Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

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Название Auf der anderen Seite der Schwelle
Автор произведения Raimund August
Жанр Короткие любовные романы
Серия
Издательство Короткие любовные романы
Год выпуска 0
isbn 9783957448019



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Arme ausgebreitet einige Male nach hinten schlagen, dann nach oben, um sie danach auszuschütteln.

      Dann wieder: „Rechts um! Im Gleichschritt marsch! Links, links, links zwo drei vier …“ Alles lief weiter und jeweils exakt um die eingelassenen weißen Ziegel an den vier Ecken des Kreises, Sebastian kam das blöde vor, diese Verrenkungen, die sich dabei ergaben. Er ließ sie aus.

      „Alles Halt!“, rief daraufhin einer der Posten und ging auf Sebastian zu. „Sind Sie blind?“

      „Nein“, sagte der.

      „Nehmen Sie die Mütze ab, wenn ich mit Ihnen rede. Wie heißen Sie?“

      „Sebaldt.“

      „Wie?“

      „Sebastian Sebaldt.“

      „Strafgefangener heißt das. Sie sind verurteilter Strafgefanger, also?“

      „Strafgefangener Sebaldt“, sagte Sebastian.

      „Wie lange sind Sie hier?“

      „Dreiundzwanzig Tage.“

      „Und wie hoch verurteilt?“

      „Zehn Jahre.“

      „Da haben Sie ja noch ’n bisschen Zeit … Was sehen Sie denn da?“ Und er wies auf die in den Boden eingelassenen weißen Ziegel.

      „Weiße Ziegel.“

      „Und was bedeuten die?“

      „Ist ein rechter Winkel.“

      „Na so was. Und warum beachten Sie den nicht?“

      „Ich war nicht im richtigen Tritt.“

      „Nicht im Tritt, so, so … also zurück hop, hop. Und nehmen Sie die Ecke jetzt vorschriftsmäßig.“

      Sebastian ging nach sekundenlanger Überlegung einige Schritte zurück. In den Kellerarrest bei Wasser und Brot wie er gehört hatte, wollte er so einer Lappalie wegen denn doch lieber nicht.

      Der Uniformierte stellte sich provozierend breitbeinig in seinen Stiefeln genau an der Ecke auf und kommandierte: „Links, links, links zwo drei vier …“

      Und Sebastian marschierte, wenn auch von widerwilligen Gefühlen bewegt, wie ein tapferer Zinnsoldat und setzte die Füße in den klobigen Holzschuhen exakt in den von weißen Ziegeln vorgegebenen rechten Winkel.

      „Halt“, rief der Posten. „Ab jetzt immer so!“ Und er winkte dem Vorturner.

      „Links, links, links zwo drei vier … kam dann wieder dessen Stimme und die Gefangenen setzten sich, unter Beachtung der rechten Winkel an den vier Ecken des Rundlaufs, wieder in Bewegung bis zum Kommando: „Einrücken!“, das diesem Rundmarsch, der sich Freistunde nannte, ein Ende setzte. Im Gänsemarsch, eine Reihe von Vogelscheuchen, zogen die Gefangenen über einige Granitstufen wieder in den Zellenbau ein. Dort dröhnte dann das Stampfen und Krachen der schweren Holzschuhe auf den steinernen Stufen der Treppe über die einzelnen Stationen nach ganz oben und dort über die Holzplanken der Galerie vor die Zellentüren. Da nahmen dann die Gefangenen die von den Kalfaktoren geleerten Waschwassereimer und Kübel, sowie die gefüllten Frischwasserkannen über den Tag mit in die Zellen. So wurden tagtäglich nacheinander die Insassen jeder Station zum Rundgang geführt.

      Die Lebenslänglichen mit roten statt gelben Streifen an Ärmeln, Hosenbeinen, am Rücken und an den runden Mützen, drehten immer separat ihre Runden.

      Auch einige wenige Gefangene, die „aufhetzerischer Äußerungen“, wegen in Einzelhaft saßen, liefen dann, wie Sebastian erfahren hatte, in Riesenabständen sehr einzeln ihre Runden ums Karree.

      „Was versteht man denn unter aufhetzerischen Äußerungen?“, wollte Sebastian wissen.

