böse … Das eine gab es ohne das andere nicht. Es war ihm in seiner Lage aber nicht möglich sich das zusammen zu suchen und nachzulesen, was er benötigen würde, um seinen Standpunkt wie er ihm im ersten Moment erschien, zu begründen. Dafür würde die Bibliothek hier wohl nicht reichen und zum Schreiben hatte er auch nichts, wo schon jeder Bleistiftstummel Arrest bedeutete.

      So musste er selbst fast wie ein Frühmensch, so sah er sich, mit dem Begreifen der Welt von vorn beginnen: Absolute Gegensätze, meinte er, seien gleichen Ursprungs und gleicher Wirkung. Er nahm das als Ausgangsbasis, als Standpunkt, als eine These die ihm einen weiteren Ausblick ermöglichen sollte.

       Kapitel 17

      Der Winter 1954/55 erwies sich nach dem nassen Sommer, als kalt und schneereich. Früh, wenn es noch dunkel war und der Hof nur vom Scheinwerferlicht erhellt wurde, eine Zeit vor dem Wecken in der ganzen Anstalt, wenn noch das Licht von draußen die Schatten der Gitter an die Zellenwand warf, konnte man das gedämpfte Schurren und Kratzen der Schneeschaufeln hören, wenn die Hofarbeiter die Wege und vor allem das Freistundenrondell vom Schnee befreiten. Wenn also dieses Kratzen der Schneeschaufeln Sebastian und die Gefangenen in den Zellen in einen neuen Tag holten, dann dachte Sebastian so manches Mal an die vielen endlosen Tage, die dem Hier und Jetzt, dem Heute noch folgen würden, bis das grelle Kreischen der Stahlschiene ihn wie auch alle anderen Insassen des Zellenbaus endgültig ins Jetzt und Heute riss.

      Schon krachten wieder die Schlösser, Türen wurden aufgerissen: Randvolle Kübel raus, Wasserkanne rein. Türen krachten, Riegel schmetterten … Dann schnell der Reihe nach hintereinander Katzenwäsche in der Schüssel auf dem Hocker neben dem Kübel: Gesicht, Hände, Achselhöhlen befeuchten … Mit Wasser sparen! Was die Wasserkanne für alle hergab, das war nicht eben viel.

      Und schon ging das Getöse wieder los, wenn Riegel, Schlösser, Türen zur Zählung aufgerissen wurden. Leere