Altstadt-Blues 2.0. Waltraut Karls

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Название Altstadt-Blues 2.0
Автор произведения Waltraut Karls
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783961455577



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geglaubte Flamme von Lust auf Berührungen, auf körperliche Nähe und Beziehung, hat wieder leise zu glimmen begonnen. Zunehmend gelingt es ihr auch, verschüttete Emotionen zuzulassen und dieser unverhoffte Umstand… erfreut sie sehr. Gleich nach dem Frühstück wird sie die Arbeitsutensilien zum Ordnungsamt bringen, und sich anschließend zu der Jugendstilvilla in die Nerotalstraße begeben. Endlich konnte sie sich dazu durchringen, wenn auch mit sehr bangem Bauchgefühl. Seit dem Tod ihres Vaters vor einem halben Jahr hat sie es nicht übers Herz gebracht, das vertraute Interieur ihres Familienerbes alleine zu betreten. Wen hätte sie auch bitten sollen, sie zu begleiten, sie zu unterstützen, sie zu stützen? Ihren Ex? Diesen Dreckskerl … Die Villa in Gonsenheim ist ihr Elternhaus. Alles, was ihr von ihrer Familie geblieben ist. Auch wenn der Zahn der Zeit die Bausubstanz nicht verschont hat. Vom Keller bis zum Dach wartet ihre übervolle Geburtsstätte mit Erinnerungen auf, mit guten und weniger guten. Dort wurde immer alles aufbewahrt und gehortet. Zeugen ihrer behüteten Kindheit und der unbeschwerten Jugend, aber auch bewegende Nachklänge dieser bleischweren Zeit, als ihr Vater und sie, die viel zu früh dahin siechende, vorher so stolze Mutter zu Hause gepflegt hatten. Der schmerzliche Verlust der geliebten Mutter und Ehefrau hatte sie beide verändert. Hatte die Leichtigkeit aus ihrem Leben verbannt. Die destruktive Trauer ihres so veränderten, freudlosen Vaters konnte sie irgendwann nicht mehr ertragen. Sie flüchtete aus dem großen Haus in die Innenstadt, allein in eine Wohnung am Rheinufer. Erst als Hajo in ihr Leben trat, schöpfte sie wieder neue Hoffnung. Die ständigen, insistierenden Argumente ihres Vaters gegen Gerdas schnelle Hochzeit mit Hans-Joachim, seine Vorahnungen über eine vermeintliche Schürzen- oder Mitgiftjägertendenz beim zukünftigen Schwiegersohn, die sie nicht hören wollte.

      Doch nicht ihr Liebster …

      Die zähen Kämpfe, in die sich Vater und die einzige Tochter immer wieder verstrickten und schließlich der Bruch. Wie recht er doch hatte mit seiner Menschenkenntnis. Wenigstens auf dem Sterbebett konnte sie sich wieder mit ihm versöhnen, bevor er friedlich entschlafen war. Zum Glück hatte sie bei der Hochzeit darauf bestanden, ihren Mädchennamen beizubehalten, denn Frau Trippers, ähnlich wie eine Geschlechtskrankheit, wollte sie wahrhaftig nicht heißen. Sie bleibt einen Moment stehen und schaut hinauf in den getrübten Nachthimmel. Ob ihre Eltern jetzt wieder in Liebe vereint waren und sie von oben sehen konnten?

      *

      Aus der Altstadt dringen undeutliche Klangmischungen zu ihr hinauf, als sie sich langsam vorwärts bewegt. Die Musik in dieser Kneipe! Diese einst so vertraute Musik, die die dunklen Schatten der Vergangenheit wieder herauf beschwört hat. Die Musik, die sie nie mehr hören wollte… Der vermaledeite Song, zweimal in einer Stunde, nahezu seelische Folter.

      Auf dem Absatz umdrehen und flüchten wäre das Beste gewesen für ihren schwer erkämpften Seelenfrieden. So weit fort, wie ihre Füße sie getragen hätten. Gerdas Wangen glühen jetzt, ihr Kopf schmerzt und innerlich fühlt sie sich heillos aufgewühlt. ›Klaus Hoffmanns, Tanze Gerda, tanze… tanz die ganze Nacht!‹

      Das Lied ihrer großen Liebe, die sie verloren hat. Tief drinnen empfindet Gerda wieder den brennenden Schmerz von damals. Fast zerbrochen wäre sie daran. Morgen jährt sich der Tag, an dem das schreckliche Unglück über sie hereinbrach, und ihren gesamten Lebensentwurf in einen Scherbenhaufen verwandelte. Durch seine Schuld, seine alleinige Schuld. Dieser Song dort… er riss die längst verheilt geglaubte, tiefe Wunde ihres vernarbten Herzens wieder auf. Wie oft hatte der Lügner sie damit eingelullt! In die trügerische Illusion über Sicherheit und Bestand ihrer Ehe.

      »Brauchst dich nicht zu fürchten…« Mit genau diesem Lied … mit ihrem gemeinsamen Lied! Passé. Vorbei! Aber nicht vergessen. Bis zu ihrem letzten Atemzug wird diese Tantalusqual in ihrem Gedächtnis verbleiben, eingebrannt für immer.

      Der gemeine Betrüger. »ICH geb’ schon auf dich acht…«

      Das ganze Leid nur wegen dieser billigen Schlampe!