      „Na was schon!“, war ihm geantwortet worden. „Du kommst doch nicht vom Mond … die sind angeschissen worden. Spitzel in den Zellen, das weiß doch hier jeder. Das gab’s nicht nur in der Spreestraße. Auch hier muss einer immer überlegen was er sagt und wem er was sagt. Sonst kann jeder wegen Staatsverleumdung oder Boykotthetze noch was obendrauf gepackt bekommen, sozusagen als Nachschlag.“

      „Aber ich bin doch als Staats- und Volksfeind schon verurteilt worden. Dann kann ich doch auch meine Meinung sagen.“

      „Das denkst du dir so, aber die Partei denkt da ganz anders. Du bist ein Volksfeind, sagen die und sollst hier gebessert werden. Und mit feindlichen Äußerungen betätigst du dich immer weiter als Volksverhetzer und kannst dafür auch immer wieder verurteilt werden. So ist das hier. Es gibt einige die schon so ’nen Nachschlag weg haben.“

      „Aha, deshalb Einzelhaft.“, sagte Sebastian. So kann man keinen mehr politisch beeinflussen.“

      Und so stürzte vieles auf die beiden Freunde als Neuankömmlinge ein.

      Dann verstummte mal wieder für einige Zeit jedes Gespräch in der Zelle. Alle saßen verstreut auf ihren Schemeln, dösten halbschlafend vor sich hin, erinnerten sich an Vergangenes oder dachten auch über die gegenwärtige Situation nach, wie etwa Sebastian, der sich in die Stille hinein an den Graumelierten wandte: „Du sagst, die nehmen jede Gelegenheit wahr, so ein gerade noch geduldetes Ungeziefer los zu werden. Nicht eine Straftat an sich bestimmt Hankels Urteil, sondern die bürgerliche Existenz als Kleinunternehmer selbst ist es …“

      „Denk an die willkürlichen Ausnahmen von der Regel“, wandte der Graumelierte ein.

      Sebastian wiegte den Kopf. „Ja gut“, stimmte er zu, „das erscheint mir durchaus richtig, aber was bedeutet dann die Verurteilung der jungen Leute in diesem Fall und zu so hohen Zuchthausstrafen von sechs bis zehn Jahren? Ich kann mir das nicht erklären. Schließlich waren das Arbeiterkinder und keine Kleinbürger oder deren Nachwuchs.“

      Der Befragte schüttelte nun seinerseits den Kopf. „Diese Frage“, sagte er, „ist zu kompliziert oder aber auch zu einfach“, dazu breitete er beide Hände aus und hob die Schultern, „ich kann sie dir nicht beantworten.“

      „Hm …“, brummte Sebastian. „Schade“, sagte er und wieder dominierte Schweigen das Vergehen der Zeit.

      Der Graumelierte nannte das den Sparmodus. Schließlich könne man nicht jahrelang nur reden und am Tage auf den Betten zu schlafen sei ja verboten. Wo käme man auch hin, wollten die Gefangenen ihre Strafen verschlafen.“

       Kapitel 4

      Nach einem meist sonnigen und vorwiegend trockenen Frühjahr, war der Sommer 1954 regelrecht ins Wasser gefallen. Von Nordwesten her zog eine Regenfront nach der anderen über das Land und weichte den Boden immer tiefer auf. Sebastian blickte durchs Gitterfenster seiner Zelle über die Zuchthausmauer hinweg in den Dauerregen und die andere Welt dort weit draußen im Nebeldunst. Ihm war hier drinnen erst richtig klar geworden wie bedroht die Existenz der Menschen dort draußen wirklich war. In den Zellen ging ja auch der Spruch von den drei Sorten an Bürgern der DDR um, nämlich denen die bereits eingesperrt waren, denen die eingesperrt sind und denen die noch eingesperrt werden.

      Das, was er in den Revisionszellen ganz automatisch über den unerschöpflichen Nachschub an Zwangsarbeitskräften miterlebt hatte und was er vor allem über die Verurteilungsgründe in diversen Urteilen, die den Häftlingen vor einer Revisionsverhandlung kurzzeitig in die Zellen gegeben wurden, zu lesen bekommen hatte, ließ ihm den Spruch von den drei Sorten an DDR-Bürgern erst im wahren Licht erscheinen: Eine Welt verinnerlichter Angst … Natürlich hatten sie davon auch draußen gewusst und mit dieser Angst schon mal mutwillig ihren Spaß getrieben. Eine Welt der Willkür und Angst, die prinzipiell alle Eigenständigkeit, alle Zweifel, jede eigene Meinung verstummen ließ, um so einen ‚Neuen Menschen‘ hervor zu bringen, beschädigte, ja verkrüppelte diese lediglich. Natürlich gibt es die bewusst Angepassten. Karrieristen ohne das Bewusstsein eines Selbst, sagte Sebastian sich, die gibt es überall. Solche Menschen sind vielleicht schlau, aber alles andere als klug.

      Er stand noch