      *

      Dreiundzwanzig Uhr zehn zeigt ihre Armbanduhr. Scheinbar alle zum Feiern unten in der Stadt und keine Menschenseele hier oben. Gerda war nie eine ängstliche Seele, aber etwas mulmig… ist ihr jetzt doch zumute. Sie passiert zügigen Schrittes die verwaiste Eisgrubschule und die anschließenden, schnörkellosen Häuserfassaden. Wolkenverhangene Dunkelheit über dem Volkspark, gedämpfte Musikfetzen vom Hopfengarten und plötzlich… Ein gellender Kinderschrei? Der Spielplatz…? Nichts zu sehn.

      »Brauchst dich nicht zu fürchten…!«

      Schneller Gerdi, schneller… SIE hat doch keine Angst. Außer Atem erklimmt sie die Anhöhe gegenüber der Goldenluftgasse. Krächzt heiser: »Hallo?« Wo zum Teufel ist ihre feste, amtliche Stimme? Zum Glück – sie kommt und sie funktioniert.

      »HEY, SIE! Was treiben Sie denn da?« Eine Puppe fällt ins Gras, ein leises Wimmern, ein kurzes Rascheln. Dann erspäht sie den flatternden Schatten, den schnell der lichtlose Abhang verschluckt. Die breite, am Boden hockende Männergestalt, die ihr die freie Sicht versperrt, schaut ruckartig über die Schulter und springt auf. Der nachfolgende, funkelnde Blick aus der Dunkelheit trifft Gerda wie eine Pfeilspitze, begleitet von einem Zischen.

      »Hau bloß ab, DU blöde Schlampe!« Sie denkt nicht daran, verlangt eine Klärung: »Jetzt aber mal langsam! Was war denn hier los? Was wollten Sie…?«

      Bloß keine Schwäche zeigen! Mit zwei langen Sätzen ist er vor ihr, wie ein Baum in die Höhe wachsend. Ein langes Messer blinkt auf im schwachen Schein der einzigen Straßenlaterne.

      »Was soll das…?« Grob packt sein eiserner Griff ihre unbehängte Schulter, verharrt kurz, wie sich besinnend, und sie erkennt ein junges Gesicht. In der leicht erhellten Schwärze kreuzt sich Gerdas angstvoller Blick flüchtig mit dem mitleidlosen Ausdruck der kalten Augen, die sie anstarren.

      Aufsteigende, dumpfe Angst lähmt ihre Glieder, ihre Hände schwitzen, nur ihr Verstand arbeitet fieberhaft. Sie muss etwas tun, aber was?

      Ein Funkgerät anschalten und Verstärkung rufen…

      Sie versucht danach zu greifen, als der sie überragende Mann Gerda so unvermittelt und rüde zu sich reißt, dass sie taumelnd das Gleichgewicht verliert und ein Teil des Equipments zu Boden rutscht. Er fängt sie auf und umklammert sie mit eisernem Griff so fest, dass sie kaum noch Luft bekommt.

      »Lassen sie mich sofort los, nein…! Hören sie auf! H i l f e!« Die große Hand presst sich brutal auf ihren fordernden Mund, will ihn verschließen, sie mundtot machen. Mit stoßweisem Atem versucht sie, den körperlich überlegenen Angreifer abzuwehren. Kämpft verzweifelt an gegen die muskulöse Gewalt des jungen Täters. Alle Geräte und ihre letzte Chance auf Hilfe schleudern in den Abhang.

      Sie schreit und fleht mit allerletzter Kraft … um ihr Leben!

      »Bitte… Hilfe! Ich will nicht sterben! HILFE!!!« Vergeblich!

      Der gnadenlose Stich seines Messers bohrt sich tief durch ihre Eingeweide. Einmal, zweimal und wieder… bis Gerda rückwärts zu Boden sinkt. Rasselnder Atem aus blutendem Rachen… kraftloses Röcheln… ein mattes Stöhnen… ein letztes, fast lautloses Flüstern.

      »Nein! Diese Schmerzen, ich verblute… Wo bist du? Gott?! Das tut so weh… Nein! OOH! GOTT?! Oh Nein!« Stille… Totenstille.

      Samstagmorgen, 25. Juni

      »Oh nein – wer ruft denn um diese Zeit an?«

      Der Wecker zeigte sechs Uhr fünfzehn am Samstagmorgen, Johannisfest-Wochenende in Mainz. Ihr Kopf brummte. Je nach Sichtweise war es sehr spät gestern Abend oder früh heute Morgen. Und der allerletzte Winzersekt sicher verdorben! Das schwarze, schwere Pelzbündel auf ihrem Fuß namens »Troll«, hob langsam den Kopf und gähnte sie an. Ja – SIE war auch noch sehr müde. Das Telefon klingelte dreimal, ehe der museumsreife Anrufbeantworter mit lautem Geratter ansprang und die sonore Stimme eines guten Freundes, wie immer verlässlich, das Sprüchlein herunterleierte: » …ist nicht zu erreichen, sprechen Sie nach dem Piep!«

      Familie und Freunde wussten, dass ihr das Wochenende heilig war. Also, keine Anrufe vor neun, besser noch zehn Uhr, wenn sie nicht absolut dringend waren. Viele legten dann